Ein Staat kann nicht einfach abgewickelt werden



Der Finanzminister stellte sich den Fragen von Wirtschaftsblatt-Herausgeber Michael Oelmann.

Wirtschaftsblatt: Viele Menschen sind äußerst beunruhigt über die Entwicklung im Euro[Glossar]-Raum. Sind wir mittlerweile in einer Transferunion angekommen, mit Deutschland als Zahler?

BM Schäuble: Nein. Zum einen ist schon dieser Begriff der „Transferunion“ per se schwierig. Viele, die ihn verwenden, verstehen völlig Unterschiedliches darunter. Wenn Sie unter einer Transferunion grenzenlose und automatische Leistungen an Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verstehen, dann kann man eindeutig feststellen, dass wir uns nicht in einer Transferunion befinden. Aber natürlich finden Geldtransfers in der Union statt – und das seit Jahrzehnten! So hat die EU über die Strukturfonds nicht unerheblich zum Aufbau der neuen Bundesländer bigetragen oder zu dem Ausbau der Infrastruktur in vielen Mitgliedsstaaten.

Wirtschaftsblatt: Aber die jetzigen Hilfen für Staaten wie Griechenland und Portugal gehen doch weit über das hinaus, was es bisher gegeben hat?

BM Schäuble: Wenn wir einmal auf den Krisenfall schauen – und was dann gegebenenfalls für Gelder wie fließen könnten – so muss man Folgendes festhalten: Es wird im Einzelfall und immer nur einstimmig entschieden, ob überhaupt Hilfe gewährt wird, und diese gibt es dann nur gegen sehr harte Auflagen. Gewährte Kredite müssen verzinst zurückgezahlt werden. Und es gibt eine klar definierte und nicht zu durchbrechende Obergrenze der Haftung für die einzelnen Mitgliedsstaaten. Im Übrigen ist der zukünftige ESM in seiner Konstruktion dem IWF ähnlich. Und mir ist nicht bekannt, dass bisher schon jemand auf die abwegige Idee gekommen sei, das IWF-System als Transferunion zu bezeichnen.

Wirtschaftsblatt: Die deutschen Unternehmen hatten im letzten Jahr 58 Milliarden Forderungsausfälle durch Insolvenzen zu verkraften. Viele Mittelständler verstehen nicht, warum das, was sozusagen zur täglichen Praxis in der Wirtschaft zählt, nicht auch für Staaten und Anleihen handhabbar sein sollte.

BM Schäuble: Wenn ein Unternehmen insolvent wird, dann gibt es für diesen Fall eine Insolvenzordnung, die eine geordnete Abwicklung regelt. Ein Staat kann jedoch im Gegensatz zu Unternehmen nicht einfach abgewickelt werden und von der Landkarte verschwinden.

Wirtschaftsblatt: Trotzdem: Wäre ein „No-Bail-Out“ von Griechenland nicht das richtige Zeichen gewesen?

BM Schäuble: Bei Griechenland konnte es doch nicht ernsthaft darum gehen, ein Exempel zu statuieren oder „Zeichen zu setzen“. Vielmehr galt es, Schaden von der Eurozone als Ganzes abzuwenden. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass deutsche Interessen dadurch am besten gewahrt werden, dass Griechenland durch die Finanzhilfe Zeit gewinnt, die notwendigen und durchaus schmerzhaften Reformen umzusetzen und somit seine Staatsfinanzen wieder auf eine solide Grundlage zu stellen.

Wirtschaftsblatt: Hätten die privaten Gläubiger wie Banken an dieser Operation nicht beteiligt werden müssen?

BM Schäuble: Das hat auch etwas mit Vertrauen zu tun. Ab 2013 ist klar, dass die privaten Gläubiger im Fall von Insolvenz [Glossar] von Staaten an den Kosten beteiligt werden. Alle dann begebenen Staatsanleihen der Staaten der Eurozone werden dementsprechende Vertragsklauseln haben. Das ist aber zur Zeit nicht der Fall. Und ein Trader in Asien oder den USA unterscheidet dann nicht zwischen deutschen oder griechischen Anleihen, wenn er hört, dass eine Euroanleihe vertragswidrig nicht mehr bedient wird. Es besteht die Gefahr, dass er das Vertrauen in die Eurozone als Ganzes verliert. Und das könnte dann auch Auswirkungen für Deutschland haben, die wir nicht wollen.

Wirtschaftsblatt: Würden Sie insgesamt sagen, dass die Vorteile, die Deutschland aus dem Euro generiert, dennoch höher sind, als die Zahlungen, die jetzt drohen?

BM Schäuble: Es ist absolut klar und unstreitig, dass Deutschland enorm von der Einführung des Euro profitiert hat. Zum einen hat sich der Euro als preisstabiler als die Deutsche Mark entpuppt. Zum anderen hat der Euro zu einer Vertiefung des europäischen Binnenmarkts geführt. Die Eurozone steht für rund 40 Prozent der deutschen Ein- und Ausfuhren. Unsere stark export- und importabhängige Wirtschaft profitiert davon, dass es innerhalb der Eurozone keine Wechselkursrisiken gibt. Verbraucher profitieren von einem stärkeren Wettbewerb, der zu größerer Vielfalt und geringeren Preisen führt. Die grenzüberschreitenden Investitionen[Glossar] haben als Folge der Währungsunion zugenommen und mehr Wohlstand geschaffen. Und, wie gesagt, die gewährten Kredite müssen verzinst zurückgezahlt werden.

Wirtschaftsblatt: Ist vor dem Hintergrund der Eurohilfen die von Ihrer Regierung angestrebte Haushaltskonsolidierung in Deutschland überhaupt noch realistisch?

BM Schäuble: Die Haushaltskonsolidierung ist nicht nur realistisch, sondern sie ist bereits Realität! Schon dieses Jahr werden wir die Drei-Prozent-Obergrenze des Maastrichtvertrages bei den Defiziten wieder deutlich einhalten, zwei Jahre früher, als im Defizitverfahren gefordert. Wir haben in der Bundesregierung die Eckwerte für den Bundeshaushalt [Glossar]2012 und den bis 2015 geltenden Finanzplan [Glossar] beschlossen. Diese zeichnen einen kontinuierlichen Konsolidierungskurs vor.

Wirtschaftsblatt: Auch die jetzt anstehende Energiewende birgt enorme Belastungen fürHaushalt [Glossar]. Ist auch das noch zu schultern?

BM Schäuble: Es ist klar: In einer sich verändernden Welt bestehen immer auch Risiken für die Haushaltspolitik und dies umso mehr, je weiter die Planungen in die Zukunft reichen. Nehmen Sie beispielsweise den Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise, der so nicht vorauszusehen war. Diese Krise hat auch die Finanzpolitik [Glossar] in der Tat vor enorme Herausforderungen gestellt. Verglichen mit den dramatischen Auswirkungen der Krise auf die Staatsverschuldung sind die haushaltspolitischen Auswirkungen der Eurohilfen oder einer Neuorientierung in der Energiepolitik durchaus überschaubar. Und dass keiner den Tsunami in Japan oder die Katastrophe von Fukushima vorhersehen konnte, ist leider auch wahr.

Die Beispiele zeigen: Die Politik muss stets über die notwendige Handlungsfähigkeit verfügen, um auf Herausforderungen reagieren zu können. Risiken gibt es immer, ja, sie sind Teil des Lebens. Das bedeutet nicht zuletzt, dass die Haushaltspolitik jederzeit handlungsfähig bleiben muss, und dafür ist die entscheidende Voraussetzung: Solidität der Staatsfinanzen.

Wirtschaftsblatt: Glauben Sie, dass die beschlossene Schuldenbremse [Glossar]ausreichend sein wird, die Öffentlichen Haushalte zu konsolidieren?

BM Schäuble: Die Schuldenbremse hilft uns enorm dabei, unsere Haushalte in Ordnung zu bringen. Sie diszipliniert, insbesondere in wirtschaftlich guten Zeiten, in denen es in der Vergangenheit allzu oft versäumt wurde, die Verschuldung zurückzuführen. Bereits heute stärkt die Schuldenbremse das Vertrauen in eine solide Haushaltsführung. Dass Deutschland großes Vertrauen bei den Anlegern genießt, können wir täglich an den vergleichsweise niedrigen Zinsen ablesen, die wir auf unsere Staatsanleihen bezahlen.

Natürlich reicht es nicht aus, finanzpolitische Regeln aufzustellen. Sie müssen auch mit Leben gefüllt werden. Dies haben wir beispielsweise mit der Aufstellung des Bundeshaushalts 2011 getan, indem wir die damals absehbaren konjunkturellen Entlastungen zur Absenkung der Neuverschuldung eingesetzt haben, und wir werden dies auch bei der laufenden Haushaltsaufstellung für das Jahr 2012 tun. Auch heute steht die Finanzpolitik vor nicht geringen Herausforderungen, aber ich bin sicher, dass wir sie auch dank der Schuldenbremse meistern werden.

Wirtschaftsblatt: Die Regierungskoalition hatte deutliche Steuererleichterungen und –vereinfachungen angekündigt. Ist hierzu in dieser Legislaturperiode noch etwas zu erwarten?

BM Schäuble: Steuervereinfachung gehört für mich in die Kategorie des Langstreckenlaufs, einer Konditionssportart, die neben viel Ausdauer auch Anstrengungsbereitschaft erfordert. Denn es ist einfach, die Dinge kompliziert zu machen, jedoch höchst anspruchsvoll, zur Einfachheit zurückzufinden. Aktuell aufgesetzt haben wir das Steuervereinfachungsgesetz, mit dem wir den Hebel dort ansetzen, wo das Vereinfachungspotential besonders hoch ist – beim Aufwand für die Einkommensteuererklärung.

Es ist ein Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger, wenn sie ihren steuerlichen Verpflichtungen leichter nachkommen können. Konkret spreche ich damit den Aufwand für das Ausfüllen derSteuererklärung [Glossar] an, dem über das Jahr verteilt das Sammeln und Aufbewahren von Quittungen und Belegen vorangeht. Hier wollen wir für Entlastungen sorgen.

Wirtschaftsblatt: Was heißt das konkret?

BM Schäuble: Die steuerliche Berücksichtigung der Kosten für die Kinderbetreuung wird einfacher, da die Unterscheidung zwischen erwerbsbedingten und nicht erwerbsbedingten Kosten entfällt. Auch wollen wir auf die Einkommensüberprüfung bei der Beantragung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen für volljährige Kinder verzichten. Da die Einkünfte- und Bezügegrenze zukünftig wegfällt, sind keine Angaben zu den Einkünften und Bezügen der volljährigen Kinder mehr erforderlich. Weniger Abfragen bei der Steuererklärung bedeuten weniger Aufwand für die Eltern. Zudem wird durch die Anhebung des Arbeitnehmer-Pauschbetrags auf 1.000 Euro das Sammeln, Aufbewahren und Zusammenstellen von Belegen in einem erweiterten Umfang entbehrlich. Auch wollen wir nicht unternehmerisch tätigen Bürgerinnen und Bürgern zukünftig ein Wahlrecht einräumen, die Einkommensteuererklärungen für zwei Jahre zusammengefasst beim Finanzamt abzugeben. Im Ergebnis eine verlängerte Abgabefrist.

Wirtschaftsblatt: Das sind – mit Verlaub – Häppchen. Erwarten die Menschen nicht echte Steuersenkungen?

BM Schäuble: Was darüber hinausgehende Maßnahmen betrifft, so muss man doch ehrlicherweise sagen, dass es bei einer Verschuldung der öffentlichen Haushalte von rund zwei Billionen Euro – pro Kopf sind dies rechnerisch rund 24.450 Euro – eine klare Rangfolge, an deren Spitze die Haushaltskonsolidierung steht, geben muss. In der Konsequenz bedeutet dies, dass wir uns die Spielräume für eine weitergehende Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen erst erarbeiten müssen.

Wirtschaftsblatt: Der deutsche Mittelstand [Glossar] und seine Mitarbeiter haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Wiedervereinigung gestemmt, die Finanzkrise gemeistert, und mit Lohnverzicht und viel Einsatz die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig gehalten. Wäre es da nicht an der Zeit, den Leistungsträgern eine Entlastung zukommen zu lassen?

BM Schäuble: Nach dem von der Unternehmensberatung „Ernst & Young im März veröffentlichten „Mittelstandsbarometer“ fühlt sich der Mittelstand am Standort Deutschland sehr wohl. Dies zeigt mir, dass auch die steuerlichen Rahmenbedingungen stimmen. Was jedoch nicht bedeutet, dass wir die Hände jetzt in den Schoß legen können. Auch wenn die Messlatte bereits hoch liegt, sind weitere Bestmarken erreichbar. In diesen Kontext gehört auch, dass wir mit dem Abbau unnötiger bürokratischer Belastungen fortfahren. Auch auf diesem Feld werden wir weiteres Entlastungspotential freisetzen. Steuerliche Entlastungen nehmen wir in den Blick, sobald uns die haushaltspolitischen Spielräume dafür zur Verfügung stehen.

Wirtschaftsblatt: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass die schädliche Substanzbesteuerung der Unternehmen bei Gewerbe-, Erbschafts- und Grundsteuer [Glossar] wieder abgeschafft wird?

BM Schäuble: Die Erbschaft- und Schenkungsteuer hat der Gesetzgeber zum 1. Januar 2009 verfassungskonform reformiert und mit einer realitätsgerechten Bewertung aller Vermögensklassen ausgestaltet. Die Frage einer Neuordnung der Gemeindefinanzen – und damit auch die Frage nach der Zukunft der Gewerbesteuer [Glossar] – wird aktuell diskutiert. Ein faires Angebot an die kommunale Seite liegt vor. Auch an einer Reform der Grundsteuer wird gearbeitet.

Wirtschaftsblatt: Die Diskussion über die Gewerbesteuer läuft doch schon seit Jahren – ohne Ergebnis…

BM Schäuble: Wir müssen uns jedoch dessen bewusst sein, dass wir hier über dasSteueraufkommen [Glossar] der Länder, insbesondere aber der Gemeinden sprechen. Reformergebnisse werden daher nur dann zu erreichen sein, wenn alle Beteiligten mit Augenmaß agieren und Kompromissbereitschaft zeigen.

Wirtschaftsblatt: Manche fragen sich: Warum tut sich jemand das anstrengende Amt des Finanzministers an? Ist diese Aufgabe für Sie Pflicht, oder auch Freude?

BM Schäuble: Schon vor Amtsantritt habe ich ja einmal gesagt, das Amt des Finanzministers sei eine ehrenvolle Zumutung. Aber ganz im Ernst: Wer gestalten will, dem macht eine große Aufgabe Freude. Dies gilt für mich nach wie vor. Natürlich ist das nicht immer nur Spaß, sondern eine hohe Verantwortung, die viel abverlangt, aber insgesamt überwiegt eindeutig das Positive!

Wirtschaftsblatt: Eine private Frage zum Schluss: Wobei entspannt sich der Finanzminister, wo tankt er Kraft? Ist überhaupt noch Platz für Muße und Hobbies?

BM Schäuble: Auch trotz aller Pflichten eines Finanzministers müssen Freiräume für Hobbies und private Interessen bleiben. Besonders gut entspannen kann ich bei klassischer Musik, ich mag aber auch Jazzkonzerte und Theater. Und aktiv halte ich mich fit, so oft es eben geht durch Radtouren mit meinem Hand-Fahrrad.

Alle Rechte: Wirtschaftsblatt.