Freiheit und Demokratie sichern



Interview mit Dr. Wolfgang Schäuble über Politikverdrossenheit, Lobbyismus und Politik in der globalisierten Welt, in: Sylvia Schraut/Peter Steinbach/Wolfgang M. Gall/Reinhold Weber (Hrsg.): Menschenrechte und Geschichte. Die 13 Offenburger Forderungen des Volkes von 1847. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Bd. 43, Stuttgart 2015.

Dr. Wolfgang Schäuble, geboren 1942 in Freiburg im Breisgau, ist seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestags und damit derzeit der dienstälteste Abgeordnete in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Er ist einer der Architekten der Deutschen Einheit und der Wiedervereinigung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges, heute treibende Kraft bei der wirtschaftlichen Gesundung und der Haushaltssanierung im Euroraum und in der Europäischen Union nach den Krisen seit 2007, geehrt für sein Engagement unter anderem mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen. Zuvor war er von 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes sowie von 1989 bis 1991 und von 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern. Seit 2009 ist er Bundesfinanzminister. Er lebt in Offenburg.

Herr Schäuble, in anderen Ländern kämpfen die Menschen für ihr Recht auf freie Wahlen. Bei uns sinkt die Wahlbeteiligung. Zur Europawahl geht weniger als die Hälfte der Berechtigten. Warum ist das so?

Dafür gibt es verschiedene Erklärungen, und auf die Tatsache selbst wiederum unterschiedliche Reaktionen, von Beunruhigung bis zu Gelassenheit. Wahrscheinlich haben die Nichtwähler ganz unterschiedliche Gründe für ihr Verhalten. Ich denke, es ist klug, als Politiker zuerst sich selbst zu fragen, was man tun kann, um sinkender Wahlbeteiligung entgegenzuwirken. Wie können wir Abgeordnete den Ruf von Politik verbessern, das Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten steigern, die Bereitschaft wecken, sich wenigstens mit der eigenen Stimmabgabe zu beteiligen? Wie können wir mit unserem Handeln den Sinn repräsentativer Demokratie sichtbar machen? Indem wir immer wieder erläutern, warum Politik oft eine langwierige Angelegenheit ist – weil so viele Interessen einfließen und auszugleichen sind; dass sie Kompromisse braucht; dass es meist nicht damit getan wäre, „den Willen des Volkes“ einfach umzusetzen, weil es das Volk mit dem einen Willen in der Regel nicht gibt; dass man schon gar nicht den Willen Einzelner zum allgemeinen Willen erklären kann. Aber Gelassenheit in der Frage der Wahlbeteiligung ist ebenso nicht ganz falsch: Ein Grund für die Nicht-Wahl ist sicher oft auch eine alles in allem vorhandene Zufriedenheit und ein Gefühl grundlegender Sicherheit und Freiheit, die es einem erlaubt, eben auch nicht zu wählen. Im Übrigen gilt auch das Gesetz abnehmenden Grenznutzens: Alles, was man sicher zu besitzen scheint, verliert an subjektiver Wertschätzung. Was natürlich wiederum ein fragwürdiges Gefühl ist – wir müssen unsere Sicherheit und Freiheit immer neu verteidigen. Dazu gehört auch die Beteiligung an Wahlen.

In Wahlbezirken mit einer armen Bevölkerung ist die Wahlbeteiligung oft sehr gering, in wohlhabenden Bezirken überdurchschnittlich hoch. Stört Sie das?

Natürlich kann das für die Demokratie nicht gut sein. Manche Enthusiasten der direkten Demokratie vergessen übrigens, dass das dann nicht anders wäre – und es würde sich noch unmittelbarer verzerrend auf die Entscheidungen und ihre Repräsentativität auswirken. Auch um dieses von Ihnen beschriebene Phänomen zu ändern, braucht es die Anstrengung Vieler: der Schulen, der Familien, aber vor allem wieder auch der Politik, der Politikerinnen und Politiker selbst. Jeder muss versuchen, möglichst viele Menschen zu erreichen und ihnen zu erklären, was er tut und warum er es tut; was er tun würde, wenn er gewählt würde; und warum das für die Bürgerinnen und Bürger wichtig ist. Meine Erfahrung ist immer wieder: Wenn man die Gelegenheiten nutzt, das vor den Bürgerinnen und Bürgern zu erläutern und mit ihnen zu diskutieren, wächst Verständnis und Interesse.

Gibt es eine Wechselwirkung: Werden Gruppen, die nicht zur Wahl gehen, für die Politik uninteressant?

Das wird immer wieder einmal behauptet. Aber so funktioniert es doch nicht. Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen: Parteien, ganz sicher die Volksparteien, machen Angebote für alle Bürgerinnen und Bürger; und bei den im Bundestag vertretenen Parteien – und bei einer der dort zurzeit nicht vertretenen – dürfen Sie das Streben nach so etwas wie dem Gemeinwohl durchaus voraussetzen. Und am Ende sind doch gerade auch die, die beim letzten Mal nicht zur Wahl gegangen sind, ziemlich interessant für die Parteien – nicht zuletzt aus Eigennutz: Die bisherigen Nichtwähler sind ein Wählerpotenzial, das man gern heben möchte.

Parlamentarier sind gewählt. Das müsste ihnen Ansehen verschaffen. Warum haben so viele Menschen ein so schlechtes Bild von jenen Volksvertretern, die sie selbst gewählt haben?

Zunächst: Ist das so? Vielleicht ist es eher so wie mit den Arbeitgebern: Die Wirtschaft, die Unternehmer oder die Manager sieht man oft skeptisch; der eigene Chef aber ist meist ganz in Ordnung. Übertragen: Die eigene oder der eigene Bundestagsabgeordnete, wenn man sie oder ihn einmal kennen gelernt hat, ist für einen oft gar nicht so verkehrt. Ich denke, dass alle Abgeordneten gute Möglichkeiten haben, das Bild von sich zu verbessern: Indem sie keinen Zweifel daran lassen, dass sie wissen, wer sie abgeordnet hat und woher sie abgeordnet sind. Indem eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter mit den Bürgerinnen und Bürgern des Wahlkreises verbunden ist, gewinnt man Vertrauen. Das muss sich jeder erarbeiten – und erarbeitet es dann zugleich für alle Abgeordneten mit.

Weshalb haben Verfassungsrichter ein so viel höheres Ansehen als Politiker?

Die Deutschen waren seit dem 19. Jahrhundert oft skeptisch gegenüber der Politik und haben in ihr etwas eher Schmutziges gesehen: „Basar“, „Gekungel“, „bloße Macht- und Eigeninteressen“, „Parteiengezänk“, „Schwatzbude“ – das ist so die traditionelle Stimmung der Deutschen gegenüber der politischen Sphäre. Im Verfassungsgericht dagegen lebt noch etwas von dem, was man in Deutschland meist besser fand: die neutrale Instanz, sachlich agierend, über den Parteien, das Gemeinwohl im Blick, weise und endgültig entscheidend. Mir scheint, wir dürfen der Politik mehr Gutes zutrauen und müssen nicht so oft nach dem Verfassungsgericht schielen, damit dann dort Entscheidungen getroffen werden, die gut das Parlament in seiner Verantwortung treffen kann. Dass durch den Wettbewerb der Parteien Freiheit und Demokratie gesichert werden, wird oft nicht genügend bedacht.

Müssen Abgeordnete bessere Menschen sein?

Wer sagt denn so etwas? Abgeordnete sind Bürger, und Bürger können Abgeordnete werden. Deshalb gibt es auch die immer wieder beklagte „Kluft zwischen Politik und Bürgern“ nicht wirklich. Zehntausende Abgeordnete in Deutschland, von der Gemeindeebene bis zum Bundestag und zum Europaparlament, immer wieder abberufen und neu gewählt, können gar nicht so „abgehoben“ sein, wie oft behauptet wird. Denn sie kommen ja alle aus unserer Mitte. Allerdings sollten Abgeordnete Werber für unsere repräsentative Demokratie sein. Zehntausende Abgeordnete sind hunderttausende Gelegenheiten, für die Politik ein gutes Bild abzugeben. Auch, noch einmal, indem sie wieder und wieder erläutern, dass Demokratie eine komplizierte Sache ist; gerade in Deutschland auch deshalb kompliziert, weil bei uns Politik auf so vielen Ebenen, zwischen so vielen Mitsprache- und Mitentscheidungsberechtigten
stattfindet, zwischen starken Parlamenten, Koalitionen, Bundesländern, Kommunen und Verfassungsgerichten. Aber demokratische Politik hat eben mit Interessen und mit der Pluralität von Blickwinkeln zu tun, die in der Demokratie nichts Störendes sind, sondern die ja gerade zur Sprache kommen sollen. Wenn wir all das immer wieder erläutern, dann wird es auch verstanden, und Politikverachtung hat es ein bisschen schwerer. Wir müssen Politik immer wieder begründen, ganz konkret, Thema für Thema – nur so hat man eine Chance gegen das Gefühl mancher, die Sorgen
der Bürger würden von „der Politik“ nicht gehört. Doch, die Politik hört – nur die Lösungen gefallen nie allen. Also: Abgeordnete müssen nicht die besseren Menschen, aber die besseren Politikerklärer sein.

Wie groß ist der Einfluss der Lobbyisten und welche Rolle spielt dabei die finanzielle Kraft, die hinter den Lobbyisten steht?

Die Größe dieses Problems wird überzeichnet: Erstens sollen in der Demokratie Interessen zur Sprache kommen. Politiker und Abgeordnete sind für fundierte Entscheidungen darauf angewiesen, dass Interessen vertreten und erläutert werden – ebenso wie zuvor Beamte bei der Arbeit an Entwürfen für Gesetzestexte. Oft ist ein Interessenvertreter übrigens erst einmal ein Sachverständiger, von dem man lernen kann und soll. Deswegen gibt es Formate wie zum Beispiel die Anhörungen im Deutschen Bundestag oder die Einholung von Stellungnahmen auf Ministerialebene. Wenn Lobbyisten so mächtig wären, wie viele behaupten, gäbe es beispielsweise kein Trennbankengesetz zur Stabilisierung des Finanzsektors, das manche Banken nicht gerade lieben, oder es gäbe keinen gesetzlichen Mindestlohn, von dem die Arbeitgeberverbände wenig begeistert sind. Im Bundestag soll in öffentlicher Debatte um das beste Argument gerungen werden.

Das war die Idee. Wie viel ist davon heute noch übrig?

Wenn ich im Bundestag einen Gesetzesvorschlag begründe oder ein Vorhaben verteidige, muss ich mich in einer öffentlichen Situation um die besten Argumente bemühen – sonst lassen mich die klugen Kollegen der Opposition schlecht aussehen. Alle legen im Bundestag ihre Meinungen und Haltungen offen. Die Bürger können sich ein Bild machen. Es ist dort also auch heute so, wie es immer war. Eine andere Frage ist, wie viele Menschen dies in ihrem Alltag noch verfolgen. Dies hat sicherlich abgenommen. Aber jeder kann sich informieren und im Internet sogar – mit früheren Zeiten gar nicht zu vergleichen – alle Reden sofort nachlesen. Der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hat einmal gesagt: „Parlamentarische Diskussion ist nicht philosophische Wahrheitssuche, sondern, und was sollte sie sonst eigentlich sein, politischer Kampf, mit rhetorischen Mitteln ausgetragen. Und zwar ein Kampf, in dem es nicht um Machtpositionen geht (die hat man oder hat man nicht), sondern um die Begründung dieser Machtpositionen. Ferner um die Verantwortung der so oder so begründeten Positionen vor der Öffentlichkeit.“ Das ist die demokratische Funktion von Parlamentsdebatten, und die erfüllen sie nach wie vor.

Wieviel Öffentlichkeit verträgt, wie viel Vertraulichkeit benötigt die Politik?

„Politik“, aus dem Griechischen von polis, die Stadt oder das Gemeinwesen, „Republik“, aus dem Lateinischen von res publica, die öffentliche Sache – schon die Begriffe machen deutlich, dass Politik und Öffentlichkeit untrennbar zusammengehören; ohne Abstriche, aber vielleicht mit einer Differenzierung: Alle Gründe, Argumente für oder gegen politische Entscheidungen, alles Verwaltungshandeln, müssen öffentlich und transparent sein. Aber Verhandlungen zwischen den Akteuren und Amtsträgern in Demokratie und Staatengemeinschaft brauchen oft Vertraulichkeit, damit man zu vernünftigen Lösungen kommt. Da müssen Dinge auch mal reifen, da muss man miteinander reden und ringen außerhalb der öffentlichen Arena, damit Bewegung und Kompromisse ohne Gesichtsverlust möglich werden. Da hat man ganz schnell Verhärtungen, wenn man Verhandlungen über die Medien führt.

Wie störend ist der real existierende Föderalismus für die praktische Politik?

Ich finde es in der Politik eher fruchtlos, sich über historisch gewachsene Strukturen zu beschweren und sie beleidigt als Hindernis für die Durchsetzung des eigenen Willens zu betrachten. Auf das Mühsame der demokratischen Politik, gerade in Deutschland mit seinen vielen staatlichen Ebenen und Mitentscheidern, habe ich bereits hingewiesen. Aber man muss doch auch sehen, dass diese mühsamen Prozesse seit Jahrzehnten gar nicht so schlechte Ergebnisse hervorbringen. Wir sind ein im internationalen Vergleich ganz gut regiertes Land. Wir haben immer wieder wichtige Reformen geschafft, wenn sie nötig wurden; wir haben einen grundlegenden gesellschaftlichen Konsens und sozialen Zusammenhalt immer wieder erreicht und erhalten. Laut Studien sind wir heute das beliebteste Land in der Welt und das zweitbeliebteste Land für Einwanderer. So schlecht können die Bedingungen, unter denen wir Politik machen, nicht sein.

Wieviel Macht haben Parlamente in einer globalisierten Welt?

Auch die politischen und sozialen Fragen in einer globalisierten Welt werden in den Parlamenten verhandelt. Die Positionen Deutschlands in den internationalen Institutionen, Gremien und Gipfelverhandlungen sind Gegenstand von Bundestagsdebatten. Verpflichtungen, die Deutschland in der Welt eingeht, bedürfen der Zustimmung des Bundestages. Manchmal haben andere Akteure das erste Wort – der Bundestag hat immer das letzte.

Wieviel Macht hat der Bundestag in einem zusammenwachsenden Europa?

Hier gilt das gleiche: Gerade in europäischen Fragen hat der Bundestag, unterstützt – manche sagen auch angetrieben – vom Bundesverfassungsgericht, seine Rechte festgehalten und noch gestärkt. Der Bundestag wird auch in einem noch stärker integrierten Europa seine zentrale Rolle weiter spielen. Andererseits ist es tatsächlich eine der großen Veränderungen der letzten Jahrzehnte – verstärkt noch einmal durch die Einführung des Euro –, dass das Handeln von Bundestag und Bundesregierung immer enger verflochten ist mit der Politik in den anderen Mitgliedstaaten der Eurozone und der Europäischen Union. Was einer tut oder lässt, hat Auswirkungen auf alle anderen. Für ein Europa, das in der globalisierten Welt relevant bleiben will, ist das auch genau die richtige Entwicklung. Und trotz alledem bleibt der Bundestag das Zentrum und der Ausgangsort demokratischer Legitimität für uns Deutsche in Europa – ergänzt von unseren gewählten deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament.

Lässt sich Europa nach den traditionellen Regeln einer parlamentarischen Demokratie organisieren?

Europa wird in der globalisierten Welt nicht als loser Verbund stets neu und mühsam sich zusammenraufender Nationalstaaten bestehen können. Wir brauchen ein stärkeres Europa, vor allem für die großen und übergreifenden Fragen, die kein Staat alleine lösen kann. Gleichzeitig brauchen wir aber eine größere Bereitschaft, das Subsidiaritätsprinzip konsequent anzuwenden: So viele Zuständigkeiten wie möglich sollten dezentral bei Kommunen, Regionen, auch bei den Mitgliedstaaten verbleiben oder wieder zu ihnen zurückkehren. Wenn die Aufgaben dort angesiedelt sind, wo sie am besten bewältigt werden können, dann sollte auch jede Ebene in Europa künftig die Gesetzgebungskompetenz und die Vollzugskompetenz für ihre Zuständigkeiten haben. Meine Vorstellung ist eine von Europas Bürgern eindeutig legitimierte Legislative, Exekutive und Judikative auch auf europäischer Ebene, neben den nationalstaatlichen Demokratien; ein sich ergänzendes, ineinander greifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten: eine national-europäische Doppeldemokratie. Wir wären dann Bürgerinnen und Bürger unserer nationalen Demokratien und einer europäischen Demokratie zugleich.

Das Interview führte Dr. Stefan Geiger.