Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Gespräch mit dem Neuen Deutschland über Gelungenes und Probleme der deutschen Einheit
ND: Mit dem Abstand von bald 20 Jahren: Was ist an der deutschen Einheit gelungen, was nicht?
Schäuble: Gelungen sind die friedliche Revolution und die Herstellung der Einheit. Im Zusammenwachsen sind wir gut vorangekommen. Freilich waren die Veränderungen, die die Menschen bewältigen mussten, größer als wir es uns vorgestellt haben. Ein solcher Prozess verursacht auch Verwundungen – solange Menschen leben, die die Zeiten der Teilung erlebt haben. Inzwischen haben wir aber viel mehr gemeinsame Probleme als solche zwischen Ost und West.
Wurden auch Fehler gemacht?
Im Kern nicht. Ich kenne keine ernsthafte Betrachtung, wie man es hätte anders machen können.
Es war nicht zwangsläufig, den Osten so zu deindustrialisieren.
Es gab zu dem, was Sie Deindustrialisierung nennen, keine Alternative. Unter Gesichtspunkten der sozialen Marktwirtschaft war der Ausrüstungsstand – von der Infrastruktur bis zu den Maschinenparks – nicht wettbewerbsfähig. Dass die DDR zu Zeiten der Teilung als Nr. 10 der wirtschaftlich stärksten Nationen gezählt wurde, entbehrte jeder Grundlage. Hinzu kam, dass die meisten Menschen in der DDR eine große Präferenz für Produkte aus dem Westen hatten.
Können Sie die Kritik an der Abwicklung der wissenschaftlichen Eliten der DDR nachvollziehen, wie auch daran, dass die Menschen zu schnell und zu schutzlos mit neuem Recht konfrontiert wurden?
Verglichen mit anderen Warschauer Paktstaaten war die Situation in der DDR sehr spezifisch. Mit der Übergangsregelung des Runden Tisches wurden diejenigen einbezogen, gegen die sich die friedliche Revolution gerichtet hat. Das ist weltgeschichtlich eher die Ausnahme. Der Konflikt zwischen denen, die als Täter betrachtet wurden, und jenen, die sich als Opfer fühlten, konnte nur schrittweise aufgelöst werden. Bärbel Bohley hat mal formuliert: »Wir haben Gerechtigkeit erhofft und haben den Rechtsstaat bekommen«. Wie aber sonst hätten wir eine solche Geschichte abarbeiten sollen, wenn nicht unter den rechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes? Ich hatte allerdings die Auffassung vertreten, dass zunächst die Rechtsordnungen in beiden Teilen in Kraft bleiben sollten. Damit bin ich in der Bonner Regierung allein geblieben.
Bedauern Sie dies heute?
Nein, die Kabinettsmehrheit hatte auch beachtliche Argumente gegen meine Position. Befürchtet wurde, dass wir kein Vertrauen bei Investoren bekommen, wenn wir nicht sofort eine einheitliche Rechtsordnung schaffen würden. Auch die Gewerkschaften machten Druck, ganz schnell unsere Tarifautonomie im Osten einzuführen.
Ihr Verhandlungspartner beim Einigungsvertrag war Günther Krause. Aber augenscheinlich dominierten Sie, was herauskam.
Es war deswegen augenscheinlich, weil die Mehrheit der Menschen in der DDR sagten: Wir wollen so leben, wie die Menschen in der Bundesrepublik leben. Ich ärgere mich zuweilen, wenn es heißt, wir hätten der DDR das Grundgesetz übergestülpt. Es war die Entscheidung der Menschen der DDR. Und es war die Volkskammer, die mit Zweidrittelmehrheit den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschloss.
Hat Günther Krause Ihnen etwas abgehandelt?
Er hat mit einer unglaublichen Kenntnis der Probleme agiert. Wir empfanden uns nicht als Gegner, sondern als Partner, die gemeinsam etwas gründen – so wie man gemeinsam einen Verein oder eine Gesellschaft gründet. Der Einigungsvertrag war kein Vertrag, bei dem der Käufer möglichst billig etwas erwerben und der Verkäufer einen hohen Ertrag erzielen will.
Auch bei Gründung einer Gesellschaft haben spätere Mitgesellschafter oft unterschiedliche Vorstellungen. Bei Krause und Ihnen war das nicht der Fall?
Günther Krause hat bei den Regelungen für die Landwirtschaft eine Fülle von Punkten durchgesetzt. Mit den Ländern hatten wir Auseinandersetzungen über die Anerkennung von Bildungsabschlüssen. Und es gab ein heftiges Tauziehen, als wir die Heranführung der neuen Bundesländer an den innerdeutschen Finanzausgleich berieten. Endlos viele Probleme taten sich beim Thema Restitution auf. Krause hat sich in vielen Fragen durchgesetzt. Er war ein gleichberechtigter, kompetenter Partner.
Von Ihnen stammte der Vorschlag, den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu vollziehen und nicht die Idee einer neuen Verfassung nach Artikel 146 aufzunehmen. Sind Sie stolz darauf, der Erfinder des Beitritts zu sein?
Darauf kann ich nicht stolz sein, weil ich den nicht erfunden habe. Der stand im Grundgesetz. Ich habe für den Weg nach Artikel 23 plädiert, weil ich der Überzeugung war, dass das Grundgesetz gut ist – und die Menschen der DDR diese und keine neue Verfassung wollen. Wenn wir uns in jener Zeit mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beschäftigt hätten, wäre das endlos gegangen und wir hätten mit Sicherheit keine bessere hinbekommen als das Grundgesetz. Zudem war eine zentrale Aussage der Allianz für Deutschland der Beitritt nach Artikel 23. Und bekanntlich hat die die Wahl gewonnen. Aber ich bin der Erfinder von etwas anderem und darauf bin ich stolz – nämlich auf das Angebot der Bundesrepublik, die Bedingungen in einem Einigungsvertrag vorab zu regeln, so dass die Volkskammer ihre Entscheidung in Kenntnis dessen trifft.
Inzwischen scheinen mehr Menschen, auch Politiker, der Meinung zu sein, man hätte eine neue Verfassung wagen sollen.
Ich bleibe überzeugt, dass es so richtig war. Auch wenn manche Menschen das Gefühl haben, es sei ihnen etwas übergestülpt worden, muss man doch daran erinnern, dass es die Entscheidung der großen Mehrheit der Bevölkerung der damaligen DDR war. Erst gab es die Abstimmung mit den Füßen, dann die in freien Wahlen. Enttäuscht darüber waren einige, die in der Bürgerbewegung den Protest angeführt haben. Und enttäuscht war die SED. Die ist aber dafür, dass eine Revolution gegen ihre Einparteiendiktatur erfolgreich durchgeführt wurde, glimpflich behandelt worden.
Nach der Einheit wurden viele mit Dingen konfrontiert, die ihnen vorher keiner gesagt hatte, wie die Treuhandanstalt oder das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung.
In unserer damaligen Koalition gab es viele, denen die Regelungen »Rückgabe vor Entschädigung« nicht weit genug im Sinne der Eigentumsgarantie gingen. Deswegen wurde sogar der Einigungsvertrag beim Verfassungsgericht angefochten und ich wurde zehn Jahre lang in ganzseitigen Anzeigen in großen Tageszeitungen von Alteigentümern als jemand angegriffen, der das Eigentum verletzt habe. Es hätte keinen funktionierenden wirtschaftlichen Aufbau gegeben, ohne sich zum Schutz privaten Eigentums zu bekennen. Das gehört zur sozialen Marktwirtschaft.
Einige DDR-Bürger haben sich das Leben genommen, weil sie das Häuschen verloren, das Jahrzehnte ihr Zuhause war und in das sie unendlich viel investiert hatten.
Wenn eine solche historische Transformation im umfassenden Sinne mit den Mitteln des Rechtsstaates und perfektionistischem Anspruch bewältigt werden soll, gibt es eine Fülle von Einzelfällen, bei denen man in aller Bescheidenheit sagen muss: Ja, das ist wahr, es kann nicht in jedem Fall hundertprozentige Gerechtigkeit geben. Ich hatte umgekehrt den Fall von Alteigentümern, die Opfer des Nazi-Regimes nach dem 20. Juli waren und nichts zurückbekamen. Sie erhielten nach dem Ende der Nazidiktatur ihr Eigentum zurück, wurden durch die sowjetische Besatzungsmacht ein zweites Mal enteignet und ihre Nachkommen erhielten jetzt wegen der Ausnahmen zur Bodenreform nichts zurück. Die Bodenreform war eines der am meisten vergifteten Themen, in den neuen Ländern wie in den alten.
Kritik gab es auch im Westen. Günter Grass sprach von »Kolonialisierung«, Henning Voscherau nannte den Aufbau Ost »das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat«, Egon Bahr konstatierte zur Treuhand, er kenne »kein Volk, das so enteignet worden ist«. Das ficht Sie nicht an?
Herr Grass beeindruckt mich am wenigsten. Er war erklärtermaßen gegen die Einheit. Trotzdem weiß ich, dass die Art des Nichtverstehens zwischen West- und Ostdeutschen zu Verletzungen führt. Die Menschen in den neuen Ländern haben viele Veränderungen aushalten und bewältigen müssen. Es gibt keinen Grund zur Überheblichkeit. Ich bin ein protestantischer Mensch und sage, wer unter euch ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein. Das wäre eine bessere Haltung, um 20 Jahre nach der Einheit miteinander umzugehen.
Gab es vor dem Herbst 1989 im Kanzleramt Kalkulationen, wie lange die DDR noch durchhält?
Meine Einschätzung war, dass die DDR nicht aus wirtschaftlichen Gründen zusammenbrechen würde. Klar war auch, dass die DDR ohne die Mauer nicht existenzfähig war. Moskau war der entscheidende Punkt. Das war die Lehre des 17. Juni 1953. Dann kam 1985 die Phase von Gorbatschow, der Hoffnungen auch auf eine Einheit der Nation auslöste. Dennoch hat man in Westdeutschland nicht so schnell geglaubt, dass Gorbatschow Ernst machen würde. Als im April 1989 ein neuer amerikanischer Botschafter nach Bonn kam, sagte er, in seiner Amtszeit in Deutschland komme die Wiedervereinigung. Ich fragte ihn skeptisch, wie lange seine Amtszeit denn dauern könne. Er antwortete: drei Jahre. Ich hatte inzwischen zwar meine Meinung revidiert, die Überwindung der Teilung kaum noch miterleben zu können. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hielt ich das nun für möglich – aber nicht in drei Jahren. Es dauerte nicht mal mehr 18 Monate.
Das innerdeutsche Ministerium war eine teure, aber lediglich symbolische Einrichtung?
Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen über die Sinnhaftigkeit des innerdeutschen Ministeriums zu streiten. Das war nämlich das Ministerium, das aufgrund von Analysen dieses Gerede von der zehntstärksten Industriemacht DDR immer in Frage gestellt und zudem sehr vielen Menschen im Wege der Familienzusammenführung oder des Häftlingsfreikaufs zu einem menschenwürdigen Leben verholfen hat.
Sie gehörten zu jenen, die dafür plädierten, die Stasi-Akten einzustampfen. Warum kam es anders?
Ich hatte dazu – genau wie Helmut Kohl – geraten, damit die Streitigkeiten der Vergangenheit nicht zu sehr den Wiederaufbau der neuen Länder belasten. Wir sprachen gelegentlich darüber, dass wir eine Persönlichkeit wie Nelson Mandela bräuchten, die die moralische Autorität zur Befriedung hätte. Die Menschen in der DDR wollten aber in ihrer Mehrheit die Stasiakten aufarbeiten. Das hatten wir zu akzeptieren. Wir haben den Einigungsvertrag im Zuge der Ratifizierung auf Wunsch der Volkskammer deswegen geändert. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir die demokratische Entscheidung in der DDR respektiert und nichts übergestülpt haben.
Im Wunsch der Volkskammer war der Name Schalck-Golodkowski nicht enthalten?
Darüber müssen Sie mit damaligen Abgeordneten der Volkskammer diskutieren, ich war nie deren Mitglied. Aber der Fall ist rechtlich aufgearbeitet worden. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat viele Verfahren gegen Schalck-Golodkowski betrieben, zwei Legislaturperioden lang gab es Untersuchungsausschüsse im Bundestag.
These: Mit Kadern des Nazi-Regimes verfuhr die frühe Bundesrepublik gnädiger als mit Funktionären der DDR, die keinen Krieg und Massenmord zu verantworten haben. Ihre Antwort?
Die These ist so vereinfachend, dass sie in sich auch wieder falsch ist. Einen Vergleich zwischen dem Nazi-Regime und der DDR möchte ich nicht machen…
Den behaupten wir nicht. Es geht um die Frage, warum die politische Klasse der Bundesrepublik so wenig Scheu nach rechts hatte – sogar ein früheres NSDAP-Mitglied wie Kiesinger Bundeskanzler werden konnte – und so anhaltend große Scheu nach links.
Kurt Georg Kiesinger war kein überzeugter Nazi und war mit den Verbrechen des Nazi-Regimes nicht belastet …
Er war 27, als er 1933 in die NSDAP eintrat, blieb bis 1945 Mitglied und hatte eine leitende Funktion im Reichsaußenministerium.
Aber niemand kann bestreiten, dass er Demokrat war, als er 1958 Ministerpräsident von Baden-Württemberg und 1966 Bundeskanzler wurde. Ich will auf den Kern zurück: Staatliche Autorität hatten wir in der Bundesrepublik erst vier Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur. Die Bundesrepublik hatte 1949 kein Westdeutschland, so wie 1990 die DDR. Die PDS konnte gleichberechtigt an der Wahl zur Volkskammer und später zum Bundestag teilnehmen, und die frühere Mitgliedschaft in der SED ist kein Hindernis, in unserem Land nach Ämtern zu streben. Grundsätzlich sage ich: In einer Diktatur macht jeder Fehler und Dinge, die nicht in Ordnung sind. Man muss die Kraft haben, Vergangenheit zu überwinden und Gräben zuzuschütten.
Könnten Sie also einen Bundeskanzler akzeptieren, der Mitglied in der SED war?
Ach, ich habe doch schon Mühe, einen Bundeskanzler zu akzeptieren, der in der SPD ist.
Fragen: Gabriele Oertel und Jürgen Reents