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Welt am Sonntag: Herr Schäuble, der ukrainische Präsident Selenskij hat uns Deutschen vergangene Woche die Leviten gelesen und uns vorgeworfen, für die Bundesregierungen habe über Jahrzehnte allein der Handelsaustausch mit Russland gezählt. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Wolfgang Schäuble: Seit Michail Gorbatschow und dem Fall der Mauer haben wir alle gehofft, dass wir mit Russland eine wirkliche Partnerschaft aufbauen können. In einer solchen Partnerschaft sind enge Handels- und Wirtschaftsbeziehungen etwas positives. Man kann uns vorwerfen, dass wir die Worte Wladimir Putins nicht sorgfältig beachtet haben. Aber wer hätte vor ein halben Jahr vorausgesehen, dass er zu einem großen Krieg in Europa bereit ist? Ich nicht, und ich bin entsetzt. Ich habe gerade Tim Bouveries Buch „Mit Hitler reden“ gelesen. Darin geht es um das Appeasement. Die Debatte in den 30er-Jahre besitzt schreckliche Parallelen zur Gegenwart. Aber noch einmal: Wer hätte vor drei Monaten geahnt, dass es zum großen Krieg kommt? Ich habe es zu meinen Lebzeiten nicht mehr für möglich gehalten, in eine derartige Krise mit Russland zu kommen. Ich kann mich erinnern, wie ich als Schüler am 17. Juni 1953 vor dem Radio gesessen habe und verfolgte, wie die russischen Panzer durch Berlin fuhren. Dann kam 1956 der Einmarsch in Ungarn und 1962/63 die Kuba-Krise. Doch seit den 70er-Jahren schwand das Bewusstsein für brenzlige Lagen. Deswegen ist es nicht ganz gerecht, Angela Merkels Rolle in der deutsch-russischen Energiepartnerschaft nun zu kritisieren. Allerdings hätte nach der Besetzung der Krim, Nordstream 2 nicht mehr auf den Weg gebracht werden dürfen.
Welt am Sonntag: War es ein Betrug oder Selbstbetrug, von Nordstream 2 als einen privatwirtschaftlichen Projekt zu sprechen?
Schäuble: Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich diesen Pipeline-Bau für falsch gehalten habe. Es war auch falsch, dass wir einem Verkauf der deutschen Gasspeicher an Gazprom zugestimmt haben. Es hätte uns auch alle stutzig machen müssen, dass die Speicher im vergangenen Herbst halbleer waren. Aus heutiger Sicht stank das zum Himmel. Putin hatte genau das beabsichtigt.
Welt am Sonntag: Trotzdem kommt mir Selenskijs Argumentation zu simpel vor: Zieht man solche Menschen wie Altkanzler Schröder ab, spielt bei den Deutschen nicht nur der Handel, sondern doch mindestens genauso die realpolitische Einsicht eine Rolle: Russland ist der große Elefant im Raum. Selbst wenn wir nichts mit ihm zu tun haben wollen, ignorieren oder gar aus Europa herausdrängen können wir ihn nicht.
Schäuble: Ja, so haben wir alle gedacht. Aber so wie die Ukraine nun leiden muss, müssen wir Selenskijs Kritik verstehen. Es ist ja auch einiges dran an seinen Worten. Richtig war auch sein Satz: Eure Anteilnahme nützt mir wenig. Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Waffen. Gerade in dieser Lage müssen wir uns kritisch selbstbefragen. Jahrzehntelang haben wir von den Schutzversprechen der Amerikaner profitiert. Nun dürfen wir keine Sonderrolle spielen und immer die Letzten bei der Unterstützung eines derart bedrängten Volkes zu sein. Es war falsch, über Jahre die Verbündeten mit dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato hingehalten zu haben. All diese Fehler müssen wir schnellstens und dauerhaft korrigieren.
Welt am Sonntag: War es ein Fehler oder war es im Sinne von George F. Kennan politisch weise, die Ukraine 2008 nicht in die Nato aufgenommen zu haben? Kennan, immerhin Vater der Containment-Politik hatte schon 1997 den Westen davor gewarnt, seine Bündnisse auf dem ehemaligen Gebiet des Sowjetimperiums auszuweiten.
Schäuble: Aus heutiger Sicht war es ein Fehler, der Ukraine beim Nato-Gipfel in Bukarest 2008 keine feste Aufnahmeoption gegeben zu haben. Damals allerdings war ich auch skeptisch. Auch ich dachte, wir müssen mit Russland kooperieren. Heute weiß ich: Ich lag falsch, wir alle lagen falsch.
Welt am Sonntag: Wie empfinden Sie die Haltung der US-Präsidenten Joe Biden in der gegenwärtigen Krise?
Schäuble: Joe Biden ist ein Glücksfall. Wie ich ist er ein Kind des Kalten Krieges, kein Abenteurer, aber einer, der klar Rote Linien benennt und keinen Zweifel zulässt, dass der Westen einen Angriff auf Nato-Gebiet auf keinen Fall akzeptieren wird. Im Kalten Krieg wurde breit über das Buch von General Maxwell Taylor „The Uncertain Trumpet“ diskutiert. Taylor betonte unter anderem darin, dass Abschreckung nur funktioniert, wenn es klare Ansichten und Ansagen gibt. Biden hat Taylor offenbar noch gut im Gedächtnis. Zum Glück. Allerdings heißt das für Länder, die vor den Roten Linie liegen, dass es sehr schwer für sie werden könnte. Etwa für Moldavien. Wie gehen wir mit einem möglichen Nato-Beitrittsgesuch Finnlands und Schwedens um? All das sind Fragen, die wir nun beantworten müssen. Sie erfordern ein gewisses Maß an Härte, die auch wir Deutschen zeigen müssen.
Welt am Sonntag: Was meinen Sie?
Schäuble: Es wird bitter, aber ich denke, wir müssen schnellstmöglich auf russische Gas- und Öllieferungen verzichten. Wir dürfen nicht immer der Bremser im westlichen Bündnis sein. Die atlantische Solidarität, die wir genießen durften, ist keine einseitige Sache. Putin muss verstehen, dass wir keine „Uncertain Trumpet“ sind. Wir dürfen nicht zurückzucken, wenn es für uns unangenehm wird. Er muss wissen, für unsere Art zu leben – für unsere Freiheit, sind wir bereit auch substantielle Opfer bringen.
Welt am Sonntag: Sollten wir Finnland und Schweden in die Nato aufnehmen, wenn es die Regierungen wünschen?
Schäuble: Natürlich! Die NATO bedroht niemanden. Sie war immer ein Defensivbündnis.
Welt am Sonntag: Wir haben nach 1989 massiv von der „Friedensdividende“ und der Öffnung Osteuropas profitiert. Unsere eigene Verteidigungsbereitschaft haben wir im Vertrauen auf eine glückliche Zukunft massiv vernachlässigt. Sind die Deutschen mental wirklich bereit für die „Zeitenwende“, die nun beschworen wird? Glauben Sie, dass wir im Ernstfall unsere Freiheit so entschlossen verteidigen würden wie die Ukrainer?
Schäuble: Ich hoffe, dass wir niemals auf diese Probe gestellt werden. Die Geschichte auch die der Deutschen zeigt: Je größer der Druck, umso größer ist die Fähigkeit, sich zügig anzupassen. Ohne Krisen bewegt sich leider kaum etwas. Das ist auch der Grund, warum wir in den vergangen Jahrzehnten in mancherlei Hinsicht schwerfällig und überreguliert geworden sind. In der EU haben wir nicht einmal hinbekommen, die Sommerzeit zu vereinheitlichen. Ja, vielleicht ging es uns zu gut. Nun aber wird es schneller gehen. Auch Europa muss und wird sich bewegen. Wir werden einen Schub hin zu einer Vertiefung erleben.
Welt am Sonntag: Sie haben eben die 30er-Jahre erwähnt. Ist das, was Macron oder auch Scholz erlebt haben, das München-Trauma dieser Politikergeneration?
Schäuble: Leider ja. Zwar sollte man Putin nicht mit Hitler vergleichen, aber das Scheitern der um Frieden bemühten Regierungschefs ist unser München-Moment.
Welt am Sonntag: Dann folgt daraus aber auch: mit Putin lässt sich keine Verständigung finden.
Schäuble: Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Das, was Putin gerade treibt, ist das Gegenteil von dem, was in russischem Interesse ist. Man muss sich nur die Fundamentaldaten der russischen Wirtschaft oder die Demografie in Russland anschauen. Das Streben nach Größe allein wird Russland auf Dauer nicht von seinen gravierenden Problemen bewahren.
Welt am Sonntag: Wird es Bundeskanzler Olaf Scholz gelingen, vor allem seine eigene Partei, aber auch die Grünen dauerhaft bei der Unterstützung seiner Sicherheitspolitik zu halten?
Schäuble: Ich wünsche es mir für unser Land. Als ehemaliger Finanzminister weiß ich: Das Zurverfügungstellen von 100 Milliarden Euro löst noch kein einziges Problem der Bundeswehr. Es muss auch sinnvoll ausgegeben werden. Das wird einige Jahre brauchen. Die Ausstattung der Bundeswehr und die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels müssen über mehre Legislaturperioden hinaus Bestand haben. Völlig unabhängig von der Frage, ob dafür eine Änderung des Grundgesetzes nötig ist, sollte man gerade in einer solchen Krise mit der Opposition zusammenarbeiten.
Welt am Sonntag: Das erste Mal seit der Kuba-Krise müssen wir uns wieder mit den Risiken eines Atomkriegs beschäftigen. Oder ist das zu hysterisch?
Schäuble: Nein, das ist leider nicht hysterisch. Das ist die traurige Realität. Allerdings ist auch klar: Ein Atomkrieg war nie führbar. Das haben viele bis heute nicht verstanden. Abschreckung heißt: Sie so glaubwürdig zu gestalten, dass dem Gegner der Einsatz von Atomwaffen nicht in den Sinn kommt, will er nicht selbst vernichtet werden. Deswegen ist Abschreckungspolitik Friedenspolitik.
Welt am Sonntag: War US-Präsident Donald Trump eine Ausnahme oder ist Biden eine Ausnahme?
Schäuble: Jedenfalls haben wir jetzt erst einmal zweieinhalb Jahre Zeit, um das anzustoßen, was schon John F. Kennedy gefordert hatte: die Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato und eine gerechte Lastenverteilung. Außerdem müssen die Europäer nach mehr Gemeinsamkeiten mit den USA im Umgang mit China suchen. Ich habe es für sehr bedenklich gehalten, dass die Europäer noch auf dem letzten Drücker kurz vor Bidens Amtsantritt das Investitionsabkommen mit China in Kraft gesetzt haben. Man hätte auf den neuen Präsidenten und dessen Position warten müssen. Darüber hinaus hoffe ich, dass die russische Gefahr auch in der amerikanischen Innenpolitik Veränderungen bringen wird. Das Land war schon immer von großen Gegensätzen geprägt. Von daher ist es falsch, diese Spaltung als ein Trump-Phänomen zu charakterisieren. Aber ich bin guter Hoffnung, dass durch die gegenwärtige Krise auch die Republikaner nach einem gewissen außenpolitischen Konsens suchen werden.
Welt am Sonntag: Wie immer der Krieg in der Ukraine ausgehen wird, ist wohl bereits jetzt abzusehen, dass wir einer neuen Weltordnung entgegengehen. Wie wird Sie Ihrer Meinung nach aussehen?
Schäuble: Idealiter wird es eine Weltordnung sein, in der die Europäer ein entscheidender Teil sind. Das wird aber nur gemeinsam gehen. Die EU wird sich institutionell wesentlich verändern müssen. Sie wird sich auch schnell erweitern müssen. Der westliche Balkan, Serbien, muss beitreten dürfen. Gleichzeitig wird die Erweiterung nur gelingen, wenn wir verschiedene Stufen der Integration schaffen. Die Blaupause dafür steht schon im Schäuble/Lamers-Papier von 1994.
Welt am Sonntag: Und global gesehen?
Schäuble: Ich finde den Gedanken sehr reizvoll, ein Bündnis der freiheitlichen Demokratien anzustreben. Darin müssen alle Mitglieder ein gewisses demokratischen Mindestmaß erfüllen. Sie sollten immer dann gemeinsam auftreten, wenn es die Freiheit zu verteidigen gilt. Das würde den Diktatoren das Fürchten lernen. Putin hat keine Angst vor der Ukraine, genauso wenig wie China Angst vor Hongkong hat. Beide haben Angst vor der Freiheit. Sie wissen, dass Freiheit und Demokratie ansteckend sind. Leider hat sich der Westen oft selbst nicht an seine Ideale gehalten, aber wenn er es tut, dann sind diese Ideale ungeheuer attraktiv. Deswegen sind Autokraten so nervös, wenn sie den Freiheitswillen in der Nachbarschaft wittern.