rbb-Inforadio: Vor 10 Jahren, am 1. Mai 2004 sind auf einem Schlag zehn Länder der Europäischen Union beigetreten. Darunter acht aus Ost- und Südosteuropa. Für uns Anlass auf die Hoffnungen von damals und die Entwicklung der letzten Jahre zurückzuschauen. Nicht Wenige hatten vor der Osterweiterung die Sorge, die Gemeinschaft könne das nicht so ohne Weiteres verkraften. Wolfgang Schäuble hat sich in all seinen politischen Ämtern, ob als Kanzleramtschef oder CDU-Vorsitzender, ob als Innen- oder Finanzminister immer für die europäische Idee stark gemacht. Jetzt ist er bei mir am Telefon. Guten Morgen, Herr Schäuble.
Wolfgang Schäuble: Guten Morgen, Herr Ringel.
rbb-Inforadio: Was steht für Sie, 10 Jahre nach der Osterweiterung, ganz oben auf der Haben-Seite?
Schäuble: Europa ist größer geworden. Wir haben die Teilung, die ein Ergebnis des 2. Weltkriegs war, überwunden. Unsere neuen, damals neuen Mitglieder sind gleichberechtigte, gleichwertige Mitglieder der europäischen Einigung. Wenn man an die Entwicklung des Verhältnisses zu unserem wichtigen Nachbarn Polen denkt, ist es eine wirkliche Entwicklung, die wir vor zwanzig, dreißig Jahren gar nicht so für möglich gehalten hätten. So toll ist das. Und wir sehen in diesen Wochen der Krise mit Russland und der Ukraine, wie wichtig es ist, dass Europa einig ist und wie alle Stabilität und Frieden durch die Zugehörigkeit zu einem einigen Europa sich erhoffen.
rbb-Inforadio: Wenn man ein bisschen mal konkreter wird, zeigt sich allerdings auch in vielen Bereichen, hat es zwar eine Verringerung des Abstands der neuen zu den alten Mitglieder gegeben, nehmen wir die Wirtschaftsleistung, aber häufig profitieren dann doch die alten Westländer mehr von alldem. Es wird vielmehr von Westen in Richtung Osten und Südosten exportiert. Viele neue, große Unternehmen oder widererstarkte im Osten sind Ableger des Westens. Also ist der Westen trotzdem Hauptnutznießer dieser Erweiterung gewesen?
Schäuble: Ja gut, ich meine der Osten profitiert natürlich auch von den Investitionen aus dem Westen im Osten. Insofern, das ist eine Entwicklung in anderer Intensität, aber irgendwo dann auch vergleichbar, wie Sie es in Deutschland seit der Wiedervereinigung zwischen den alten und neuen Bundesländern auch kennen. Und die Debatten sind auch immer dieselben. Aber es ist gut, dass sie daran erinnern. Die wirtschaftlich Stärkeren, also in diesem Fall der Westen, hat natürlich von einem größeren gemeinsamen Markt jede Menge Vorteile. Die Gegenseite ist allerdings, dass man auch Solidaritätsleistungen für die schwächeren erbringen muss. Die macht man nicht nur für die Schwächeren. Was auch richtig ist. Sondern man macht es vor allen Dingen auch im eigenen Interesse, wie sie es gerade richtig beschrieben haben. Deswegen ist eben europäische Einigung eine Entwicklung, von der alle Vorteile haben, aber die wirtschaftlich Stärkeren, so wie Deutschland, nicht zuletzt. Im Übrigen in den letzten Jahren waren nicht die osteuropäischen Partner in Europa unsere Sorgenkinder, die waren regional ein bisschen nur anders, wenn Sie sich erinnern.
rbb-Inforadio: Das ist ein wichtiges Thema. Ein anderes haben Sie aber auch vorhin schon angesprochen. Da würde ich gerne nochmal drauf zurückkommen. Das ist der Konflikt in der Ukraine. Der ist maßgeblich durch den Streit in der Ukraine darüber ausgelöst worden, ob sich das Land der EU annähern soll oder nicht. Ähnlich wie damals vor zehn Jahren stellt sich die Frage wieder: Kann und sollte sich die EU noch weiter nach Osten ausdehnen? Was sagen Sie?
Schäuble: Das ist nicht die Entscheidung der EU. Das ist die Entscheidung der Ukraine. So wie es damals die Entscheidung von Polen, von Tschechien, der Slowakei, den baltischen Staaten war, der EU beizutreten. Wir wollen doch, dass jedes Land, jedes Volk, jeder Staat selbst entscheiden kann. Das ist doch unser Prinzip. Selbstbestimmung. Freiheit. Und die gilt für alle. Und deswegen ist es auch nicht so, dass man jetzt sagen kann, die EU ist schuld, weil sie so attraktiv ist, dass andere ihr beitreten wollen. Wir bedrohen niemandem, sondern wir sagen ganz im Gegenteil: Wir wollen Frieden, Stabilität, eine gute wirtschaftliche Entwicklung für alle haben. Und wir sind ein Stabilisierungsfaktor. Und offensichtlich ist diese EU so attraktiv. Man kann es manchmal, wenn man die Diskussion in unserem eigenen Alltag sieht, glaubt man es gar nicht. Wir meinen immer, die EU, viele reden bei uns so. Einer ist der Verursacher vieler Probleme. In Wahrheit ist sie offensichtlich so attraktiv, dass viele, die noch nicht dazu gehören, sich dringend wünschen, Mitglied zu werden.
rbb-Inforadio: Es ist aber auch so, dass damit unmittelbar doch die Interessen Russlands auch berührt werden und die EU hatte vor einigen Wochen oder Monaten noch den Standpunkt vertreten, Russland sitzt hier nicht mit am Tisch, wenn wir über die Zukunft der Ukraine reden. Nun offenbar doch. Muss man auch das Verhältnis zu Russland neu überdenken?
Schäuble: Das Verhältnis zu Russland muss man immer überdenken. Die EU ist ein guter Nachbar. Wir haben Russland immer ein enges partnerschaftliches Verhältnis angeboten. Das gilt auch jetzt. Aber natürlich muss sich Russland dann auch an die Regeln guter Nachbarschaft halten. Das sind oft zwei Seiten. Ich will mal daran erinnern, als damals die Mauer in Deutschland gefallen war, da waren viele skeptisch außerhalb Deutschlands wegen der Wiedervereinigung. Unser Nachbar im Osten, Polen, die waren vom ersten Tag an geradezu begeistert für die deutsche Wiedervereinigung, weil sie natürlich wussten: Ein wiedervereinigtes stabiles Deutschland ist der beste Nachbar, den man sich wünschen kann. Und so würde ich mir eigentlich auch wünschen, dass es Russland versteht, eine starke Europäische Union bereit zu einem engen partnerschaftlichen Verhältnis ist doch auch das Beste im Interesse Russlands.