„Ein ganz eigenartiger Wandel“



Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Badischen Zeitung
BZ: Herr Schäuble, wie werden Sie einmal Ihren Enkelkindern die Ereignisse um den Mauerfall erklären?
Schäuble: Meinen Enkelkindern werde ich zunächst erklären, was die Deutsche Teilung war. Wir konnten uns ja damals gar nicht vorstellen, wie diese Teilung eines Tages zu Ende gehen sollte. Friedlich – das war immer klar, denn wir wollten nicht noch mal einen Krieg riskieren.

BZ: Nach dem 2. Weltkrieg war die Welt zweigeteilt…
Schäuble: … in den sogenannten Ostblock und den Westen. Den meisten Menschen ist es wie ein Wunder erschienen, dass nun eines Tages plötzlich die Deutschen selbst diese Mauer wieder zum Einstürzen bringen konnten. Die damalige Sowjetunion mit all ihren Raketen und Atomwaffen und ganz Europa, gegen das wir Kriege angefangen und verloren hatten, waren damit einverstanden. Am Schluss haben sich alle gefreut.
BZ: In Ihrem Buch „Der Vertrag, Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte“, schreiben Sie, die deutsche Revolution war eine „unvollendete“.
Schäuble: Genau deswegen ist sie eine unvollendete Revolution, weil es keine gewalttätige Revolution war. Man hat diejenigen, gegen die sich die Revolution gerichtet hat, das sozialistische System, die Einparteiendiktatur in der DDR, unblutig beseitigt. Im Grunde hat die DDR-Führung auch mehr oder minder kapituliert. Dann hat man sie im weiteren demokratischen Prozess an Wahlen beteiligt. Daraus haben sich viele Probleme und Konflikte ergeben, da viele Menschen früher von diesem System unterdrückt, politisch verfolgt und auch inhaftiert worden sind.

BZ: Kann man dann überhaupt von einer Revolution sprechen?

Schäuble: Die deutsche Revolution ist eine ganz eigene Revolution. Sie verlief nicht so, wie die Franzosen die Revolution von 1789 in Erinnerung haben, mit dem Sturm auf die Bastille und dem allem. Natürlich war es ein Wandel, ein ganz eigenartiger: friedlich, unblutig und erfolgreich. Das ist das wunderbare an dieser Revolution.

BZ: In den Heute-Nachrichten vom 9. November kam um 19.17 Uhr eine Eilmeldung. Der Sprecher sagte, Wolfgang Schäuble appelliere an die Ostdeutschen. Nach wie vor sei jeder willkommen, aber die Kapazitäten der Aufnahmelager seien fast erschöpft. Jeder solle sich die Übersiedlung gut überlegen. Hatten Sie da Angst, dass die Situation eskaliert?
Schäuble: Nein. Die Aufnahme des Menschenstroms musste aber organisiert werden. Das hat eine Zeit lang Schwierigkeiten gemacht. Wir mussten die Menschen vorläufig zum Teil in Turnhallen unterbringen. Das ist bei Naturkatastrophen in Amerika auch so. Das gibt’s, aber nach ein paar Wochen war dies geschafft. Und die meisten Menschen in Westdeutschland haben sich gefreut und waren solidarisch.

BZ: Sind Sie 20 Jahre nach dem Mauerfall mit der wirtschaftlichen Integration der neuen Bundesländer zufrieden?
Schäuble: Wir sind weit vorangekommen. Natürlich müssen die Menschen in dem Teil Deutschlands, der damals DDR war, mehr an Veränderungen aushalten. Und noch immer gibt es Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft, im Preisniveau, im Arbeitsmarkt, aber die Unterschiede sind viel kleiner geworden.. .

BZ: …sie sind aber immer noch immens!
Schäuble: In allen anderen Ländern des früheren Ostblocks, der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Tschechien, war nach dem Ende des Ost-West-Konflikts über viele Jahre hinweg das Prokopfeinkommen geringer als zuvor. Der Übergang von einer totalen und geschlossenen Verwaltungswirtschaft in eine offene globalisierte Volkswirtschaft bringt für die Menschen gewaltige Umstellungsschwierigkeiten mit sich. Das einzige Land, indem das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung immer von Anfang an gestiegen ist, war die ehemalige DDR.

BZ: Das soll heißen, die Menschen in den neuen Ländern könnten zufrieden sein…
Schäuble: . . .dennoch sind die Menschen nicht zufrieden. Das ist eine andere Frage. Wenn sie ihre Lage mit Tschechien, Polen und Ungarn vergleichen, dann wissen sie alle, dass es in Deutschland viel besser gelungen ist. Wenn man das sieht, relativieren sich die Schwierigkeiten, die wir teilweise noch heute haben.

BZ: Eine der Schwierigkeiten ist die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote ist im Osten doppelt so hoch wie im Westen.
Schäuble: Ja, aber die Arbeitslosenquote ist in einzelnen Regionen Deutschlands sehr unterschiedlich. Es gibt Regionen im Westen, da ist die Arbeitslosigkeit höher als in manchen Regionen in den neuen Bundesländern. Wir haben eine regional unterschiedliche Entwicklung. Wir waren in Baden-Württemberg immer erfolgreicher als in vielen anderen Teilen der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind jetzt durch die Weltwirtschaftskrise in Baden-Württemberg besonders betroffen. Man kann nicht mehr sagen, die Unterschiede sind zwischen Ost und West. Sondern sie sind in Deutschland vielfältig differenziert. Es gibt auch ein Gefälle zwischen Nord und Süd. Wir wollen auch nicht alles einheitlich haben in Deutschland.

BZ: Bis 1994 war die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ eine Grundgesetzbestimmung. Seither heißt der Grundsatz „gleichwertige Lebensverhältnisse“.
Schäuble: Ja. Das heißt aber nicht, dass es überall gleich ist. Unterschiede sind vom Grundgesetz gewollt, sonst wären wir kein Bundesstaat, sondern ein Einheitsstaat.

BZ: Mit dem Versuch den Osten 1 : 1 auf Westniveau zu bringen, hat man den Menschen falsche Hoffnungen gemacht. Die Folgen waren schlimm.
Schäuble: Mit der Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion und mit der Wiedervereinigung wollten wir schon, dass die Menschen in der ehemaligen DDR an den Gewährleistungen der sozialen Marktwirtschaft und des Sozialstaats von Anfang an in vollem Umfang teilhaben. Genau deswegen ist auch das Durchschnittseinkommen in der Bevölkerung nicht gesunken, sondern von einem Tag auf den anderen erheblich gestiegen. Das hat natürlich diesen Prozess finanzpolitisch teuer gemacht. Das war aber richtig und notwendig.

BZ: Allein durch den Solidarpakt I sind 94,5 Milliarden Euro in den Aufbau Ost geflossen. Durch den Solidarpakt II, der noch bis 2019 läuft, weitere 156,5 Milliarden Euro. Ist das der richtige Weg?
Schäuble: Das ist der Weg, den man einvernehmlich verabredet hat zwischen Bund und allen Ländern, um dem Gebot des Grundgesetzes Rechnung zu tragen. Es ist ja nicht nur ein rechtliches Gebot, sondern ein politisches. Das ist die konkretisierte Solidarität in der gemeinsamen Bundesrepublik Deutschland.

BZ: Wird so der Osten irgendwann auf eigenen Füssen stehen?
Schäuble: Ja. Das ist schon der richtige Weg. Er funktioniert auch. Er hat ja in den 20 Jahren uns vielfältig voran gebracht. Die Hilfen sind verabredet. Der Solidarpakt II ist vereinbart bis zum Jahr 2019.

BZ: Die Milliardenhilfen sind vor allem in den Bau von Autobahnen geflossen. Das schafft aber noch keine Arbeitsplätze.
Schäuble: Man musste die Infrastruktur in Ostdeutschland, die war ja fast auf dem Stand von Vorkriegszeiten, auf ein modernes wettbewerbsfähiges Niveau bringen.

BZ: Dennoch sehen junge Leute für sich keine Zukunft in den neuen Bundesländern. Sie wandern in den Westen ab.
Schäuble: Wir haben neben der Deutschen Einheit eine demographische Veränderung in unserer Bevölkerung, die nicht unerheblich ist. Verbunden mit einer starken Binnenwanderung führt das zu starken demographischen Verschiebungen. Das ist wahr. Darin steckt gewiss auch ein Problem. Aber das ist nicht nur durch die Einheit begründet, sondern in der demographischen Entwicklung. Im übrigen gehen auch viele junge Menschen zum Zwecke des Studiums in die neuen Bundesländer. Junge Menschen unterscheiden ja nicht mehr, zwischen solchen, die aus den neuen und solchen, die aus den alten Bundesländern kommen. Das ist für junge Menschen, die nicht älter als 30 Jahre alt sind, überhaupt kein Thema mehr.

BZ: Bleibt die soziale Marktwirtschaft der Kitt aller Regierungsparteien?
Schäuble: Ja.

BZ: Auch für die Linke?
Schäuble: Die Linke war aber nie ein Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft. Ich finde man sollte die Linke überhaupt nicht an politischer Verantwortung und schon gar nicht an der Regierungsverantwortung beteiligen. Aber ich muss Wählerentscheidungen respektieren. Wir jedenfalls haben nicht die Absicht die Linke an der Bundesregierung zu beteiligen. Das wäre auch nicht gut für Deutschland.

BZ: In Berlin wird die Trennung bei jeder Wahl wieder spürbar. Im Osten liegt die Linke weit vorne. Im Westen teilen sich im Wesentlichen SPD, Grüne und CDU die Stimmen auf. Wie erklären Sie sich das?
Schäuble: Das hat auch was mit der unvollendeten Revolution zu tun. Manche Leute sagen, wenn man die Nationalsozialisten 1949 bei der Bundestagswahl hätte kandidieren lassen – Gottseidank kam niemand auf die Idee – hätten sie wahrscheinlich auch noch ganz erhebliche Stimmenanteile bekommen. Wenn eine Revolution so war, wie sie in der DDR verlaufen ist, dann haben diejenigen, gegen die sich die Revolution zu Recht gerichtet hat, hinterher die Chance, ihre Verantwortung für die Vergangenheit zu verwischen. Das war in anderen Ländern nicht anders. Auch in Polen, in Ungarn, in Tschechien, in der Slowakei, in vielen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes hatten wir in der Zwischenzeit postkommunistische Regierungen. Das steckt in diesem friedlichen Charakter. Und natürlich sagen die Menschen auch heute, die Frage ist nicht so entscheidend, was in der Vergangenheit war, sondern, wer uns die besten Lösungen für die Zukunft zu versprechen scheint.

BZ: 20 Jahre nach dem Mauerfall sind Sie Finanzminister. Die Schulden der öffentlichen Haushalte betrugen zum 30. Juni 2009 insgesamt 1602 Milliarden Euro. Dann sind wir noch in einer Wirtschaftskrise. Wie groß ist eigentlich Ihr Spielraum?
Schäuble: Den Spielraum haben wir in den Koalitionsvereinbarungen definiert. Es ist eine ungewöhnlich angespannte Lage, aber das hat nun relativ wenig mit der Deutschen Einheit und viel mit der Weltwirtschaftskrise zu tun. Deswegen müssen wir zunächst schauen, dass wir gut durch und gut aus der Krise herauskommen. Und dann müssen wir wieder alles daran setzen diese zu hohe Verschuldung zurückzuführen. Das wird nicht leicht sein, sehr anstrengend, aber es geht.

BZ: Viele trauen Ihnen dieses schwierige Amt zu. Freuen sich über Ihre neue Aufgabe?
Schäuble: Ich habe mich über das Zutrauen gefreut. Ich habe gesagt, das ist eine ehrenvolle Zumutung. Denn dieses Amt ist schon außergewöhnlich herausfordernd. Die Lasten sind groß. Ich habe Herrn Steinbrück in den letzten Jahren nicht beneidet. Und jetzt beneide ich mich selbst nicht einmal.

BZ: Können Sie da auch scheitern?
Schäuble: Damit muss jeder in der Politik rechnen, dass er auch scheitern kann. Immer. Das müssen Sie sich jetzt von einem etwas älteren Menschen sagen lassen. Das gehört zum Leben ganz zwingend dazu. Wenn Sie aus Angst vor dem Scheitern aber nichts unternehmen, dann nutzen sie Ihre Gaben nicht. Das steckt schon in dem biblischen Gleichnis von den Talenten. Man soll die anvertrauten Talente nutzen und nicht aus Angst, dass man scheitern könnte, vergraben. Das war der ungetreue Knecht in jenem biblischen Gleichnis. Wer hinreichend bibelfest ist, kann das auch verstehen.

BZ: Als Innenminister galten Sie zuletzt als streng. Werden Sie als Finanzminister milder sein?
Schäuble: Ich bin einer milder Mensch. Mein Wahlspruch ist « fortiter in re, suaviter in modo ». Das heißt: In der Sache klar, aber in der Art, wie man es vertritt, möglichst freundlich.

BZ: Wie hat sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland durch die Wiedervereinigung verändert ?
Schäuble: Frankreich ist immer dafür eingetreten, das haben die Deutschen nicht vergessen, dass dieses Deutschland den Weg zurückfindet in die Gemeinschaft der Völker auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa. Und Frankreich hat sich immer auch für die Überwindung der Deutschen Teilung eingesetzt. Natürlich hat man überall in Europa, als sich die Situation plötzlich angebahnt hat, einen Moment überlegt, was heißt das jetzt? Wird Deutschland wieder größer, wird sich die Rolle verschieben? Wir Deutschen haben sehr darauf geachtet, dass wir nicht sagen: „Wir sind plötzlich wieder wichtiger als andere“, sondern „Wir sind auf Freundschaft und Partnerschaft angewiesen.“

BZ: In den vergangenen Jahren hat es aber in der deutsch-französischen Zusammenarbeit viele Misstöne gegeben…
Schäuble: …ich weiß jedenfalls, dass Präsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel ganz entschlossen sind, eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit und Freundschaft zum Nutzen der europäischen Entwicklung und zum Nutzen beider Länder weiter stark zu entwickeln. Und wer immer in Deutschland einen gewissen Sinn für Geschichte hat, fühlt sich gerade zu bewegt, dass Frankreich heute eine große Feier zum Fall der Mauer in Paris veranstalten wird. Das hat mehr als nur symbolische Bedeutung. Das ist Ausdruck wirklicher Freundschaft. Darauf lässt sich bauen.

BZ: 20 Jahre nach dem Mauerfall haben wir wieder eine schwarz-gelbe Koalition. Sie haben schon unter Helmut Kohl gedient und jetzt unter Angela Merkel. Was ist anders und was vergleichbar?
Schäuble: Erst einmal: Man dient nicht „unter“. Man hat Bundeskanzler und man ist loyal, aber die Demokratie beruht nicht auf Unter- und Überordnung, sondern es ist eine unterschiedliche Verantwortung. Darüber hinaus ist die Welt heute eine völlig andere als vor 20 Jahren. Alles ist anders. Das heißt auch, dass die Art, wie man regiert, anders ist.

BZ: Und wie?
Schäuble: Wir sind viel stärker eingebunden in europäische und internationale Prozesse als in früheren Zeiten. Die Globalisierung trifft uns viel stärker und unmittelbarer als man sich das vor 20 Jahren vorstellen konnte. Daraus ergeben sich viel mehr Lebensmöglichkeiten, gerade auch für die jüngere Generation. Aber es gibt auch ganz neue Herausforderungen. Die jungen Menschen sollten wissen. Es gibt keinen Grund nostalgisch zu sein. Es war früher nicht besser. Die Lebensmöglichkeiten sind größer als sie zu irgend einer Zeit gewesen sind.

BZ: Die deutsche Bundeskanzlerin ist in der DDR aufgewachsen und hat dort gelebt. Welche Eigenschaft von Angela Merkel ist denn typisch ostdeutsch?
Schäuble: Ich glaube sie hat mehr Vorlieben für andere Speisen als ich als Baden-Württemberger, der Maultaschen und Schäufele und Linsen und Spätzle besonders gerne isst.

(c) Badische Zeitung, Freiburg