Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Festakt anläßlich des 160. Jahrestages der Paulskirchenverfassung im Rahmen des Jubiläums Freiheit und Einheit
(Es gilt das gesprochene Wort.)
In seinem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschreibt Paul Watzlawick einen Mann, der alle zehn Sekunden in die Hände klatscht. Zur Frage, warum er das mache, erklärt er: „Um die Elefanten zu verscheuchen.“ Auf den Hinweis, es gebe hier doch gar keine Elefanten, antwortet der Mann: „Na, also! Sehen Sie?“ Noch einen anderen Weg zum Unglücklichsein nimmt Watzlawick ironisch aufs Korn: die Verherrlichung der Vergangenheit. Wir können uns viel gründlicher die Laune verderben, wenn wir die zurückliegende Zeit idealisieren und uns über die Gegenwart ärgern. Beides wollen und sollten wir heute nicht tun: Es wäre verkehrt, unsere Vergangenheit zu verklären. Es wäre aber auch verkehrt, sich nur darauf zu konzentrieren, die bösen Geister zu verscheuchen.
Heute wollen wir nicht fragen, wie wir am besten unglücklich sein können, auch wenn man uns Deutschen darin ein gewisses Talent nachsagt. Heute wollen wir uns den glücklichen Weichenstellungen unserer jüngeren Geschichte widmen.
Es sagt viel über den Zustand eines Gemeinwesens, wie es seine Fest- und Gedenktage begeht: Feiert es säbelrasselnd, wie es im Kaiserreich Wilhelms II. am Sedantag üblich war? Oder mit dem hohlen Pomp, den die DDR alljährlich an ihrem Gründungstag zur Schau stellte, selbst noch einen Monat, bevor die Mauer fiel? Feiert man verdruckst und kleinmütig, weil man fürchtet, man habe gar keinen richtigen Grund zum Feiern oder die Feiern könnten als Chauvinismus ausgelegt werden? Das sollten wir bei unserem „Jubiläum Freiheit und Einheit“ nicht machen. Wir sollten mit Freude, Gelassenheit und Zuversicht feiern – die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 hat gezeigt, dass wir das gar nicht so schlecht können.
60 Jahre Grundgesetz, 20 Jahre Friedliche Revolution: mit diesem Doppeljubiläum feiern wir die beiden Sternstunden der Geschichte der Bundesrepublik: die Schaffung der rechtlichen Grundlagen unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung und die Erkämpfung der Freiheit in der DDR, die zur Wiedergewinnung der Deutschen Einheit führte. Voraussetzung dieses doppelten Gelingens war, dass wir diesen Weg nicht gegen, sondern mit der internationalen Staatengemeinschaft gegangen sind. Statt Erbfeindschaften pflegen wir ein freundschaftliches Verhältnis zu allen Nachbarn in Europa und vielen Partnern in der Welt.
Die deutsche Frage hatte immer einen innerdeutschen und einen europäischen Aspekt: Auf nationaler Ebene lautete sie: Wie kann Deutschland seine politische, von den Menschen bejahte und getragene Einheit finden? Europäisch gestellt, hieß sie: Wie kann ein geeintes Deutschland in eine stabile europäische Friedensordnung eingefügt werden, die auf Ausgleich statt auf Hegemonie beruht?
1848/49 ist es uns Deutschen nicht gelungen, Freiheit und Einheit zu erringen, nationale wie europäische Anliegen auszubalancieren. Die Gegenkräfte der Freiheit waren zu stark, der Konflikt um die „kleindeutsche“ oder „großdeutsche“ Lösung zu groß, und der Streit um die Zukunft Schleswig-Holsteins rief die übrigen europäischen Großmächte auf den Plan.
1871 setzte Bismarck eine nationale Lösung der Einheit durch. Die europäische Einbindung war bestenfalls fragil, was Bismarck selbst in seinen Albträumen bewusst war. Und die bürgerliche Mitte im Kaiserreich entfernte sich von den liberal-demokratischen Werten der Paulskirche. Auch deshalb fehlte es der ersten Demokratie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg an innerer Zustimmung. Staatsterror, Vernichtungskrieg und Völkermord machten sich nach dem Scheitern der Weimarer Republik breit. Als die Diktatur des Dritten Reichs endlich ihr Ende fand, wurde ein Teil der Deutschen zu Geiseln einer zweiten Diktatur, die sich nur behaupten konnte, indem sie Millionen Menschen hinter Mauer, Stacheldraht und Selbstschussanlagen einsperrte.
Der Dreiklang Freiheit – Einheit – Europa, das lehrt die Geschichte, ist alles andere als selbstverständlich. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Denn das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen gilt auch hier: Sobald wir etwas erreicht haben, sobald uns etwas zum festen Besitz geworden ist, nehmen wir es nicht mehr so wichtig. Lieber kümmern wir uns um die Dinge, die uns fehlen oder die uns stören. Auch das ist einer der Wege zum Unglücklichsein.
Lange Jahrzehnte unterschätzt und zu wenig gewürdigt waren auch die Errungenschaften der 1848er Revolution. Die staatliche Einheit Deutschlands wäre nicht zustande gekommen ohne die liberale, in Ansätzen auch schon demokratische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, die in der 1848er Revolution kulminierte. Und mit der Erklärung der Grundrechte in Deutschland und ihrer Aufnahme in die Verfassung hat die Nationalversammlung Deutschland an die westliche Verfassungstradition angebunden. Heute vor 160 Jahren wurde diese Fassung in der Paulskirche beschlossen. Hundert Jahre später konnte sich der Parlamentarische Rat bei der Beratung des Grundgesetzes auf diese Vorarbeit beziehen. Übrigens: Die Terminierung der freien Volkskammerwahl im Jahr 1990 war auch kein Zufall: Der Zentrale Runde Tisch hat der Regierung Modrow ihren Termin in bewusster Anknüpfung an den revolutionären 18. März 1848 in Berlin aufgedrängt. Von 1848 und der Paulskirche gehen zwei – wenngleich zwischenzeitlich gebrochene – Traditionslinien aus: die freiheitliche Verfassungstradition Deutschlands und auch eine revolutionäre Linie, die bis 1989/90 reicht.
Die Revolution von 1848 war ein Aufbruchssignal, auch wenn die Früchte erst viele Generationen später geerntet werden konnten. Die Jahre nach 1949 und 1989 waren jeweils Jahre des Aufbaus. Vor 60 Jahren haben die Menschen im Westen ein freiheitlich-demokratisches und sozial-marktwirtschaftliches Gemeinwesen aus den Trümmern geschaffen. Auch im Osten haben sich die Menschen unter großem Einsatz neue Existenzen aufgebaut, wobei sie den schwereren Teil unserer Nachkriegsgeschichte zu tragen hatten. Diktatur und Zwangswirtschaft haben diesen Teil der Deutschen vielfach um den Lohn ihrer Arbeit gebracht. 1989 haben sie dem ein Ende gesetzt, mit großem Mut die Freiheit erkämpft und Deutschland auf den Weg der Einheit gebracht. Der Aufbau Ost war nicht einfach und er ist noch nicht vollendet. Aber seine Erfolge kann niemand ernsthaft bestreiten, der die heutigen Verhältnisse mit denen von vor 1989 vergleicht.
Wir leben in Freiheit und Einheit, und wir können dankbar, auch mit Stolz auf das Erreichte blicken. Es hilft aber nichts, wenn Freiheit und Einheit nur auf dem Papier stehen. Zur gelebten Freiheit, zur gelebten Einheit gehört Vertrauen in die eigenen Kräfte und der Wille, die eigenen Chancen zu nutzen – nicht gegen die Umwelt, sondern solidarisch mit den Anderen.
Es wäre falsch, wenn wir aus den Exzessen der Finanzmärkte und der blinden Profitgier, die dahinter stand, den Schluss ziehen, wir könnten nicht auf das Prinzip freier Märkte und freiheitlichen Lösungen vertrauen. Etwas Besseres als Freiheit gibt es nicht; es geht darum, wie wir einen verantwortlichen Gebrauch der Freiheit gewährleisten, damit sich Freiheit in der Übertreibung nicht selbst zerstört. Zu viel Staat erstickt die Freiheit, das dürfen wir auch in der jetzigen Ausnahmesituation nicht vergessen.
Auch die Einheit müssen wir immer wieder neu erringen. Der Ost-West-Gegensatz ist Teil der Welt von gestern. Aber die Welt von morgen wird nicht ohne Spannungen sein, und wir müssen aufpassen, dass die Gegensätze zwischen Jungen und Alten, Einheimischen und Zugewanderten, Armen und Reichen nicht zunehmen. Schon ein beziehungsloses Nebeneinander ist schlecht für unseren Zusammenhalt. Es ist der Sinn für andere, das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, die Anerkennung allgemeiner Werte, gemeinsame Erinnerungen und Hoffnungen, die wir als Gesellschaft brauchen. Das ist die große Herausforderung für die Zukunft, der wir uns als ein Volk in Freiheit und Einheit stellen müssen.