Gedenken an die Opfer des Brandanschlags von Solingen vor 15 Jahren



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Veranstaltung ?Respektvolles Miteinander ? Ein Gedenken  an die Opfer des Brandschlags vom 29. Mai 1993  und Verleihung des Genç-Preises? in Solingen

(es gilt das gesprochene Wort)

Der Theologe Karl Rahner hat einmal gesagt: ?Die unbequemste Art der Fortbewegung ist das Insichgehen.? Der Sinn dieses Satzes scheint mir zu sein, dass das Insichgehen ? also die Vergewisserung der geistigen und moralischen Grundlagen des eigenen Handelns ? eine besondere Kraft erfordert. Wir lassen dabei den üblichen Trott hinter uns, um uns den Voraussetzungen zuzuwenden, die unser Leben leiten, im Alltag aber oft verborgen bleiben. Gedenktage sind in diesem Sinn Tage des Insichgehens. An Tagen wie heute wenden wir uns als Gemeinschaft den Grundlagen unseres Zusammenlebens zu.

Wir gedenken heute Saime Genç, Hülya Genç, Gülüstan Öztürk, Hatice Genç und Gürsün İnce. Sie sind vor 15 Jahren Opfer eines fürchterlichen Brandanschlags geworden. Unser Mitgefühl gilt Ihnen, sehr geehrte Familie Genç, die Sie durch diese ebenso grausame wie sinnlose Tat Ihre Angehörigen verloren haben. Auch diejenigen von Ihnen, die das Glück hatten zu überleben, wurden durch den Brandanschlag zum Teil körperlich und auch seelisch schwer getroffen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Kraft aus dem heutigen Tag und aus der anhaltenden Anteilnahme der Bevölkerung an Ihrem Schicksal gewinnen.

Die Kraft und Stärke, die Sie bewiesen haben, verdienen unseren Respekt und Bewunderung. Sie haben nicht resigniert. Sie haben sich nicht der Verbitterung hingegeben, die Sie gewiss auch gespürt hatten. Vielmehr haben sie sich bei vielen Gelegenheiten für eine Versöhnung zwischen der deutschen Bevölkerung und den türkischen und türkischstämmigen Mitbürgern eingesetzt und die Gemeinsamkeiten hervorgehoben. Für dieses beispielhafte Engagement möchte ich Ihnen im Namen der Bundesregierung danken.

Der heutige Tag ist ein Tag der Trauer. Durch Ihre Haltung gibt er uns aber auch Hoffnung: Wir treten entgegen, wenn Hass und Zwietracht gesät werden sollen.

Der Brandanschlag von Solingen war eine Zäsur. Für viele Menschen in Solingen und überall in der Bundesrepublik Deutschland gab er Anstoß, sich für das Miteinander von Deutschen und Türken einzusetzen. Er ist Teil unserer Erinnerungskultur geworden. Das traurige Ereignis hat vielen Bürgern vor Augen geführt, dass unser Zusammenleben ganz wesentlich auf Toleranz, Solidarität und Engagement für die gemeinsame Sache gründet, und das gilt für alle, unabhängig von Herkunft, Religion oder Staatszugehörigkeit.

Aber der Brandanschlag von Solingen hat auch tiefe Spuren der Verunsicherung in der türkischen und türkischstämmigen Bevölkerung hinterlassen. Auch das wirkt nach 15 Jahren noch fort. Beim Brand in Ludwigshafen im Februar dieses Jahres haben wir das wieder gespürt.

Mich hat die Nachricht von dem Brand in Ludwigshafen während eines Arbeitsbesuchs in der Türkei erreicht. In meinen Gesprächen mit der türkischen Regierung habe ich erfahren, wie dieses Unglück in der Türkei wahrgenommen wurde. Ich bin von meinen Gesprächspartnern mehrfach darauf angesprochen worden, ob es sich bei dem Brand in Ludwigshafen um ein zweites Solingen handeln würde.

Nach Erkenntnis der zuständigen Staatsanwaltschaft geht der Brand in Ludwigshafen mit ?äußerster Wahrscheinlichkeit? weder auf eine fremdenfeindliche Straftat noch auf eine andere Form vorsätzlicher Brandstiftung zurück. Wir müssen entschieden gegen fremdenfeindlich oder rassistisch motivierte Straftaten vorgehen und jeden Verdacht unbedingt ernst nehmen. Wir sollten uns aber vor Unterstellungen und vorschnellen Schlussfolgerungen hüten. Das gilt auch für die Medien. Sonst werden leicht zusätzliches Misstrauen und Ängste geschürt.

Umso wichtiger ist es, dass wir die entstandene Verunsicherung überwinden und neues Vertrauen aufbauen. Deshalb waren in Ludwigshafen die besonnenen Worte des heutigen Preisträgers Herrn Kamil Kaplan von so großer Bedeutung. Aus dem gleichen Grund habe ich mich dafür eingesetzt, dass türkische Experten bei den Ermittlungen in Ludwigshafen umfassend einbezogen worden sind.

Der Brandanschlag von Solingen ist stete Mahnung, dass wir nicht nachlassen dürfen, uns für unsere freiheitliche demokratische Gesellschaft und das Zusammenleben in Vielfalt und Toleranz einzusetzen. Das bedeutet auch, dass wir selbstbewusst und entschieden gegen die Feinde unserer Freiheitsordnung vorgehen müssen.

Zu diesen Feinden gehören Extremisten, die im Banne kruder Ideologien andere Menschen aus der Gesellschaft ausgrenzen und dafür auf Intoleranz, Hetzparolen, Drohung, nackte Gewalt setzen.

Ein alter Freund von mir hat bereits vor 20 Jahren etwas ganz Entscheidendes erkannt: In seiner kleinen Gemeinde im Unterelsass, wo er sehr lange Bürgermeister war, hatten bei einer Wahl 20 Prozent für Le Pen gestimmt. Das hat ihn erschüttert. Er hat die Leute daraufhin gefragt: ?Warum wählt Ihr Le Pen?? Die Antwort war: ?Wegen der Ausländer.? Der springende Punkt war aber: In diesem Ort wohnten gar keine Ausländer. Das Zusammenleben erfordert also vor allem anderen gegenseitiges Kennenlernen, um Vorurteile abzubauen.

Extremisten rütteln an den Grundpfeilern unserer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft. Wir dürfen es nicht zulassen, dass sich die Feinde unserer Ordnung in der Mitte unserer Gesellschaft einnisten. Bei der Verfolgung extremistischer Straftaten muss der Staat alle Möglichkeiten nutzen und seine ganze rechtsstaatliche Härte zeigen. Nur so kann er die Sicherheit der Bürger und die Stabilität unseres Gemeinwesens gewährleisten.

Sicherheit ist die Grundvoraussetzung für die Entfaltung des Einzelnen in unserer Gesellschaft. Unser Rechtsstaat schützt die Freiheitsrechte seiner Bürger. Aber im praktischen Leben ist Freiheit ohne Sicherheit nicht viel wert. Erst wer sich sicher fühlt, wer nicht Angst haben muss um sein Leben, seine Gesundheit, sein Eigentum, kann frei und selbst bestimmt handeln. Deswegen ist die Gewährleistung von Sicherheit Kernaufgabe des Staates, die mit dem staatlichen Gewaltmonopol einhergeht. Das staatliche Gewaltmonopol schützt alle Menschen, vor allem aber schützt es die Schwächeren. Hätten wir es nicht, würde sich auf unseren Straßen das Faustrecht des Stärkeren breit machen.

Heute funktionieren die Schutzmechanismen der sozialen Kontrolle in der Regel noch einigermaßen in den kleineren Orten, wo jeder jeden kennt. In größeren und großen Städten sieht das leider oft anders aus. Potentielle Gewalttäter können schnell zuschlagen und wieder in der Menge untertauchen. Kaum einer traut sich einzuschreiten. Deshalb bin ich dafür, dass wir das, was im öffentlichen Raum an Sicherheit durch nachlassende soziale Kontrolle verloren geht, mit Polizeipräsenz und den Mitteln der technischen Kontrolle so gut es geht ausgleichen. In Deutschland darf es keine Gegenden geben, die einzelne Menschen aus Sicherheitsgründen besser meiden sollten. Videokameras an öffentlichen Plätzen könnten uns dabei helfen. Deshalb ist ihr Einsatz gerade dort sinnvoll, wo Minderheiten und Schwächere bedroht sein könnten. Hier geht es am Ende um die Durchsetzung unseres Rechtsstaats. Mit Überwachungsstaat und Orwell hat das nicht das Geringste zu tun.

Bei subtileren Formen von Fremdenfeindlichkeit, Beleidigungen und Einschüchterungen, die unterhalb der Schwelle zur Straftat liegen, kommt der demokratische Rechtsstaat mitunter an seine Grenzen. Natürlich gibt es Präventionsprogramme, die wichtig sind, weil sie gerade jungen Menschen den Wert der Verschiedenheit, Gewaltfreiheit und die Vorteile unserer Freiheitsordnung nahe bringen. Am Ende ist hier aber die Gesellschaft insgesamt gefordert ? jeder Einzelne, die Familien vor allem als wichtigste Sozialisationsinstanz, Kindergärten, Schulen, Vereine, Verbände, Kirchen, Unternehmen ? wir alle! Das Funktionieren unserer Demokratie hängt davon ab, dass es Quellen des Engagements gibt, die nicht selbst vom Staat hervorgebracht und garantiert werden können.

Überall, wo die Menschen in ihrer Verschiedenheit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, werden die Radikalen, die einen Keil in unsere Gesellschaft treiben wollen, keinen Erfolg haben. Jede stabile, freiheitliche Ordnung braucht ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und gemeinsamen Vorstellungen davon, wie man zusammenlebt. Damit Vielfalt eine echte Bereicherung ist, benötigen wir eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens, auf der einerseits niemand seine eigene Identität aufgeben muss, wir andererseits aber offen genug sind, um uns aufeinander einzustellen.

Deshalb brauchen wir eine offene Gesellschaft, die Integration fördert ? die nicht mit Assimilation gleichzusetzen ist. Deswegen haben wir Herrn Erdogan höflich, aber bestimmt gesagt, dass Türken und türkischstämmige Bürger in unserem Land willkommen sind, dass es aber auch wichtig ist, dass sie mit uns zusammen leben und nicht neben uns her.

Es gibt heute in der Bundesrepublik viele Bespiele gelungener Integration. In Deutschland leben heute rund 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Die große Mehrheit von ihnen hat längst ihren Platz in unserer Gesellschaft gefunden.

Insgesamt gibt es vermutlich keinen zuverlässigeren Rahmen für Integration als eine freiheitliche Ordnung. Wo es auf Leistung und Wettbewerb ankommt, wo es Raum zur Entfaltung der individuellen Stärken und Neigungen gibt, hat Integration gute Erfolgsaussichten. Zielgruppe für staatliche Integrationsangebote sind nur diejenigen, die es ? sei es aufgrund der Sprache, der Bildung oder mangelnder sonstiger Unterstützung ? nicht aus eigener Kraft schaffen können, ihren Platz in unserer Gesellschaft zu finden.

Integration ist für Zuwanderer wie auch für die Aufnahmegesellschaft eine Chance, zu dem, was man schon hat, etwas Neues hinzuzugewinnen. Dass wir als Aufnahmegesellschaft das begreifen und schätzen lernen, gehört auch zur Integration. Wir müssen wollen, dass Zuwanderer hier heimisch werden, wir müssen ihnen Anerkennung entgegenbringen und sie als Teil unseres Landes sehen.

Zuwanderer bereichern unser Land. Die größte Gruppe von ihnen sind Muslime. Auch sie sind eingeladen, sich in unsere Ordnung einzubringen.

Ich habe die Deutsche Islam Konferenz ins Leben gerufen, um einen Dialog zwischen Vertretern des deutschen Staates und den Menschen islamischen Glaubens zu begründen. Unser Austausch soll ein gemeinsames Verständnis des Zusammenlebens schaffen und vertiefen. Wir sind uns zum Beispiel einig, was den Bau und Betrieb von Moscheen angeht. Wir sehen sie als Beitrag zur Integration, wenn sie auf transparente Weise und im Einvernehmen mit den Anliegern entstehen.

Der Dialog, den wir dort führen, ist auf längere Sicht angelegt. Er beinhaltet auch, dass wir manchmal um Kompromisse ringen müssen ? mit Leidenschaft für die Sache, im Ton aber immer respektvoll und konstruktiv. Was uns jenseits aller Einzelfragen leitet, und das hat das kürzlich verabschiedete Zwischen-Resümee deutlich gemacht, ist unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie ist die Grundlage für das friedliche Zusammenleben aller Menschen, egal welcher Herkunft oder welcher Glaubensauffassung sie sind. Sie ermöglicht eine Gesellschaft, die größtmögliche Freiheit und Chancen des Einzelnen mit dem Schutz des Einzelnen und dem Wohle aller verbindet.

Ich möchte zum Abschluss Johannes Rau zitieren, der als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfahlen unmittelbar nach dem Brandanschlag hier in Solingen vor Ort war und als Bundespräsident bei der Gedenkveranstaltung vor fünf Jahren gesprochen hat. Er hat uns eine wichtige Aufgabe mit auf den Weg gegeben. Wir gemeinsam sind gefragt

?die in vielen Städten und in vielen Orten aufgenommene Kette von der Fremdheit über die Angst zum Hass und zur Gewalt ? zu durchbrechen und eine andere Kette an diese Stelle zu setzen: Die Kette von der Fremdheit über die Neugier zur Vielfalt und zum Reichtum.?