„Ein Präsident für Europa“



Interview mit Bundesinnenminister Dr. Schäuble in der Welt am Sonntag

Welt am Sonntag: Herr Schäuble, wie erklären Sie einem Bürger, dass er am 7. Juni an die Urne muss?

Wolfgang Schäuble:Ohne die europäische Einigung wäre der größte Glücksfall der jüngeren deutschen Geschichte, die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, nicht möglich gewesen. Ohne die EU lassen sich die Probleme in der globalisierten Welt nicht mehr lösen. Wir können zentrale politische Anliegen nicht mehr allein durchsetzen, sondern nur mit unseren Partnern. Deshalb ist die EU für jeden Einzelnen wichtig, sie ist der Schlüssel für unsere Zukunft.

Aber den Leuten ist offenbar egal, wer in Brüssel das Sagen hat. Warum ist Europa nicht sexy?

Schäuble: Die erste Antwort ist, und das soll nicht zynisch klingen: Alles, was für die Menschen selbstverständlich geworden ist, verliert an subjektiver Wertschätzung. Das ist wie in der Ökonomie: je größer das Angebot an einem Gut, desto niedriger der Preis. Die zweite Antwort: weil die EU so kompliziert ist. Mit beiden kann man sich nicht zufriedengeben, deshalb müssen wir den Bürgern den Wert der Union wieder und wieder erklären.

Mit dem Slogan „Wir in Europa“, den die CDU überall plakatiert?

Schäuble: Über die Kommunikation im Wahlkampf lässt sich immer trefflich streiten. Aber eine Voraussetzung für eine größere Wahlbeteiligung der Bürger ist doch zweifellos ein Wirgefühl.

Warum sagen Sie den Menschen nicht, was die CDU will? Zum Beispiel die Türkei nicht in der EU.

Schäuble: Das sage ich doch schon immer und sehr konsequent: Bei aller Freundschaft, bei aller Bedeutung der Türkei, die volle Mitgliedschaft würde die Chance einer politischen Union dramatisch gefährden, wenn nicht unmöglich machen. Weil ein solches Europa nicht die Zustimmung der Menschen erhalten würde. Die müssen sich dort hinreichend zu Hause fühlen, um bereit zu sein, wichtige Entscheidungen von der nationalen auf die europäische Ebene zu übertragen. Es ist ein Stück Ehrlichkeit, im Wahlkampf zu sagen, dass die EU die Grenzen des europäischen Kontinents nicht überschreiten sollte.

Auch ohne die Türkei empfinden die Bürger von Sizilien bis Lettland noch kein Wirgefühl. Woran liegt das?

Schäuble: Eine europäische Identität muss sich allmählich bilden. In Deutschland ist auch die nationale Identifizierung nicht vom Himmel gefallen, Historiker sprechen nicht umsonst vom verspäteten Nationalstaat. Es war ein langer, mühsamer Weg vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis heute. Da kommen wir in der EU doch vergleichsweise schnell voran: Die gemeinsame Währung, der Wegfall der Grenzen schaffen schon europäisches Bewusstsein.

Braucht Europa wie andere Nationalstaaten einen Gründungsmythos, den man sich erzählen kann?

Schäuble: Der Gründungsmythos sind die beiden Weltkriege.

Ist das 15-Jährigen noch präsent?

Schäuble: Es ist keineswegs selbstverständlich, dass uns derart große Katastrophen auf ewig erspart bleiben. Der Balkankrieg hat gezeigt, wie dünn die zivilisatorische Decke noch sein kann. Es wird eine große europäische Aufgabe bleiben, überall in Europa zu verhindern, dass es wieder Krieg gibt. Nehmen Sie die Sudetendeutschen, die ich gestern besucht habe. Wenn Sie sich mit der Frage von Flucht und Vertreibung beschäftigen und den Wunden, die das geschlagen hat, wissen Sie ein Europa zu schätzen, in dem Grenzen nicht mehr trennen, sondern jeder frei reisen und leben kann.

Könnten bekanntere Gesichter das Interesse an Europa steigern? 1979 gingen immerhin noch Willy Brandt und Alfons Goppel nach Brüssel.

Schäuble: Genau, und dann hieß es: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa. Aber Sie haben recht, Identifikation wächst auch durch Persönlichkeiten. Deshalb habe ich manchmal einen Traum. Europa braucht einen Präsidenten, der in einer europaweiten Wahl direkt von den Bürgern gewählt wird. Wie der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. In deren Gründungsgeschichte lässt sich nachlesen, dass neben einem starken Parlament auch die Wahl des gemeinsamen Präsidenten zusammenführend wirkte. Beim ersten Mal würde es furchtbar schwer werden, überhaupt Kandidaten zu finden, die von Portugal bis Finnland Akzeptanz finden. Aber so ein Wahlkampf würde eine starke europäische Öffentlichkeit und damit Integration schaffen.

Wer käme da infrage?

Schäuble: Es gibt zweifellos große europäische Persönlichkeiten, die dafür in Betracht kämen. Aber es ist jetzt viel zu früh, Namen zu nennen. Das wird noch eine Weile dauern. Die Nationalstaaten werden das nicht ohne Weiteres akzeptieren. Weil jener Präsident natürlich automatisch ein ganzes Stück stärker wäre. Und auch die Bevölkerung will ja nur sehr begrenzt Zuständigkeiten auf Brüssel übertragen. Also müssen wir uns jetzt erst einmal um das Machbare kümmern.

Zum Beispiel um den deutschen EU-Kommissar. Die Union will den Nachfolger von Günter Verheugen (SPD) stellen. Aus Baden-Württemberg kam der Vorschlag, Friedrich Merz zu küren. Eine gute Idee?

Schäuble: Angela Merkel hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich diese Frage erst nach den Wahlen zum Europaparlament und zum Deutschen Bundestag stellt – im Lichte der Ergebnisse dieser Wahlen. Diese Zeit sollten wir uns nehmen. Wir haben sie auch, weil im Sommer in einem komplizierten Verfahren zunächst der Präsident der Kommission gewählt werden muss. Friedrich Merz ist ein guter Vorschlag, keine Frage. Er wäre ohne Zweifel eine hervorragende Lösung, zumal er seine parlamentarische Laufbahn in Brüssel begonnen hat und Europa bestens kennt.

Stünden Sie als überzeugter Europäer für den Posten zur Verfügung?

Schäuble (lacht): Ich stehe jedenfalls nicht zur Verfügung, um mit Ihnen zu spekulieren. Sie müssen Geduld haben.

Sie auch: Erst am 30. Juni wird Karlsruhe über den Lissabon-Vertrag entscheiden. Machen Sie sich Sorgen, dass das Werk kippt?

Schäuble: Nein, warum sollte ich? Ich bin ganz sicher: Das Bundesverfassungsgericht wird sagen, dass der Lissabon-Vertrag das Grundgesetz nicht verletzt. Ich schließe nicht aus, dass das Gericht Anmerkungen zur Beteiligung des Bundestags an den Entscheidungen in Europa macht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es den Vertrag in Bausch und Bogen verwirft.

Warum dauert das Verfahren dann so lange?

Schäuble: Weil die Richter gründlich prüfen. Deshalb hat das Gericht so hohes Vertrauen bei den Bürgern. Übrigens auch bei mir.

Immerhin hat der Berichterstatter in dem Verfahren, Richter Udo Di Fabio, die Frage gestellt, ob ein „immer mehr“ bei der Übertragung von Zuständigkeiten an die EU in der Tendenz nicht „freiheitsgefährdend“ ist.

Schäuble: Der Lissabon-Vertrag setzt doch Grenzen – und zwar klarer als der jetzt gültige Nizza-Vertrag. Er ist dabei nicht so deutlich, wie wir uns das wünschen. Niemand behauptet, er sei ideal. Aber er ist ganz unstreitig eine erhebliche Verbesserung gegenüber der heutigen Vertragslage. Deshalb muss er zustande kommen.

Wie viele Souveränitätsrechte darf Deutschland noch abgeben, ohne sich als Nationalstaat zu gefährden?

Schäuble: In der Verfassungslehre gibt es in der Tat eine Argumentationslinie, die sagt: Irgendwann kommen wir an den Punkt, wo wir das nur noch im Rahmen einer neuen Verfassung machen können, die wir nach Artikel 146 erlassen müssen.

Auch Di Fabio hat gefragt: Wäre es nicht ehrlicher, nach Artikel 146 – wonach das Grundgesetz an dem Tag außer Kraft tritt, an dem das deutsche Volk eine neue Verfassung beschließt – über einen europäischen Bundesstaat abstimmen zu lassen?

Schäuble: Ich glaube nicht, dass dieser Punkt mit dem Lissabon-Vertrag erreicht ist. Im Übrigen ist im Grundgesetz seit 1949 angelegt – in der Präambel, in Artikel 23 und 24 -, dass wir Teile unserer Souveränität auf überstaatliche Einrichtungen übertragen können. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten eben noch besser als unsere heutige Generation, dass dieses Deutschland nach der Barbarei von Hitler, Auschwitz und zwei Weltkriegen eine Chance überhaupt nur haben würde, wenn es sich auf den Weg der Integration macht.

Einer der Väter des Grundgesetzes, Carlo Schmid, hat von der „Nation Europa“ gesprochen. Ist das etwas, das Sie sich zu Eigen machen?

Schäuble: Als Wunsch ja. Aber wir sind noch nicht so weit. Ich schließe jedoch gar nicht aus, nein, ich hoffe sogar, dass wir eines Tages so eng zusammenwachsen. Es ist zum Beispiel meine Überzeugung, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft keine nationalen Armeen mehr haben werden. Sondern eine europäische. Und nicht nur ich denke so: Es gibt Umfragen, wonach eine klare Mehrheit der Bevölkerung in den meisten Mitgliedsstaaten sich dafür ausspricht. So schlecht ist es mit der Akzeptanz Europas also offenbar nicht bestellt.

Das Gespräch führten Thorsten Jungholt und Thomas Schmid