Ein Präsident für Europa!



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit „Die Zeit“

DIE ZEIT: Herr Minister, wie wird Europa am Ende der Krise aussehen?

Wolfgang Schäuble: Ich hoffe, dass es ein gestärktes Europa sein wird. Die Krise kann Europa voranbringen. Meine Vorstellung ist dabei aber nicht, dass wir den Nationalstaat auf die europäische Ebene transferieren. Dabei kann es, nicht um die Vereinigten Staaten von Europa gehen …

ZEIT: … was Ursula von der Leyen fordert …

Schäuble: … sie hat inzwischen präzisiert, dass sie es so nicht gemeint hat. Unter Vereinigten Staaten von Europa versteht der normale Mensch das, was er von den Vereinigten Staaten von Amerika kennt, nämlich einen großen Nationalstaat. Darum geht es in der Europäischen Union nicht. Die europäische Einigung ist seit mehr als einem halben Jahrhundert auf eine teilweise Überwindung des Nationalstaats Schritt für Schritt angelegt. Die Europäische Union, in der die Souveränitätsrechte auf verschiedene Ebenen, nämlich da, wo sie am effizientesten genutzt werden können, verteilt sind, ist die Zukunft. Dass die nationalstaatliche Ebene für die Regelung aller Bereiche zuständig ist, ist nicht mehr zeitgemäß.

ZEIT: Welche Bereiche überfordern den Nationalstaat?

Schäuble: Viele. Wir sind in die globale Entwicklung eingebunden und hängen in allen Teilen von Entwicklungen in der Welt ab: bei der Inneren und Äußeren Sicherheit, bei der Energieund Rohstoffversorgung, beim Klimawandel, bei den Finanzmärkten [Glossar], um nur einiges zu nennen.

ZEIT: Wie viel Souveränitätsverzicht halten Sie für notwendig und für akzeptabel?

Schäuble: Das ist ein Diskussionsprozess. Darüber entscheidet im Endeffekt der Souverän, das Volk. Anordnen kann man das nicht. Aber gelegentlich beschleunigen Ereignisse die Integration. Denn die Krise, die ja nicht zuletzt durch die in den letzten Jahrzehnten stark gewachsenen Interdependenzen von Staaten und Märkten so potenziell gefährlich wurde, zeigt erstens, dass die europäische Einigung die richtige Antwort auf das 21. Jahrhundert ist. Zweitens, dass wir gar nicht mehr vollständig souverän sind, und zwar seit Langem nicht mehr, denn die Ereignisse in anderen Ländern, anderen Märkten, anderen Systemen beeinflussen unser Leben direkt.

ZEIT: Unter den Bürgern aber wächst der Verdruss. Sie wollen keinen Superstaat Europa.

Schäuble: Das will ich auch nicht, den will niemand. Dieses Missverständnis ist das Gefährliche am Begriff der Vereinigten Staaten von Europa. Das Ziel der europäischen Einigung ist nicht, an die Stelle des Nationalstaats Deutschland einen Nationalstaat Europa zu stellen. Wir brauchen etwas Neues. Die europäische Einigung trägt der Tatsache Rechnung, dass der Nationalstaat das, was er seit dem 17. Jahrhundert geleistet hat, seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr leisten kann. Was wir daher im 21. Jahrhundert brauchen, ist eine neue Form der Regierungszusammenarbeit auf mehreren Ebenen. Die Ebene, die ein Problem am effizientesten lösen kann, soll sich darum kümmern. Darüber gibt es einen breiten Konsens in Deutschland: Die Bevölkerung ist – wenn man den Umfragen trauen darf – zum Teil der Gegenwart weit voraus, wenn Sie die Forderungen in der Bevölkerung nach noch mehr Zusammenarbeit im Bereich der Polizei oder der Außen- und Sicherheitspolitik sehen. Die Deutschen haben keine besondere Neigung zum Nationalismus. Und sie haben keine besondere Neigung, alles alleine zu machen, alles alleine bestimmen zu wollen. Wir haben ganz gut gelernt aus unserer Geschichte.

ZEIT: Lässt unsere Verfassung die Abschaffung des Nationalstaates zu?

Schäuble: Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, vom Nationalstaat in bestimmten Bereichen Kompetenzen auf eine weitere Ebene zu heben – da, wo es richtig und wichtig ist, um im 21. Jahrhundert bestehen zu können. Mit dem, was wir zurzeit diskutieren – notwendige institutionelle Verstärkungen, Vergemeinschaftung der Geldpolitik [Glossar] und automatische Sanktionen aufgrund einer entsprechenden Vergemeinschaftung der Finanzpolitik [Glossar] – , stoßen wir eindeutig nicht an die Grenze unserer Verfassung. Ich habe aber mit großem Interesse die jüngsten Äußerungen des Verfassungsgerichtspräsidenten gelesen. Herr Voßkuhle hat es klug und klar formuliert: Es wird der Tag kommen, an dem die europäische Einigung eine Qualität erreichen wird, an dem wir sagen müssen: Das Grundgesetz von 1949 reicht dafür nicht mehr aus. Das liegt aber noch in ferner Zukunft.

ZEIT: Wie nah ist diese Zukunft?

Schäuble: Ich kann das nicht in Zeit und Jahren ausdrücken. Das, was jetzt erforderlich ist, um den Widerspruch zwischen einer Vergemeinschafteten Geldpolitik und einer nicht vergemeinschafteten Finanzpolitik aufzulösen, ist auf jeden Fall vom Grundgesetz gedeckt. Wir sollten jetzt in der Finanzpolitik Teile der Regelungszuständigkeit auf Europa übertragen. Das ist nichts Neues. In der Geldpolitik haben wir es schon gemacht. Das war durch das Grundgesetz abgedeckt. Auch im Wettbewerbsrecht ist das schon lange so. Der Grundgedanke einer politischen Gemeinschaft ist ja schon in der Präambel des Grundgesetzes angelegt, »als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa«, heißt es da.

ZEIT: Und für den nächsten Schritt brauchten wir dann eine Volksabstimmung?

Schäuble: Erst wenn wir an dem Punkt angelangt wären – wann immer das sein mag – , den der Bundesverfassungsgerichtspräsident geschildert hat. Man müsste dann über Artikel 146 gehen. Es müsste aber keine Volksabstimmung über eine ganz neue Verfassung sein. Wir könnten das Grundgesetz behalten, es aber um mehr Europa ergänzen.

ZEIT: Für viele Bürger dürfte sich das nebulös anhören. Sie haben konkrete Fragen. Etwa: Wird es bald einen EU-Finanzminister geben?

Schäuble: Unterschätzen Sie die Bürger nicht. Da es keinen europäischen Bundesstaat geben wird, wird es auch keine europäische Regierung in dem Sinne geben, wie sie die Bundesregierung heute ist. Aber wenn wir jetzt einmal in die Zukunft schauen: Viel wichtiger als ein europäischer Finanzminister – ich habe nichts gegen einen europäischen Finanzminister – wäre, dass wir über einen EU- Präsidenten nachdenken.

ZEIT: Sie wollen eine Direktwahl?

Schäuble: Ja. Anfangs würde man fragen: Wie soll man sich das vorstellen? Welche Kandidaten kann es denn da geben? Welche Sprache soll er denn sprechen? Aber darauf kommt es im Kern nicht an. Schauen Sie nur, wie viele Sprachen in Indien gesprochen werden. Nach dem ersten Wahlkampf für einen solchen Präsidenten wäre Europa ein Stück weiter. Es würde Europa verändern.

ZEIT: Wollen Sie das?

Schäuble: Als Zukunftsvision halte ich das für wünschenswert. Als Zielvorstellung, die die europäische Integration weiterbringt.

ZEIT: Wollen das auch der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin?

Schäuble: Dies ist ein Gedanke jenseits der Tagespolitik und der aktuellen Diskussionen und Entscheidungen. Alle wissen, dass wir Europa weiterbauen müssen. Es muss Schritt für Schritt vorangehen. Nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen.

ZEIT: Mal angenommen, Sie wären im vergangenen Frühjahr mit Ihrer Idee eines Europäischen Währungsfonds durchgekommen: Wie stünde die Euro [Glossar]-Zone heute da?

Schäuble: Schwer zu sagen. Gut möglich, dass wir etwas weiter wären. Aber so ist das in der Politik: Es geht nicht alles auf einen Schlag.

ZEIT: An diesem Donnerstag stimmt der Bundestag über den Rettungsschirm EFSF ab. Wie wichtig ist für die Koalition die eigene Mehrheit?

Schäuble: Sie ist wichtig. Und sie wird auch gegeben sein. In dieser Abstimmung weiß jetzt nach der langen Diskussion jeder Abgeordnete der CDU/CSU wie der FDP, was mit seinem Votum an Interpretation und Verständnis verbunden ist. Deshalb bin ich ziemlich zuversichtlich, dass wir für diese Europapolitik die Unterstützung der Koalition haben.

ZEIT: Laut Forsa haben 64 Prozent der Deutschen Angst davor, dass die Regierung überfordert sein könnte. Das ist der höchste Wert, seit es solche Umfragen gibt. Woran liegt das?

Schäuble: Die Menschen sind nach drei konsekutiven Krisen beunruhigt und verunsichert. Und sie spüren, dass wir im Augenblick in keiner wirklich einfachen Situation sind. Und dann gibt es die Kritik, dass die Politik zu schwerfällig sei. Das kenne ich schon lange. Darauf sage ich immer: Die Demokratie ist nicht auf Geschwindigkeit angelegt, sondern auf Diskurs und Überzeugung. Es ist mir lieber, als wenn die Politik zu effizient ist. Unter Regierungen, die ohne ausreichende Kontrollen und Diskussionen agieren können, drohen eher Katastrophen. Unsere Verfassungs- und Demokratiegeschichte ist eine Geschichte der Machtbegrenzung. Und damit sind wir gut gefahren. Von daher ist es mir lieber, dass die Menschen unsere Arbeit kritisch hinterfragen und begleiten, als wenn sie blind ein zu hohes Maß an Vertrauen haben.

ZEIT: Dann sprechen wir über das Kurshalten. Im Dezember 2009 haben Sie gesagt, die Deutschen könnten nicht für Griechenlands Probleme zahlen. Warum können wir es jetzt doch?

Schäuble: Wir zahlen doch nicht für Griechenlands Probleme! Das ist doch eine absurde Formulierung. Wir verschaffen Griechenland die notwendige Zeit für die Sanierung seiner Finanzpolitik und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – was das längerfristige Problem ist. Das braucht Zeit. Diese Zeit müssen wir Griechenland verschaffen, im Interesse unserer gemeinsamen Währung. Denn wenn die gemeinsame Währung scheitert, haben wir größeren Schaden, da wir bisher mehr profitieren als die Griechen.

ZEIT: Sagen Sie den Bürgern alles, was Sie wissen?

Schäuble: Ich kann kraft meines Amtes nicht alles zu jedem Zeitpunkt sagen, was mir durch den Kopf geht – völlig klar. Es gibt Informationen, die darf ich nicht nennen, weil sie finanzmarktrelevant sind. Wenn ich die ausplaudern würde, wäre dies ein Verstoß gegen meinen Amtseid. Überhaupt muss ein Finanzminister – gerade bei hypernervösen Märkten – peinlich darauf achten, mit seinen Worten sorgsam umzugehen. Ich behaupte nicht, dass ich alles immer vorhersehen kann und immer recht habe. Das ist die menschliche Natur. Wir sind allesamt nicht unfehlbar, und Rechthaberei nützt nichts. Aber was ich sage, entspricht der Wahrheit. Die Bundeskanzlerin hat beispielsweise Sonntagabend im Fernsehen gesagt, es sei ihr und auch mir vorgehalten worden, dass wir im letzten Jahr, bei der Schaffung der EFSF, gesagt hätten, das sei eine einmalige Geschichte. Es wird unterstellt, wir hätten gesagt: Das kommt einmal vor und nie wieder. Nein, ich habe schon von Anfang an gesagt, dass ein dauerhafter Mechanismus erforderlich ist und habe deswegen ja auch ein europäisches Wahrungssystem gefordert! Und nun sind wir dabei, für die Zeit ab 2013 den europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM als eine dauerhafte Einrichtung zu schaffen. Lassen Sie mich zum Ende nur noch eines sagen: Bisher ist Europa aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen. Das wird auch dieses Mal der Fall sein – auch wenn manche der Diskussionen müde sind und manche zweifeln. Aber es lohnt sich, dranzubleiben, denn Europa ist und bleibt die Zukunft.

Das Gespräch führten Marc Brost und Matthias Nass.

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