Gastbeitrag mit Serap Güler in der FAZ vom 6. September 2023 – Unsere Gesellschaft geht uns alle an



Unsere Gesellschaft geht uns alle an

Eine robuste Demokratie bedingt Verteidigungsfähigkeit nach außen und staatliche Souveränität, also Gewaltmonopol, nach Innen. Dazu müssen wir uns in Fragen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der langen Linien Konrad Adenauers und Robert Schumans besinnen, die an diesem Punkt leider unvollendet geblieben sind. Ihr Ansatz, Europa über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft unumkehrbar zu integrieren, ist heute aber aktueller denn je. Hierzu braucht es neben dem historischen Nukleus Deutschland und Frankreich vor allem auch Polen. Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks, die ja bereits angestoßen wurde, und eine Ausweitung der französischen Nuklearkapazitäten zum Schutze Europas, maßgeblich mitfinanziert von Deutschland, sind essenzielle Pfeiler dieser stabilen Sicherheitsarchitektur. Nur so sind die freien Ordnungen zu robuster Abschreckung gegenüber alten und neuen Systemrivalen fähig – und zwar immer im Verbund mit der NATO, niemals ohne sie. Die „European Sky Shield Initiative“, von Deutschland ins Leben gerufen, allerdings ohne Beteiligung unserer so eminent wichtigen Partner, wäre ein erster konkreter Schritt gewesen, die Integration und Interoperabilität in Kerneuropa zu vertiefen.
Alles andere als trivial in einer postheroischen Gesellschaft, in der das Militärische kein verbindlicher Teil gesellschaftlichen Engagements mehr, sondern freiwillig, ist, ist in Deutschland zudem die Frage, wer uns verteidigen soll. Schon Stalin fragte einst: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ Dieser Aspekt weist in seiner gesellschaftlichen Dimension zugleich nach innen, denn die äußerlich wehrhafteste Demokratie nützt nichts, wenn sie von innen heraus erodiert – und zwar weit darüber hinaus, dass immer weniger Menschen, auch militärisch, dienen wollen. Und die Tendenzen hierfür sind da, lange bekannt, in manchen Ländern mehr oder weniger fortgeschritten und die Ursachen hierfür detailliert untersucht und beschrieben: Globalisierung, Entwurzelung, entfesselter Finanzkapitalismus, Säkularisierung, das Aufbrechen und Auseinanderdriften traditioneller Milieus, die neuen Kommunikationstechniken, und so weiter. Im Ergebnis gelingt es nicht mehr hinreichend, Räume zu schaffen, in denen widerstreitende Interessen aufeinandertreffen und miteinander ausgehalten und ausgehandelt werden müssen; Räume, die eine aktive Zivilgesellschaft fördern, die für eine Demokratie überlebenswichtig ist. Es stellt sich also die Frage – abhebend auf das berühmte Böckenförde-Diktum – ob der freiheitliche Staat um seiner Freiheit Willen zunehmend nicht doch auch selbst Voraussetzungen schaffen muss, die seine Freiheit fortwährend stabilisieren.
Hierbei ist die Idee eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres nicht neu – und springt dennoch zu kurz. Denn die beschriebenen Tendenzen ziehen sich durch alle gesellschaftlichen Sedimente, Alter und Einkommen. Insofern ist es nur folgerichtig, den Ansatz weiter zu fassen, beispielsweise wie folgt: Ein verpflichtendes, anständig vergütetes Gesellschaftsjahr für alle Schulabgänger. Die Schaffung einer Möglichkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich einmal in der Arbeitswoche während der vergüteten Arbeitszeit gesellschaftlich einzubringen. Der Wirtschaft, die ebenfalls ein vitales Interesse an einem starken Gemeinwesen haben muss, sei hierbei eine ähnliche Flexibilität ans Herz gelegt, wie sie es ja auch beim mobilen Arbeiten, bei der Workation und mit Incentives aller sonstigen Art ermöglicht. Für Bezieher von Bürgergeld und Asylleistungen ist ein solches Engagement im Rahmen des Leistungsbezugs obligatorisch. Und nicht zuletzt Rentnerinnen und Pensionäre sollten ebenfalls auf freiwilliger Basis einen Beitrag leisten können – warum auch hier nicht durch den Anreiz eines steuerfreien Hinzuverdienstes? Das alles kann und soll das Ehrenamt und die Mitgliedschaft in Vereinen, Verbänden, und so weiter, keinesfalls ersetzen. Als Staatsbürger kennt man nicht nur Rechte sondern auch Pflichten. Wo dieses Pflichtbewusstsein aber zunehmend ins Hintertreffen gerät, ist der Staat gefragt, Impulse zu geben, den Willen zur Solidarität und Verantwortung zu fördern und zu fordern. Diese zunehmende Notwendigkeit lässt sich auch empirisch belegen: Die Entwicklung ehrenamtlicher Aktivitäten im Vergleich von 2014 zu 2019 stagniert.
Angesichts der demografischen Entwicklung einerseits, der Herausforderungen durch die Zuwanderung, speziell der letzten Dekade andererseits, und der zum Teil interferierenden Krisen steht unsere freie Ordnung stark unter Druck. Und dabei spielt der integrative Aspekt eine zentrale Rolle. Nachweislich treffen vermehrt Menschen aus der Mittelschicht, oft ohne Migrationsgeschichte, im Ehrenamt aufeinander. Ein Gesellschaftsjahr, wie vorangegangen skizziert, ermöglicht die Begegnung zwischen Menschen aller Couleur. Es schärft emotionale Intelligenz sowie soziale Kompetenz, es entstehen Freundschaften – und nicht zuletzt Demut.
Und um das Wort in einem letzten Aspekt direkt noch einmal aufzugreifen: demütig ist, wer versteht, dass jede Handlung des Individuums eine unmittelbare Auswirkung auf die globale Gesellschaft hat. Die Coronapandemie und die Klimakrise, wie das Artensterben, stehen wie zum Beweis für die Tatsache, dass sich die Verantwortung, die wir als Staatsbürger tragen, nicht darin erschöpft – und auch hier sehen wir sinkende Beteiligungen – wählen zu gehen. Angebote, sich ehrenamtlich oder hauptamtlich in unser Gemeinwesen einzubringen gibt es vielfältige, vom Kommunalparlament, über den Klimaverband, die Kita, das Altersheim, bis hin zur Bundeswehr. Mündige Bürger sind keine Konsumenten und der Staat kein Supermarkt, der dauernd Angebote machen muss. In diesem Sinne plädieren wir für ein in weiten Teilen verpflichtendes Gesellschaftsjahr.