Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Sozialpolitischen Aschermittwoch der Kirchen in Essen
I.
Eine Erzählung von Leo Tolstoi handelt von einem äußerst grausamen Gutsbesitzer, der seine Bauern bis aufs Blut ausbeutet und auf ihre menschlichen Bedürfnisse keinerlei Rücksicht nimmt. Dabei geht er so weit ? und das ist im Rahmen der Erzählung der Gipfel seiner Boshaftigkeit ?, dass er von ihnen verlangt, am Ostermontag zu arbeiten. Arbeiten an einem Feiertag: Das ist die schlimmste von allen seinen Untaten. Die Empörung der betroffenen Bauern, aber sichtlich auch die des Autors kennt keine Grenzen.
Warum diese Empörung? Ein Grund dafür ist, dass der Gutsbesitzer den Bauern keine Erholung von ihrer anstrengenden Arbeit zugesteht. Und er missbraucht einen religiös besonders geschützten Tag für profane Alltagsgeschäfte. Der Schutz von Ruhezeiten und von Feiertagen ist für uns historisch eng mit der religiösen Tradition des Christentums und ? so muss man hinzufügen ? des Judentums verbunden. Wir kennen es heute gar nicht anders, als dass es neben Werktagen auch Tage der Arbeitsruhe gibt. Doch so selbstverständlich ist das nicht ? in der Antike etwa war die jüdische Sabbatheiligung so unverständlich, dass sie den Juden für Faulheit ausgelegt wurde. Später hat dann das christliche Europa im Mittelalter durch eine Vielzahl kirchlicher Feiertage und eine stark ausgeprägte religiöse Sonntagskultur einen ständigen Wechsel von Zeiten der Arbeit und Zeiten der Ruhe und Besinnung erlebt ? die offizielle Zahl der Feiertage belief sich in einzelnen Diözesen auf mehr als 100.
In Tolstois Erzählung handelt der Gutsbesitzer in einem sehr fundamentalen Sinne unmenschlich. Die Frage, was den Menschen zum Menschen macht, ist so alt wie die Menschheit selbst. Mir scheint, dass die Sonn- und Feiertagskultur dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: Aus dem Tierreich ist mir kein vergleichbares Phänomen bekannt. Was uns Menschen besonders macht, ist, dass wir Wesen sind, deren Leben sich in der praktischen Daseinsvorsorge nicht erschöpft. Die Sonn- und Feiertagen dienen uns als herausgehobene Zeiten, in denen wir den vielfältigen Pflichten des Alltags entkommen können und ein höheres Maß an Freiheit erleben.
II.
Nach allem, was wir wissen, war das Leben im Mittelalter für einen Großteil der Bevölkerung hart und entbehrungsreich. Es gab andererseits aber auch natürliche und kulturelle Grenzen, die Übertreibungen und dem Übermaß Einhalt geboten. Und so gab es auch eine natürliche Begrenzung der Arbeitszeit. Mit Sonnenuntergang legte der arbeitende Teil der Bevölkerung die Gerätschaften in der Regel aus der Hand. Nach der Erfindung künstlicher Lichtquellen wie der Glühbirne ist das anders geworden. Nun konnte man theoretisch rund um die Uhr arbeiten. Teure Maschinen konnten später dann auch praktisch 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche ununterbrochen produzieren. Und so kam es, dass viele Fabrikinhaber im 19. Jahrhundert und darüber hinaus auch sonntags arbeiten ließen, um ihre Maschinen möglichst effektiv zu nutzen. Um konkurrenzfähig zu bleiben, übernahmen damals auch die Handwerker nach und nach die langen Arbeitszeiten bis hin zur Sonntagsarbeit.
Damit stellt sich die Frage nach der Begrenzung der Arbeitzeit mit einer neuen Dringlichkeit, die sie bis heute nicht verloren hat. Wie immer beim technischen Fortschritt ist sie verbunden mit der Frage der Übertreibung. Das wissen wir lange, dass durch Übertreibung alles auch immer der Gefahr der Selbstzerstörung ausgesetzt ist, dass Übermaß und Gift fast synonym gesetzt werden können.
Hannah Arendt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Begrenzung der Arbeitszeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich nur dadurch so beeindruckend ausnimmt, dass wir sie am 19. Jahrhundert messen. Die Gefahr der Übertreibung besteht aber fort:
?Wenn wir in unseren Betrachtungen darüber, wie herrlich weit wir es gebracht haben, etwas längere Zeiträume zugrunde legen, so kommen wir zu der überraschenden Feststellung, dass wir es bisher, was die Gesamtsumme der auf jeden entfallenden Freizeit anlangt, noch nicht sehr viel weiter gebracht haben, als uns wieder einem halbwegs normalen und erträglichen Maß zu nähern.?[1]
III.
Was das Mittelalter noch nicht kannte, Hannah Arendt und uns aber heute sehr geläufig ist, ist die Entgegensetzung von Arbeit und Freizeit. Wir neigen dazu, beide Bereiche voneinander zu trennen ? ein wenig nach dem Motto ?Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps?. Im Mittelalter dagegen vermischten sich diese Sphären noch stärker. Man traf sich, setzte sich ans Spinnrad und zugleich widmete man sich der Geselligkeit und erzählte sich Geschichten. Freizeit in unserem heutigen Sinne kannte man nicht. Eher war es Ruhe, Erholung vor allem von körperlicher Anstrengung, die heute so nicht mehr unsere Arbeitswelt prägt. Und dann gab es Anlass und Zeiten für Geselligkeit und Feiern. Im Übrigen gilt für uns heute, dass wir Anstrengungen weniger denn je einem der beiden Bereiche Arbeit und Freizeit eindeutig zuordnen können. Bei manchen Leuten hat man sogar gelegentlich den Eindruck, dass die Freizeit so wichtig und auch anstrengend ist, dass die Arbeit ihnen eher zur lästigen Pflicht wird.
Ob nun Anstrengung und Erholung oder Arbeit und Freizeit ? der Wechsel gehört jedenfalls notwendig zu menschlichem Leben, und das gilt nicht nur für das Leben des Einzelnen, sondern auch für Formen der Gemeinschaft wie Familie, Freundeskreis, auch die Gesellschaft als Ganzes.
Sonn- und Feiertage schaffen einen Freiraum, in dem der Einzelne und die Gemeinschaft Bedürfnisse stillen können, die im Alltag häufig zu kurz kommen. Eine Diskussion um den Sonntag sollte diesen Bedürfnissen gerecht werden, ohne den Werktag und die Bedeutung der Arbeit für unser Leben auszublenden.
In Deutschland scheinen mir vor allem zwei Denktraditionen bestimmend für einen positiven Begriff von Arbeit zu sein. Das ist zum einen der Protestantismus, der Arbeit mit einer ethischen Note versehen hat. Arbeit gilt dem pflichtbewussten Protestanten nicht als Mühsal, sondern als eine sinnvolle, von Gott gestellte Aufgabe. Wer gute Arbeit verrichtet, handelt auch gottgefällig. Zum anderen ist das der deutsche Idealismus. Fichte und Hegel verstanden den Menschen als ein Wesen, das über Arbeit ? verstanden als geistige Tätigkeit ? ein Bewusstsein seiner selbst entwickelt und zu sich kommt. Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein haben also vielfältige Bezüge zu Arbeit und Arbeitsplatz.
Gewiss fällt es vielen Menschen schwer, ein so positives Verständnis von Arbeit zu entwickeln. Das hat mit der Fremdbestimmung insbesondere bei unselbständiger Erwerbstätigkeit zu tun, auch mit Hektik, Druck am Arbeitsplatz, Erschöpfung, und was immer sonst. Und umgekehrt sorgen Menschen sich um den Verlust ihres Arbeitsplatzes, nicht nur weil sie materielle Einbußen befürchten, sondern weil Arbeitslosigkeit auch vielfältig mit Frustration und Ausgrenzung verbunden ist.
IV.
Das ist eine der Herausforderungen, vor denen wir heute bei der Diskussion um Sonn- und Feiertage stehen. Andere kommen noch hinzu. Die gegenwärtige Entwicklung schafft besondere Bedingungen, die meistens unter dem Stichwort der Globalisierung zusammengefasst werden. Der Begriff ist geläufig, dennoch lohnt es sich, an ein paar Merkmale zu erinnern, die uns aktuell stark beschäftigen. Das sind im Wesentlichen Intensivierung und Beschleunigung von Entwicklungen, die es schon seit längerer Zeit gibt. Auch die Globalisierung ist ja nicht von heute auf morgen einfach so über uns gekommen.
Diese Intensivierung und Beschleunigung entsteht zum Teil dadurch, dass mehrere Entwicklungen ineinander greifen, aufeinander zurückwirken und durch solche Wechselwirkungen sich gegenseitig verstärken. Hinzu kommt, dass die größere Mobilität und insgesamt weitgehend liberalisierte Weltmärkte zu einer engen wirtschaftlichen Verflechtung der Länder geführt haben, so dass politische, ökonomische und soziale Entwicklungen an irgendeiner Stelle der Erde unmittelbare Folgen für unsere eigene Wirtschaft und für unsere Gesellschaft haben.
Damit steigt natürlich auch der Wettbewerbsdruck, unter dem die Unternehmen hierzulande stehen. Der Wettbewerb um Standorte und um Arbeitsplätze wird nicht mehr nur zwischen verschiedenen deutschen oder europäischen Regionen geführt, sondern weltweit. Das bringt einem Land wie Deutschland, das stark international eingebunden ist, viele handfeste Vorteile. Aber es bringt auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Was mit der Verlängerung der Tageszeit durch künstliche Beleuchtung begann, setzt sich heute mit der weltumspannenden Vernetzung und dem 24-Stunden-Betrieb rund um den Erdball fort.
Globalisierung bedeutet also mehr Wandel. Auch wenn die Zeit objektiv nicht schneller verläuft, die subjektive Wahrnehmung ist eine andere, und die ist eben ganz entscheidend. Je erfüllter Tag oder Jahr, desto schneller sind sie vergangen. Weil sich mehr verändert und wir uns schneller an neue Verhältnisse gewöhnen müssen, zerrinnt uns die gefühlte Zeit zwischen den Händen. Und so baut sich noch größerer Druck auf, die vorhandene Zeit effizient zu nutzen, was am Ende zum circulus vitiosus wird. Auch muss der Einzelne in der gleichen Zeit mehr Informationen verarbeiten als früher ? bei stetig fallender Halbwertszeit von Wissen. Und Wirtschaft und Gesellschaft stellen uns immer mehr Angebote und neue Versuchungen bereit, die die Menschen bereitwillig wahrnehmen, ohne noch ausreichend zur Ruhe zu kommen.
Unter diesen Umständen verliert das Leben an Kontinuität, die Identität wird brüchiger, die Vergangenheit gerät leichter aus dem Blick. Der Wechsel wird fester Bestandteil der Biografie. Ein Zeitforscher hat die Folgen einmal so beschrieben:?Man ist nicht Bäcker, sondern man arbeitet (seit zwei Jahren) als Bäcker, man ist nicht Ehemann von Y, sondern lebt mit Y zusammen, man ist nicht Münchner und Konservativer, sondern wohnt (für die nächsten Jahre) in München und wählt konservativ.?[2]
Natürlich wissen wir alle auch schon von unseren Großeltern und erleben es zunehmend selbst, dass Zeit auch schneller zu verfliegen scheint, je älter wir sind. Das hat dann wohl mit der näheren Erfahrung von Endlichkeit zu tun. Zusätzlich wird man durch Erfahrung gegenüber Veränderungen eher skeptisch, je älter man wird, was nicht nur einfach mit Langsamkeit im Denken verwechselt werden darf, weil man schließlich zu viele Erfahrungen mit vorschnellen Veränderungen gemacht hat und deshalb versucht, weiser abzuwägen. Aber das führt im Ergebnis auch nur dazu, dass man doppelten Grund hat, alles noch zusätzlich hektischer zu empfinden.
In der globalisierten Welt nehmen also die Belastungen durch den weltweiten Wettbewerb und den ständigen Wandel zu. Moderne Identitäten werden komplexer und brüchiger. Die Menschen haben sich über die Jahrhunderte als sehr anpassungsfähig erwiesen, aber die heutigen Veränderungen sind dramatisch. Ein großes Maß an Flexibilität ist gefordert, und umgekehrt werden Zeiten der Nicht-Belastung umso wichtiger. Sie dienen der Muße, der Erholung oder der Besinnung, sie verschaffen uns eine Auszeit vom Druck der Globalisierung und sie lassen Freiraum für Gemeinschaft, Kreativität und Spontaneität.
V.
Also müssen wir über die Frage nachdenken, welche Rolle besondere Tage, welche Rolle insbesondere der Sonntag in unserer durch die Globalisierung geprägten Welt spielen kann und spielen sollte. In vielerlei Hinsicht ist das eine ganz elementare Frage. Gerade wenn man der Ansicht ist, dass die Globalisierung eine nicht aufzuhaltende Entwicklung ist, kann man als Politiker nicht an der Gefahr vorbeisehen, dass Menschen sich von einer solchen Änderungsdynamik nicht mehr mitgenommen fühlen. Das kann dann für eine Gesellschaft wie die unsere schnell zu einem Problem werden.
Wie also werden wir mit den Herausforderungen der Globalisierung fertig? Man könnte in der Formulierung des Themas ?Entschleunigung in der Globalisierung? auch eine Ironie sehen, weil ja die Prägung neuer Begriffe ? wozu auch das Wort ?Entschleunigung? gehört ? ihrerseits Ausdruck beschleunigter Veränderung ist, die selbst unsere Sprachentwicklung mit ergriffen hat. Sind wir also im Hamsterrad gefangen? Einsicht ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Poppers Lehre von trial and error beruht darauf wohl auch.
Die Diskussion über die Rolle des Sonntags im modernen Leben hat im Übrigen auch schon eine gewisse Geschichte hinter sich. Die Wahrnehmung einer zunehmenden Beschleunigung und Kurzatmigkeit gibt es nicht erst seit der Erfindung des Internets. Und natürlich ist zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Einführung von Fabrikarbeit rund um die Uhr erbittert um Sonntagsarbeit und die Bedeutung der Feiertagsheiligung nach dem dritten Gebot gestritten worden.
Als evangelischer Christ vor einem ökumenischen Forum muss ich übrigens an dieser Stelle hinzufügen, dass die Haltung der ja traditionell immer eher staatstragenden evangelischen Kirche damals von der Auffassung geprägt war, solche Fragen lägen außerhalb des religiösen Bereichs und würden auf politischer und ökonomischer Ebene entschieden. Mahnungen für den Schutz des Sonntags sind im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts auf sozial denkende Minderheiten beschränkt.
Für den Einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaft sind Sonn- und Feiertage besondere Zeitfenster, in denen von außen kein Handlungsdruck aufgebaut wird. Enzensberger hat vor einigen Jahren einen schönen Essay über Luxus geschrieben.[3] Luxuriös lebt für ihn, wer über seine Zeit frei verfügen kann und selbst entscheidet, wem oder was er seine Aufmerksamkeit widmet. Dazu gehört auch, dass man nicht ständig erreichbar sein muss. Ich glaube, wir sollten danach trachten, uns regelmäßig solche Zeitfenster zu schaffen, auch wenn ich mich frage, ob es richtig ist, das als Luxus zu begreifen oder nicht vielmehr als schlichte Notwendigkeit.
Aber weil Menschen schwach sind, brauchen sie Stützen, institutionelle Vorkehrungen. Und so können Urlaubstage und eben vor allem auch Sonn- und Feiertage und helfen, solche Zeitfenster zu schaffen. Ich will hier im Wesentlichen vier Thesen vertreten.
VI.
Erstens meine ich, dass Sonn- und Feiertage herausgehobene Zeiten der Gemeinschaft sind. Es geht hier nicht nur um den legitimen Anspruch, irgendwann frei zu haben, sondern um gemeinsame Freizeit. Was sie von der gewöhnlichen Freizeit nach getaner Arbeit unterscheidet, ist, dass diese Tage eine besondere, kulturell definierte Bedeutung für die Gemeinschaft haben. Sie sind Zeitfenster, in denen die Gemeinschaft ? sei es die Kirche, die Nation oder die Familie ? stärkere Integrationsangebote als sonst macht.
An Sonn- und Feiertagen sollen Eltern Zeit mit ihren Kindern, Großeltern mit ihren Enkeln verbringen. Freundschaften müssen gepflegt werden. Es muss Zeit für Sport und für viele andere Freizeitaktivitäten sein. Auch an die gemeinsame Religionsausübung muss insoweit gedacht werden. Noch immer ist es übrigens eine Tatsache, dass an Wochenenden mehr Menschen Gottesdienste besuchen als Fußballspiele.
Die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben hier etwas in die Gesellschaft einzubringen, was ihnen niemand abnehmen kann. Auch und gerade der Staat nicht. Wir haben im Grundgesetz den Schutz des Sonntags verankert (Art. 139 WRV inkorporiert in Art. 140 GG). Doch der Staat kann den dort ausgesprochenen Zweck der ?seelischen Erhebung? weder verordnen noch durchsetzen. Da ist der Staat vielmehr auf das angewiesen, was seine Bürger aus eigenem Engagement, gerade auch religiös motiviertem Engagement, tun, und mir scheint, diese Aufgabe sollte den Mittelpunkt kirchlichen Nachdenkens über die Bedeutung der Feiertage bilden.
Eine solche Pflege des Gemeinsamen ist in der Globalisierung von großer Wichtigkeit. Ich halte es für einen schweren Irrtum zu glauben, die weltweite Verknüpfung von Menschen und Institutionen mache die Bewahrung von lokalen Bezügen überflüssig. Gerade angesichts der beschleunigten Lebensverhältnisse brauchen wir Orientierung und Bindung, also auch Traditionen und Institutionen, die diese Traditionen lebendig halten. Ohne Herkunft keine Zukunft. Traditionen vermitteln uns Halt, Wertorientierungen und Zugehörigkeit. Wenn es uns nicht gelingt, die Öffnung gegenüber der Welt mit der Besinnung auf das Eigene, auf Traditionen, auf das Herkommen zu verbinden, wird uns beides nicht gelingen.
Traditions- und Wertorientierung kann aber nur in der konkreten Gemeinschaft eingeübt werden, und dafür braucht es gemeinsame Zeit. Wenn diese Zeit nicht mehr da sein sollte, werden wir zwangsläufig auch an Zusammenhalt verlieren. Der Staat ist Nutznießer lebendiger Traditionen, weil sie ein Gemeinwesen stabilisieren. Er kann aber nicht viel machen, um sie lebendig zu halten. Er kann lediglich den Rahmen dafür setzen, dass Familien, Vereine, Kirchen und andere Institutionen, die Stützen der Überlieferung sind, gute Bedingungen haben. Und das muss er auch machen.
Die Betonung gemeinsamer Freizeit als Antwort auf die Beschleunigung der Globalisierung beruht also auf der grundsätzlichen Einsicht, dass Globalisierung und die Bewahrung und Pflege lokaler Bindungen und Traditionen Hand in Hand gehen müssen. Gerade angesichts der Erweiterung der Horizonte, die die Globalisierung mit sich bringt, dürfen wir unser Eigenes nicht vergessen. Sonst haben wir am Ende nichts einzubringen, was für die anderen interessant sein könnte. Auf dieser Einsicht beruht auch das bei uns verfassungsmäßig verankerte Subsidiaritätsprinzip: nur die Dinge müssen zentral geregelt werden, die sich überhaupt nicht vor Ort klären lassen.
VII.
Wenn Menschen Zeit miteinander verbringen wollen, ist in unserer so hektischen und flexiblen Zeit oft ein nicht unerheblicher Abstimmungsaufwand notwendig. Deshalb sind festgelegte Tage wichtig, an denen alle Zeit haben. Ebenso wichtig sind aber auch gemeinsame Rituale. Das ist meine zweite These. Rituale wie der Sonntagsspaziergang in der Familie oder eben auch der Gottesdienst in der Kirche entlasten eine Gemeinschaft von der komplizierten Aufgabe, sich bei jeder Zusammenkunft wieder neu auf ein Vorgehen zu einigen, womit ich gewiss Spaziergang und Gottesdienst nicht auf einer Ebene verstanden wissen will. Sie bilden einen allseits bekannten, stabilen Rahmen, in dem sich eine Gruppe von Menschen austauschen kann. Deswegen sind Sonn- und Feiertage als Zeiten der Gemeinschaft auch Zeiten der gemeinsamen Rituale. Während Traditionen Werte, Orientierung und auch ein Wissen um die gemeinsame Herkunft beinhalten, verstehe ich Rituale eher als ein Bündel von Regeln, das uns hilft, das Gemeinschaftsleben in ordentliche Bahnen zu lenken und seine wichtigen Kerninhalte zu artikulieren.
Der Mensch ist in seiner Doppelnatur zur Freiheit berufen und zugleich in der Sünde verhaftet. Er braucht Traditionen und Rituale als Maß und Mitte seines Handelns. Denn sie geben ihm Regeln an die Hand, die in der Globalisierung mit ihrer Beschleunigung der Lebensverhältnisse wichtiger sind denn je. Übermaß und Übertreibung sind für die Menschen nicht gut.
VIII.
Meine dritte These lautet: Die gemeinsame Religion schafft besonders tiefe und dauerhafte Verbindungen zwischen Menschen. Das hängt damit zusammen, dass es um Werte, im Sinne des Soziologen Otto Hondrich auch um ?geteilte Gefühle? geht, die in besonderem Maße mit Identität zusammenhängen und Identität stiften. Für die Pflege und Erfahrung von Gemeinschaft vor Ort kommt den Kirchen jetzt und in Zukunft eine große Rolle zu. Das ist einer der Gründe, der Religion auch aus der Sicht des weltanschaulich neutralen Staates in einer Zeit wichtig macht, in der Menschen sich zunehmend Entscheidungen und Prozessen unterworfen finden, die weit entfernt von ihnen statt finden.
Als Politiker ist mir sehr bewusst, wie stark das Funktionieren der Demokratie davon abhängt, dass es Quellen der Identität und des Engagements gibt, die nicht selbst vom Staat hervorgebracht werden können. Das ist der Sinn des viel zitierten Satzes von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst schaffen kann.
Natürlich verbindet Religion nicht nur, sondern trennt auch. Die Identität, die durch sie gebildet wird, grenzt Menschen auch gegenüber anderen Menschen ab. Wir haben davon in unserer Geschichte hinreichend viel erlebt, und wenn ich heute vor einem ökumenischen Forum spreche, sollten wir nicht vergessen, zu welchen Auswüchsen der konfessionelle Gegensatz in Deutschland in der Vergangenheit geführt hat. Die Entstehung eines säkularisierten Staates hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die religiösen Gegensätze unüberbrückbar schienen und das Funktionieren politischer Ordnung fast unmöglich machten. Wenn man von Religion und ihrer Bedeutung heute, im globalen Kontext spricht, dann haben wir ein ganz ähnliches Problem. Nur dass es weniger um das Verhältnis der Konfessionen geht als vielmehr um das Miteinander der Religionen.
Das gilt auch für Deutschland, und ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich sagen, dass die zukünftige Rolle der Religion insgesamt in Deutschland, die aus meiner Sicht sehr wichtig ist, erheblich davon abhängt, dass es uns gelingt, mit der realen Pluralität der religiösen Landschaft, also mit dem Neben- und Miteinander zahlreicher, verschiedener Religionsgemeinschaften, angemessen umzugehen. Wir sagen noch zu oft Religion, wenn wir in Wirklichkeit nur an die Kirchen denken. Das ist aber nicht länger richtig. Das Bundesinnenministerium hat mit der Institutionalisierung der Deutschen Islam Konferenz einen Weg eingeschlagen hin zu einer Integration des Islam in unser Gesellschaftssystem. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Gelingen dieses Prozesses im gemeinsamen Interesse aller derjenigen ist, denen an der zukünftigen Rolle der Religionen in unserer Gesellschaft liegt.
Wir müssen uns also daran gewöhnen, dass Religion in Deutschland nicht mehr länger nur die beiden großen Kirchen meint. Jedoch will ich gleichzeitig auch deutlich sagen, dass das nicht bedeutet, dass wir alles über einen Kamm scheren wollen. Immer noch gehört eine Mehrheit der Deutschen zu einer der beiden großen Kirchen; in vielen Gegenden machen sie die übergroße Mehrheit der Bevölkerung aus. Hinzu kommt die besondere Bedeutung die das Christentum für unsere gemeinsame Geschichte und Kultur hat: Eine Kölner Moschee und der Kölner Dom mögen als Gotteshaus für den Moslem und für einen Katholiken eine ähnliche Bedeutung haben. Unbestreitbar ist jedoch, dass der Kölner Dom außerdem auch eine einmalige historische und architektonische Signifikanz für alle Deutschen hat.
Und das ist nur symbolischer Ausdruck der Tatsache, dass unsere Kultur und Gesellschaft, unsere Art zu leben, unsere Werte entscheidend durch das christlich-jüdische Erbe geprägt sind, und deshalb wird das Christentum auch in Zukunft einen zentralen Platz in Bildung und Kultur einnehmen, ganz unabhängig von der Pluralisierung der religiösen Landschaft.
IX.
Ich komme zu meiner vierten These. Wenn ich sage, dass für die Bewahrung und Pflege von gemeinschaftlicher Identität und von Werten die Kirchen und überhaupt die Religion von großer Bedeutung sind, weil sie hier eine Aufgabe wahrnehmen, dann heißt das aber auch, dass sie bereit sein müssen, sich wirklich mit ihren eigenen Kompetenzen und Stärken in die Diskussion einzubringen. Sie dürfen ihr Heil nicht in erster Linie von staatlicher Unterstützung erwarten. Ich denke, das ist eine Gefahr, der wir in Deutschland ohnehin gern erliegen, nämlich der Glaube daran, dass der Staat im Zweifelsfall jedes Problem richten wird.
Verstehen sie mich nicht falsch: der Schutz des Sonntags hat bei uns Verfassungsrang, und dabei wird es auch bleiben. Und angesichts dessen steht es einer Kirche natürlich frei, das Verfassungsgericht anzurufen, wenn sie meint, dass eine Verletzung vorliegt. Entscheidend ist jedoch etwas anderes. Das Grundgesetz schützt den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Wir können die dahinter stehende Erwartung in die heutige Welt übersetzen, indem wir an die Notwendigkeit gemeinschaftlich verbrachter Freizeit angesichts der Beschleunigung durch die Globalisierung denken. Jedoch: das, worum es dabei geht und was das Grundgesetz ?seelische Erhebung? nennt, das kann der Staat nicht anordnen. Das ist eben der Beitrag der Zivilgesellschaft und damit insoweit vor allem der Kirchen. Anders gesagt: Wenn nicht die Menschen selbst den Wert gemeinsamer Zeit sehen, wenn es den Kirchen nicht gelingt, die Bedeutung solcher Erlebnisse zu vermitteln, dann wird der gesetzliche Schutz für Ruhezeiten schnell zu einer leeren Hülle.
Bei der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 haben die Länder deutschlandweit ? mit Ausnahme Sachsens ? den Buß- und Bettag als gesetzlichen Feiertag abgeschafft. Das war nötig, um die Arbeitgeber zu entlasten, für die die Pflegeversicherung mit erheblichen Mehrkosten verbunden war. Im folgenden Jahr haben nun aber sogar mehr Menschen den Gottesdienst an Buß- und Bettag besucht als im Vorjahr. Nur in Sachsen, dem einzigen Land, in dem der gesetzliche Schutz fortbestand, kamen weniger Menschen in die Kirchen.
Nach dem EU-Beitritt Polens gab es große Sorgen unter den Einzelhändlern in Berlin und Brandenburg wegen der unbegrenzten Einkaufszeiten in unserem Nachbarland. Bei einem Gespräch sagte ein deutscher Vertreter des Einzelhandels zu seinem polnischen Kollegen: Ihr seid doch alle katholisch, da könnt ihr nicht die Geschäfte am Sonntag offen haben. Doch, sagte der, denn wir haben eine Frühmesse um 8 Uhr, dahin gehen die, die später arbeiten müssen. Es wäre gut, wenn es den Kirchen gelänge, eine solche Wertschätzung gottesdienstlicher Gemeinschaft unter den bei uns herrschenden Bedingungen zu erreichen.
Das heißt konkret, dass die Kirchen, wenn es um das Gegengewicht zur Beschleunigung durch Globalisierung geht, die Angebote in die Wagschale legen sollten, durch welche die Menschen vor Ort tatsächlich Gemeinschaft, Verwurzelung, Traditionalität erleben können ? solche Lebenswerte, die im Tempo der globalisierten Welt unterzugehen drohen und doch für unseren Erfolg im 21. Jahrhundert mitentscheidend sein werden.
X.
Wie gehen wir nun in unserer Gesellschaft mit der Notwendigkeit von gemeinsamer Freizeit angesichts der Globalisierung um? Es ist auch hier wichtig, mit Augenmaß vorzugehen. Es hat keinen Zweck, die Wirklichkeit auszublenden. Bischof Huber hat kürzlich in anderem Zusammenhang von der Realität als dem Härtetest gesprochen.
Worauf es also ankommt, ist, dass wir bei all dem Gesagten nicht aus den Augen verlieren, unter welchen Bedingungen und Herausforderungen Entscheidungen heute getroffen werden. Unternehmen und Regionen stehen unter dem Druck des globalen Wettbewerbs, und Deutschland kann nicht in einer Nische der Globalisierung existieren. Gleichzeitig lässt sich nicht übersehen, dass unsere Gesellschaft vielfältiger geworden ist. Das gilt sowohl für die religiöse Landschaft als auch für Lebensformen. Die Kleinfamilie mit berufstätigem Vater ist längst nicht mehr in dem Maße dominierend, wie sie es lange Zeit war.
Das Interesse, aber auch die Bedürfnisse zur Organisation der eigenen Zeit sind vielfältiger geworden, und eine demokratisch gewählte Regierung hat das zu beachten. Jeder, der sagt, es gebe hier einfache Lösungen, macht sich etwas vor. Vielmehr kommt es darauf an, möglichst tragfähige Kompromisse zu erreichen, wobei durchaus lokale und regionale Unterschiede wichtig sein können. Ich denke, die Föderalismusreform hat insoweit eine richtige Entscheidung getroffen. Der verfassungsrechtliche Schutz des Sonntags ? das sagte ich schon ? bleibt. Das ist der Rahmen, den der freiheitliche Staat setzen kann. Gefüllt und gestaltet werden muss er in Freiheit.
In diesen notwendigen Diskussionen über die Abwägung der verschiedenen Interessen und Notwendigkeiten müssen die Kirchen und ihre Mitglieder ihre Anliegen selbst vertreten. Dabei werden Sie, davon bin ich überzeugt, umso erfolgreicher sein, je weniger Sie sich auf Politiker und Paragraphen verlassen. Werfen Sie Ihre Autorität und Ihr Gewicht in die Wagschale. Erinnern Sie die Gesellschaft an Werte und Wahrheiten, die diese aus den Augen zu verlieren droht.
Die von mir eingangs erwähnte Erzählung Tolstois hat übrigens eine sehr aufschlussreiche Pointe. Als die Bauern gezwungen werden, am Ostermontag zu arbeiten, betrifft das auch einen von ihnen, der als besonders fromm gilt. Er verweigert sich dem Befehl nicht, stellt allerdings beim Pflügen eine Kerze auf seinen Pflug, und zum Erstaunen aller Anwesenden wird ihre Flamme vom Wind nicht verweht. Wir erwarten heute in der Regel keine Wunder. Aber vielleicht kann man diese Geschichte so verstehen, dass die christliche Botschaft am stärksten wirkt, wenn sie auf ihre Kraft vertraut. Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass die Kirchen auch heute solches Vertrauen verdienen und halte ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten für erheblich. Der Bedarf bei Politik und Gesellschaft ist jedenfalls da ? nicht nur, aber auch am Sonntag.
[1] Vita Activa. Vom tätigen Leben, Zürich 2003.
[2] Hartmut Rosa: Beschleunigung .Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005.
[3] Hans Magnus Enzensberger: Reminiszenzen an den Überfluss. Der alte und der neue Luxus. Veröffentlicht in: Der Spiegel 51 /1996.
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