„Freiwillige Hilfen sind erlaubt“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Gespräch mit dem „Spiegel“

SPIEGEL: Herr Schäuble, wir führen dieses Gespräch in einer Berliner Klinik an Ihrem Krankenbett, das Sie seit zwei Monaten mit einer kurzen Unterbrechung hüten. Wie geht es Ihnen?

Schäuble: Besser. Meine Wunde, die ich nach einer Routineoperation davongetragen habe, ist fast verheilt. Allerdings kann ich nicht sitzen, was für einen Querschnittgelähmten ein Problem ist. Ich muss also liegen, damit die Narbe nicht erneut aufbricht.

SPIEGEL: Warum dauert die Heilung so lange?

Schäuble: Ich habe das Krankenhaus gegen den Rat meiner Ärzte zu früh verlassen. Ich wollte nach Brüssel, um an einer Sitzung zur Griechenland-Krise teilzunehmen. Jetzt folge ich lieber dem Rat der Ärzte und bleibe so lange in der Klinik wie nötig. Ich hoffe aber, dass ich schon an diesem Montag, wenn dieses Gespräch erscheint, wieder am Schreibtisch sitzen werde.

SPIEGEL: Lassen Sie uns über Griechenland und die Euro-Krise reden. 1992 hat ein prominenter Christdemokrat den Bundesbürgern versprochen: „Wenn sich ein Land durch eigenes Verhalten hohe Defizite zulegt, dann ist weder die Gemeinschaft noch ein Mitgliedstaat verpflichtet, diesem Land zu helfen.“ Wissen Sie, wer das gesagt hat?

Schäuble: Das könnten viele gesagt haben.

SPIEGEL: Es war der heutige Bundespräsident Horst Köhler, der damals als Staatssekretär im Finanzministerium die Europäische Währungsunion ausgehandelt hat. Gilt der Satz noch?

Schäuble: Ich bin ein überzeugter Anhänger der Währungsunion. Damals habe ich genauso gedacht wie der heutige Bundespräsident. Nur, die Welt hat sich verändert. Der Kapitalmarkt hat sich in einem Umfang globalisiert, wie wir uns das damals nicht vorstellen konnten. Und wir haben eine Finanzkrise erlebt, aus der wir in Europa eine eindeutige Lehre ziehen müssen: Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pleite eines Euro-Mitglieds wie Griechenland zu einem zweiten Fall Lehman wird.

SPIEGEL: Sie übertreiben. Es ist in den vergangenen Jahren immer mal wieder vorgekommen, dass ein Staat seine Schulden nicht bedienen konnte, ohne dass deshalb gleich das Weltfinanzsystem zusammengebrochen wäre. Warum sollte das im Fall Griechenlands anders sein?

Schäuble: Weil Griechenland Mitglied der Europäischen Währungsunion ist. Die Verbindlichkeiten Griechenlands lauten allesamt in Euro; es ist aber unklar, wer wie viel davon hält. Ein Bankrott des Landes hätte deshalb unkalkulierbare Folgen. Griechenland ist genauso systemrelevant wie eine Großbank.

SPIEGEL: Um die Staatspleite zu verhindern, nehmen Sie aber den Bruch der europäischen Verträge in Kauf. Die schließen nämlich Hilfszahlungen an andere Länder ausdrücklich aus.

Schäuble: Das ist so nicht richtig. In der Tat darf kein Mitgliedsland zu Zahlungen an andere verpflichtet werden. Wenn aber Länder freiwillig helfen wollen, wie im Fall Griechenland, ist das nicht nur erlaubt, es liegt auch im deutschen Interesse: Wir alle profitieren, wenn wir die Stabilität der Euro-Zone sichern.

SPIEGEL: So haben die Bundesbürger die Währungsunion aber nicht verstanden. Der Euro wird so stabil wie die Mark, wurde ihnen versichert. Jetzt fließen ihre Steuergelder in ein Land, in dem über ein Viertel der Bevölkerung im Öffentlichen Dienst beschäftigt ist und die Renten oft höher sind als die Löhne. Lässt sich so das Vertrauen in den Euro stärken?

Schäuble: Ich warne davor, billigen Populismus zu nähren. Erstens weiß jeder deutsche Griechenland-Urlauber, dass der Lebensstandard dort nicht höher ist als in Deutschland. Und zweitens zahlt Griechenland für die europäischen Hilfen einen hohen Preis.

SPIEGEL: Dennoch hat sich die Bundesregierung monatelang vehement gegen Staatshilfen an Griechenland gesperrt. Warum sind Sie eingeknickt?

Schäuble: Wir sind nicht eingeknickt. Wir haben immer gesagt: Bevor wir über Hilfen reden, muss Griechenland seine Hausaufgaben machen. Inzwischen hat die griechische Regierung ein glaubhaftes Sparprogramm verabschiedet, mit harten Einschnitten in die Besitzstände der Bürger, und sie musste es jüngst sogar noch verschärfen. Deshalb ist nun auch die Bundesregierung bereit, ihre europapolitische Verantwortung wahrzunehmen.

SPIEGEL: Wir haben die Kanzlerin damals anders verstanden.

Schäuble: Das muss an Ihnen liegen.

SPIEGEL: Wir waren aber nicht die Einzigen. Europaweit wurde Merkel als „Madame Non“ bezeichnet, weil sie sich in Brüssel grundsätzlich gegen deutsche Hilfen an Griechenland gesperrt hat.

Schäuble: Diese Bezeichnung geht völlig daneben. Die Kanzlerin hat immer gesagt: Als Ultima Ratio sind wir zu Hilfen bereit; und so haben wir es auch praktiziert.

SPIEGEL: Mit anderen Worten: Sie haben gepokert.

Schäuble: Pokern ist das falsche Wort, dazu ist die Sache zu ernst. Deutschland hat seine europäische Führungsrolle wahrgenommen. Wir helfen Griechenland für den Fall, dass seine Regierung trotz eines umfangreichen Sanierungsprogramms weiter zum Opfer der internationalen Währungsspekulation wird.

Spiegel: Bei den Deutschen kam es aber anders an. Die haben Merkel so verstanden wie die „Bild“-Zeitung: „Die Griechen griechen nichts.“

Schäuble: Diese Zuspitzung war nie zutreffend. Ein leistungsfähiges Europa, politisch wie wirtschaftlich, ist die beste Zukunftsvorsorge für die Deutschen. Die Währungsunion nutzt uns und unserer Exportindustrie mehr als allen anderen. Das muss man wieder und wieder sagen, auch wenn es in Meinungsumfragen nicht populär ist.

SPIEGEL: Die Kanzlerin hat aber den Eindruck erweckt, als würde sie vor allem auf die Meinungsumfragen achten.

Schäuble: Die Bundeskanzlerin muss ihre Entscheidung ja nicht nur in Brüssel vertreten, sie muss auch dafür sorgen, dass wir eine parlamentarische Mehrheit in Deutschland bekommen.

SPIEGEL: Sie behaupten also, dass am Ende die selbsternannte schwäbische Hausfrau und der badische Finanzminister Schäuble nur das auf den Tisch gelegt haben, was unbedingt sein musste – und das im letzten Moment.

Schäuble: Wir sind zu dem bereit, was unbedingt notwendig ist, und zwar zum richtigen Zeitpunkt.

SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass kaum jemand glaubt, dass die Sanierung Griechenlands gelingt. Schon jetzt führen die Sparmaßnahmen dazu, dass die dortige Wirtschaft massiv einbricht.

Schäuble: Wenn Sie über die Verhältnisse leben und dann sanieren müssen, bezahlen Sie dafür einen Preis. Das war in Irland nicht anders und in Estland auch nicht. Diese Konsequenzen sind aber gleichzeitig auch ein Anreiz dafür, eine solide Politik durchzusetzen.

SPIEGEL: Die Griechenland-Krise erregt vor allem deshalb die Gemüter, weil es weitere Euro-Länder gibt, die bis über die Halskrause verschuldet sind. Was passiert, wenn demnächst Portugal oder Italien ebenfalls nach Finanzhilfen rufen?

Schäuble: Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Deshalb wird kein Finanzminister eine derart spekulative Frage beantworten. Sonst würde er seinen Job schlecht machen.

SPIEGEL: Wäre es denkbar, dass Europa ein Land wie Spanien fallen lässt, nachdem es Griechenland gerettet und so einen Präzedenzfall geschaffen hat?

Schäuble: Wir müssen in Europa systemische Risiken verhindern. Den richtigen Rahmen dafür gibt es bereits. Es ist der europäische Stabilitätspakt, der scharfe Sanktionen vorsieht, wenn sich Mitgliedsländer zu stark verschulden.

SPIEGEL: Der Pakt hat aber nie funktioniert, weil ihn die Euro-Länder immer wieder umgangen haben.

Schäuble: Wir müssen den Pakt mit besseren Regeln neu begründen. Daran arbeiten wir jetzt. Der europäische Ratspräsident Herman Van Rompuy hat bereits zur ersten Sitzung einer Arbeitsgruppe eingeladen, die über entsprechende Vorschläge diskutieren soll. Ich freue mich, dass ich dieser Kommission angehören werde.

SPIEGEL: Viele Volkswirte sagen, dass Europa einen zweiten Fall Griechenland nicht verkraften könnte. Sind Sie anderer Auffassung?

Schäuble: Ich bin der Auffassung, dass diese Volkswirte nicht wirklich begriffen haben, dass sie das Geschäft unseriöser Spekulanten nähren. Die Lage Griechenlands ist völlig unvergleichbar mit der anderer Länder. Da gab es immer Probleme mit den Zahlen – und man kann sich die Frage stellen, ob die europäische Statistikbehörde das hätte früher merken müssen.

SPIEGEL: Der entscheidende Webfehler der EU war doch von Anfang an, dass über Sanktionen im Kreis der europäischen Finanzminister entschieden wurde. Damit waren Täter und Richter identisch.

Schäuble: Da ist was dran, aber wir sollten es uns nicht zu einfach machen und mit dem Finger auf andere zeigen. Schließlich hat auch die Bundesrepublik, unter einer rot-grünen Bundesregierung, wiederholt die Drei-Prozent-Hürde gerissen und den Pakt dann unter meinem Vorgänger Hans Eichel verwässert.

SPIEGEL: Währungskommissar Olli Rehn hat vorgeschlagen, für weitere drohende Staatspleiten einen Fonds einzurichten. Was halten Sie davon?

Schäuble: Wenn wir ein Verfahren für ähnliche Fälle wie Griechenland brauchen, müssen wir auch über die Frage reden, wie wir die Gläubiger an den Kosten beteiligen können. Bei jeder Insolvenz eines Unternehmens müssen die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, so sollte es auch bei einem Insolvenzverfahren für Staaten sein. Das zu lösen ist das A und O, dann lohnen sich Spekulationen nicht mehr. Dazu aber brauchen Sie keinen Fonds – sondern klare Regeln.

SPIEGEL: Rehn will die Euro-Regeln reformieren, ohne die europäischen Verträge zu ändern. Halten Sie das für möglich?

Schäuble: Da habe ich große Zweifel. Ich glaube nicht, dass es im Rahmen der heutigen Verträge möglich wäre, einem Staat beispielsweise die Stimmrechte zu entziehen. Also müssen wir auch über eine Änderung der Verträge reden.

SPIEGEL: Das heißt doch, dass es lange dauern wird – in einigen Ländern wären möglicherweise Volksabstimmungen nötig.

Schäuble: Ach wissen Sie, in Krisenzeiten geht manchmal vieles ganz schnell. Das war in der Finanzkrise vor zwei Jahren genauso. Überlegen Sie doch einmal, wie schnell dort international kooperiert wurde – und in welcher Geschwindigkeit die Rettungsgesetze auf den Weg gebracht wurden.

SPIEGEL: Das ist wahr, aber durch die Finanzkrise ist die Welt alles in allem zwar ärmer geworden, aber nicht klüger. Für die Banken gilt das auf jeden Fall, sie wehren sich vehement gegen eine stärkere Regulierung. Und einige Staaten stehen auch auf der Bremse. Versanden die guten Vorsätze jetzt?

Schäuble: Die schiere Notwendigkeit führt dazu, dass wir weiter um Regelungen für die Finanzmärkte ringen. Wir werden da nicht lockerlassen. Und viele Dinge sind auf der Ebene der G2O und in der EU schon umgesetzt worden. Zum Beispiel haben wir die Aufsicht über Rating-Agenturen verbessert. Wir haben auch verbindliche Standards für die Vergütung im Bankensektor eingeführt. Weitere Dinge sind bereits angeschoben worden, wie die Verbesserung der Eigenkapitalregeln. Wir werden auch darauf drängen, dass die Spekulationen des Finanzsektors auf den Rohstoffmärkten eingedämmt werden.

Spiegel: Was schwebt Ihnen da vor?

Schäuble: Wir müssen alle Produkte und alle Marktakteure Regeln unterwerfen. Dieser Grundsatz muss auch für Rohstoffe gelten. Auch sie können für eine Volkswirtschaft systemrelevant sein.

SPIEGEL: Sie haben ja einmal gesagt, die EU müsse auch die Möglichkeit bekommen, in letzter Konsequenz ein Land aus der Währungsunion auszuschließen.

Schäuble: Das wäre konsequent. Sehen Sie: Warum muss Griechenland derzeit für seine Anleihen höhere Zinsen zahlen als Litauen, obwohl die beiden Länder hohe Schulden machen? Die Antwort liegt darin, dass Griechenland seine Währung nicht abwerten kann, weil es Mitglied der Euro-Zone ist. Deshalb wäre es vernünftig, wenn Euro-Länder im Notfall aus der Währungsunion ausscheiden könnten.

Spiegel: Jetzt sind vor allem die deutschen Steuerzahler gefragt. Gefährdet das Griechenland-Paket Ihre Haushaltsplanung?

Schäuble: Überhaupt nicht. Es handelt sich um einen Kredit, der ordentlich verzinst wird. Wenn alles gut läuft, macht der deutsche Staat damit sogar ein Geschäft.

SPIEGEL: Das glauben Sie selbst nicht. Wenn Griechenland seine Schulden nicht vollständig zurückzahlen kann, geht das zu Lasten der Steuerzahler.

Schäuble: Das Risiko ist überschaubar. Das Paket wird aus Krediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau bestehen, die der Bund garantiert. Dafür benötigen wir keinen Nachtragshaushalt. Wir werden allerdings ein Gesetz einbringen, über das der Bundestag entscheidet.

Spiegel: Für den Bundeshaushalt droht noch von einer ganz anderen Seite Gefahr. Die FDP fordert eine Steuerentlastung von 16 Milliarden Euro. Die Kassen des Bundes aber sind leer. Wo soll das Geld herkommen?

Schäuble: Ich kommentiere den Vorschlag der FDP nicht. Aber ich halte mich an den Koalitionsvertrag.

SPIEGEL: Darin steht, dass die Bürger in dieser Legislaturperiode um 24 Milliarden entlastet werden sollen.

Schäuble: Ja, und zumindest 4,5 Milliarden davon haben wir schon realisiert. Jetzt befinden wir uns in einer schwierigen Konjunkturlage, und die Steuereinnahmen sind rückläufig. Im Lichte dieser Entwicklung werden wir also bei der Aufstellung des Haushalts 2011 eine Entscheidung treffen. Im Übrigen: Natürlich kann jeder Vorschläge machen, die FDP hat schließlich einen Parteitag.

SPIEGEL: Etliche Bundesländer haben bereits signalisiert, dass sie sich an der Finanzierung der Reform nicht beteiligen wollen. Kann der Bund die geplanten Milliardenbeträge allein aufbringen?

Schäuble: Die Koalitionsabsprachen beziehen sich auf die Einkommensteuer, deren Aufkommen dem Bund zu 42,5 Prozent zusteht. Das sind acht Milliarden Euro. Darüber muss sich die Bundesregierung mit dem Bundestag verständigen. Auf den Bundesrat haben wir keinen Einfluss. Kein Land ist Erfüllungsgehilfe einer Bundesregierung, und der Bundesfinanzminister kann nicht für die Mehrheit im Bundesrat sprechen.

SPIEGEL: Das heißt?

Schäuble: Wir haben eine ungewöhnlich schwierige Finanzlage bei den Kommunen. Deshalb werden wir uns auch, das steht im Koalitionsvertrag, zunächst um die Kommunalfinanzen kümmern. Wenn ich beide Vorhaben betrachte, habe ich eine Vorstellung davon, was wir in dieser Legislaturperiode voranbringen können und was möglicherweise erst in einer späteren Legislaturperiode gehen wird. In jedem Fall gilt die Schuldenbremse des Grundgesetzes, die uns dazu zwingt, künftig nur noch so viel auszugeben, wie wir einnehmen.

SPIEGEL: Sind die Städten und Gemeinden wirklich so notleidend?

Schäuble: Einige schon. Ihr Handlungsspielraum wird immer enger, einige stehen unter Zwangsaufsicht der Länder. Das ist eine gefährliche Entwicklung, denn die kommunale Selbstverwaltung ist der Kern unseres demokratischen Systems. Deshalb hat das Finanzproblem der Kommunen innerhalb der Regierung Priorität.

SPIEGEL: Wenn wir Sie so hören, glauben wir nicht an eine Steuersenkung.

Schäuble: Der Koalitionsvertrag gilt, und wir werden uns daran halten.

SPIEGEL: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es keine Steuersenkung gibt und der Koalitionsvertrag trotzdem eingehalten wird?

Schäuble: Das ist jedenfalls kein Widerspruch, schließlich gibt es in dem Vertrag einen Finanzierungsvorbehalt. Im Übrigen wird sich diese Bundesregierung an das Grundgesetz halten. Das kann ich einigermaßen gut lesen. Deshalb weiß ich, dass unsere Spielräume eng sind. Ich merke auch, dass die öffentliche Meinung dem Schuldenabbau zunehmend oberste Priorität einräumt.

SPIEGEL: Herr Schäuble, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Georg Mascolo, Wolfgang Reuter und Michael Sauga.

(c) Spiegel Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG