„Europa funktioniert nur im Konsens“



Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble im Gespräch mit der Zeitung „Schweiz am Sonntag“ über Europa, Geheimdienste und den respektvollen Umgang mit unserem südlichen Nachbarland.

SaS: Herr Minister, Sie sind seit 40 Jahren in der Politik. Ist die Euro- und Schuldenkrise Ihre bisher schwierigste Zeit?

Wolfgang Schäuble: Die Menschen sind ja immer versucht zu glauben, dass die jeweils aktuellen Schwierigkeiten die grössten seien. Na ja. Wir hatten den Kalten Krieg, die Berlin-Blockade, die Kuba-Krise, um nur ein paar Dinge zu nennen – nein, die jetzige Situation ist nicht die schwierigste. Aber durchaus herausfordernd.

SaS: Hat jemand, der so lange im politischen Geschäft ist wie Sie, eigentlich noch schlaflose Nächte?

Wolfgang Schäuble: Ich konnte immer gut schlafen. Ich arbeite schon seit Jahrzehnten so viel, dass ich die Zeit, die mir fürs Schlafen übrig bleibt, gut nutze. Ich kann fast immer abschalten.

SaS: Als Sie vergangene Woche nach Griechenland reisten, titelte eine Zeitung: «Ave Caesar, die Todgeweihten grüssen dich». Beschäftigen Sie solche Schlagzeilen?

Wolfgang Schäuble: Nein. Erstens kann ich kein Griechisch, deshalb habe ich das gar nicht gelesen, und zweitens steht auch in Zeitungen anderswo viel Unsinn. Wenn ich mich ständig mit Schlagzeilen beschäftigen würde, bliebe keine Zeit mehr für die Arbeit.

SaS: Die Schlagzeilen sind Ausdruck der Wut und Ohnmacht gegen das deutsche Spardiktat.

Wolfgang Schäuble: Sie dürfen solche Einzelgeschichten nicht verallgemeinern. Als das griechische Parlament letzte Woche die Entlassung von Angestellten des öffentlichen Dienstes beschloss, demonstrierten 3000 Leute dagegen. Man könnte auch schreiben, es seien nur 3000 Demonstranten gewesen.

SaS: Also gibt es die Wut der Griechen nur in den Medien?

Wolfgang Schäuble: Die Aufregung im deutschen Fernsehen war jedenfalls viel grösser als in der Realität. Die Verantwortlichen in Griechenland wirkten auf mich entspannter. Man darf sich eben nie nur auf die mediale Wahrnehmung verlassen.

SaS: Die deutsche Sparpolitik wird international weitgehend abgelehnt. Auf dem G-20-Gipfel der Finanzminister in Moskau waren Sie in dieser Frage isoliert.

Wolfgang Schäuble: Das ist nicht zutreffend. Die Position des Bundesfinanzministers, dass wir für nachhaltiges Wachstum nachhaltige öffentliche Finanzen brauchen, fand eine breite Zustimmung. Die Zahlen beweisen nun mal, dass ein gesunder Staatshaushalt das richtige Ziel ist: Die Länder mit soliden finanzpolitischen Kennziffern haben die besseren ökonomischen Kennziffern – und die besseren Entwicklungen am Arbeitsmarkt.

SaS: Und doch steckt der Grossteil des EU-Raums weiter in der Krise. Viele Ökonomen führen das darauf zurück, dass Deutschland die südlichen Länder zum Sparen zwingt.

Wolfgang Schäuble: In Europa zwingt kein Land die anderen zu irgendetwas. Europa funktioniert nur im Konsens. Und Europa hat sich entschieden und das auch im Stabilitäts- und Wachstumspakt, im Fiskalpakt, Six- und Twopack festgeschrieben, dass es jetzt lang aufgeschobene Reformen angeht und die Haushalte saniert. Die Reformen greifen, die Defizite sinken, die Exporte steigen. Wir wollen kein deutsches Europa, wir wollen ein starkes Europa.

SaS: Nicht nur im Süden Europas sieht man die Entwicklung aber genauso: hin zu einem deutschen Europa.

Wolfgang Schäuble: Die Rede vom deutschen Europa ist grober Unsinn. Europa ist Vielfalt! Die anderen Staaten würden es sich verbitten, wenn jemand fordern würde, dass sie «wie die Deutschen» werden sollten – zumal man dann fragen müsste, was das heissen soll. Wir nehmen unsere Verantwortung wahr und erfüllen unsere Verpflichtungen. Und wir glauben, dass es grundsätzlich besser ist, dass alle sich immer an das halten, auf was man sich gemeinsam geeinigt hat. Nicht mehr und nicht weniger.

SaS: Vermissen Sie eigentlich die Schweiz in der EU?

Wolfgang Schäuble: Ja, klar. Aber nur die Schweiz kann darüber entscheiden. Der Schweiz steht die Tür zur EU jederzeit offen. Doch wenn die Schweiz das nicht will, respektieren wir das. Ich setze mich immer dafür ein, dass die Schweiz von allen respektiert wird. Sie bleibt auch so ein verlässlicher Partner.

SaS: Der bilaterale Weg gilt in der Schweiz als Königsweg, die Frage aber ist: Macht die EU weiter mit?

Wolfgang Schäuble: Solange ich darauf Einfluss nehmen kann, wird die EU weiterhin mit der Schweiz respektvoll umgehen. Wir zwingen niemanden zu etwas. Europa beruht auf der Freiwilligkeit, und wieso sollte ein kleines Land nicht seinen eigenen Weg gehen? Noch einmal: Ich habe einen grossen Respekt vor der politischen Kultur und Tradition der Schweiz.

SaS: Mit Rhetorik gegen die Schweiz können deutsche Politiker, vor allem aus der SPD, bei ihren Wählern aber offenbar punkten.

Wolfgang Schäuble: Wir werden sehen, wer die Wahlen gewinnt. Die Mehrheit meiner Landsleute hält nichts von Polemik gegen die Schweiz. Wir Deutschen haben ja gelernt aus der Geschichte, wir sind zum Glück nicht mehr die gleichen Nachbarn wie früher.

SaS: Warum ist das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz seit dem Ende der Ära Kohl schlechter geworden?

Wolfgang Schäuble: Die Beziehung ist nach wie vor sehr gut und sehr eng. Wenn sie zwischendurch weniger eng war, dann liegt das nicht an der Union. Für Kanzler Gerhard Schröder waren kleine Nachbarn unbedeutend. Wir von der Union, Angela Merkel und früher auch Helmut Kohl, sagen ganz klar: Es ist deutsche Verantwortung, und die Geschichte verpflichtet uns, die Nachbarn zu respektieren. Wir haben mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa.

SaS: Sie kennen die Schweiz gut. Wie hat sie sich in Ihren Augen verändert?

Wolfgang Schäuble: Noch vor wenigen Jahren hätte man nicht erwarten können, dass die Schweizer Banken selber am stärksten darauf drängen, das Bankgeheimnis abzuschaffen. Und die ewige Formel im Bundesrat ist auch nicht mehr so ewig. Die Schweiz verändert sich vielleicht vorsichtiger und klüger als andere Länder, aber sie wandelt sich auch.

SaS: Hat es Sie überrascht, wie schnell das Bankgeheimnis implodiert ist?

Wolfgang Schäuble: Es begann ja bereits früher, mit der Diskussion um die nachrichtenlosen Konten aus der Nazizeit. Ich erinnere mich an die Gespräche mit den damaligen Bundesräten Arnold Koller, Flavio Cotti und Kaspar Villiger. Auch da waren es die Amerikaner, welche die Schweiz zum Einlenken brachten. Jetzt sind es wieder die Amerikaner, mit dem Fatca-Abkommen, das den Datenaustausch bringt.

SaS: Der US-Druck war viel wirksamer als die Ankäufe gestohlener Bankdaten-CDs durch deutsche Bundesländer.

Wolfgang Schäuble: Ja. Wobei auch die CDs Bewegung hineingebracht haben. Im Frühjahr 2010 wurde ich zum ersten Mal mit einer Ankaufsentscheidung befasst. Ich rief den Schweizer Finanzminister Hans-Rudolf Merz an und sagte ihm: «Ich muss eine schwierige Entscheidung treffen, die für dich unangenehm ist.» Daraufhin beschlossen wir, erst mal den Informationsaustausch gemäss OECD einzuführen – und dann Verhandlungen über ein Steuerabkommen aufzunehmen.

SaS: Wird es nach dem Scheitern des Steuerabkommens einen neuen Anlauf geben?

Wolfgang Schäuble: Nein, ein bilaterales Abkommen steht nach der rot-grünen Blockade im deutschen Bundesrat nicht mehr zur Diskussion. Wir werden das Thema nun in die OECD-Entwicklung einbringen.

SaS: Die Schweizer Regierung stimmt dem automatischen Datenaustausch nur zu, wenn dieser zum globalen Standard wird. Wird es überhaupt je so weit kommen?

Wolfgang Schäuble: Wenn das, was die OECD oder das Global Forum entscheidet, als globaler Standard gesehen wird – dann wird es sehr schnell gehen. Ob dann jede Insel mitmacht, ist unerheblich und darf nicht als Ausrede genommen werden dafür, sich nicht an dem Standard zu beteiligen.

SaS: In knapp zwei Monaten sind Wahlen. Bundeskanzlerin Merkel führt in allen Umfragen mit grossem Vorsprung. Ist sie so gut – oder die Opposition so schlecht?

Wolfgang Schäuble: Frau Merkel ist sehr gut. Und die Regierung unter ihrer Führung hat eine sehr gute Bilanz. Man kann schlecht bestreiten, dass Deutschland gut dasteht, viel besser als vor vier Jahren. Niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Höchster Stand an Arbeitsplätzen. Stabile Staatsfinanzen. Strukturell ausgeglichener Haushalt 2014. Nachhaltiges Wachstum. Für die Opposition ist das natürlich unangenehm.

SaS: Sind die Wahlen schon gewonnen?

Wolfgang Schäuble: Das wäre ein grosses Missverständnis. Wenn wir den Bundeskanzler in direkter Wahl bestimmen würden, dann hätte Frau Merkel sehr gute Chancen. Aber wir haben ein parlamentarisches Regierungssystem. Die Mehrzahl der Umfragen zeigt zurzeit keine Mehrheit für CDU und FDP.

SaS: Dann kommt wohl die grosse Koalition CDU/SPD mit Kanzlerin Merkel.

Wolfgang Schäuble: Wenn es keine Mehrheit für CDU und FDP gibt, dann gibt es eine Mehrheit für die Wahl eines sozialdemokratischen Kanzlers, gestützt auf SPD, Grüne und die Linke. Wenn die SPD diese Chance hat, wird sie sie nutzen. So wie in Nordrhein-Westfalen, wo SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft mit den Stimmen der Linkspartei gewählt wurde.

SaS: Die CDU hält ihre führende Position, während die Christdemokraten in der Schweiz, die CVP, seit langem im Niedergang sind. Warum?

Wolfgang Schäuble: In der Schweiz ist die Lage vielfältig anders. In Deutschland sind die alten konfessionellen Spaltungen in den KZ verloren gegangen; deshalb gab es nach dem Krieg nur eine, konfessionsübergreifende christliche Volkspartei.

SaS: Sie sehen vor allem den historischen Vorteil der Einheit für die CDU?

Wolfgang Schäuble: Dazu kommt in Ihrem Land die Veränderung im Parteiensystem; die SVP wurde sehr stark, die Mitte bunter. Das wirkt sich auf eine Partei aus, die sich als die bürgerliche Partei der Mitte versteht. Aber: Sie haben doch Frau Leuthard in der Regierung, die eine glänzende Rolle spielt. Auch mit Frau Widmer-Schlumpf habe ich eine ausgezeichnete, vertrauensvolle Zusammenarbeit.

SaS: Sie telefonieren offenbar häufig, auch privat.

Wolfgang Schäuble: Wir haben eine gute, vertrauensvolle Beziehung – und haben uns so auch gerade wieder in Moskau beim G-20-Treffen getroffen.

SaS: Wie gefährlich wird für Ihre Regierung die Affäre um die US-Abhöraktionen?

Wolfgang Schäuble: Ich stelle fest, dass es vor allem ein Thema der deutschen Medien ist.

SaS: Verstehen Sie nicht, dass viele Leute besorgt sind?

Wolfgang Schäuble: Ich verstehe nicht, warum nur die Deutschen besorgt sein sollen – und nicht zum Beispiel die Schweizer.

SaS: Vielleicht, weil der Schweizer Nachrichtendienst nicht so eng mit den Amerikanern zusammenarbeitete wie der deutsche BND.

Wolfgang Schäuble: Und Sie glauben, die Kommunikation in der Schweiz über Google, Yahoo und Facebook sei nicht betroffen?

SaS: Wir fragen Sie.

Wolfgang Schäuble: Ich weiss es nicht! Es heisst, der US-Geheimdienst arbeite mit diesen Firmen zusammen. Schicken denn die Schweizer keine E-Mails über Konten dieser Firmen? Im Ernst: Wenn ich meine Finanzministerkollegen fragen, sagen die alle: Bei uns ist das kein grosses Thema.

SaS: Mag sein, aber hätte die deutsche Regierung nicht wissen müssen, in welchem Umfang die Amerikaner Deutsche ausspionieren?

Wolfgang Schäuble: Dass die Amerikaner daran arbeiten, Informationen zu kriegen, die zur Abwehr von Terroranschlägen geeignet sind, das nehme ich mal als allgemein bekannt an. Dass dabei rechtsstaatliche Regeln zu wahren sind, ebenso. Wenn man, wie Deutschland, Truppen in Afghanistan hat, darf aber nicht vergessen werden, dass man durchaus dankbar für solche Informationen ist. Ebenso, wenn Deutsche in Afrika entführt werden.

SaS: Die Überwachung hilft der deutschen Sicherheit?

Wolfgang Schäuble: Ich war Innenminister, als wir das Sauerland-Attentat verhindert haben. Damals erhielten wir die ersten Hinweise von amerikanischen Diensten. Sonst wären wir den Tätern wohl nicht auf die Schliche gekommen und es hätte furchtbare Anschläge geben können.

SaS: Wenige sprechen in diesen Tagen so positiv über die Amerikaner wie Sie.

Wolfgang Schäuble: Sehen Sie, ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen. Auf unserem Abiturienten-Ausflug nach Berlin, da gab es noch keine Mauer. Ich habe die Berlin-Blockade und vieles andere erlebt. Und meistens hatte ich das Gefühl: Gott sei Dank schützen uns die Amerikaner.