Klicken Sie hier, um zum Beitrag zu gelangen. Interview: Tomáš Lindner
Präsident Selensky hat vorige Woche in seiner Videobotschaft im Bundestag Deutschlands langzeitige Politik gegenüber Russland scharf kritisiert. In einer aktuellen Beliebtheitsumfrage, die der ukrainische Botschafter in Prag auf Twitter teilte, waren nur Ungarn, China, Belarus und Russland unbeliebter in der Ukraine als Deutschland. Wie verstehen sie diese ukrainische Sicht auf Deutschland?
Die deutsche Politik muss das zur Kenntnis nehmen. Also müssen wir uns fragen, was wir falsch gemacht haben und versuchen, dies zu korrigieren. Die Bundesregierung hat nach dem Überfall auf die Ukraine entsprechend reagiert, und es gibt seitdem einen breiten Konsens in der deutschen Politik, dass diese Korrektur notwendig ist. Wir haben eine Politik gemacht, deren Ziel es war, Russland zur Partnerschaft zu ermutigen – und haben nicht ernst genug genommen, was man längst hätte sehen können.
Russland hat sich spätestens nach der Niederschlagung von Demonstrationen im Jahr 2012 klar in Richtung Diktatur entwickelt und wurde auch in der Aussenpolitik aggressiver, definitiv sichtbar war es nach der Annexion der Krim 2014. Wieso hat sich die deutsche Politik nicht eher korrigiert?
Ich habe als Mitglied der Bundesregierung die damalige Reaktion auf die Besetzung der Krim und das Schüren des Krieges im Donbass als richtig erachtet. Unser Ziel war es, die Gefahr einer nicht kontrollierbaren Eskalation gering zu halten. Inzwischen muss man sehen, dass es wahrscheinlich nicht der richtige Ansatz war. Aber das nützt jetzt auch nichts.
Die Gas Pipeline Nord Stream 2 wurde erst ab 2015 gebaut, also ein Jahr nach Putins erstem Krieg in der Ukraine. Wieso wurde nicht lieber der Weg in Richtung größerer Diversifizierung der Energiequellen und größerer Unabhängigkeit an Russland gegangen?
Ich habe auch schon als ich noch Mitglied der Bundesregierung war nicht verheimlicht, dass ich Nord Stream 2 skeptisch gegenüber stehe. Mehr möchte ich dazu aber nicht sagen.
Aktuell drängt Präsident Selensky auf ein europäisches Embargo auf russisches Gas, wofür die EU weiterhin täglich hunderte Millionen Euro in Putins Kasse spült. Deutschland bremst wieder und warnt vor einer massiven Krise ohne russische Versorgung. Sie waren lange Finanzminister, wie schlimm wären ihrer Meinung nach die Auswirkungen eines Embargo auf die deutsche Wirtschaft?
Die entscheidende Frage ist doch – und das hat auch Wirtschaftsminister Robert Habeck klar gesagt -dass wir bei solchen Maßnahmen sicher sein müssen, dass wir sie auch durchhalten. Deswegen verstehe ich die Position der Regierung so, dass sie das, was sie tut, mit dem Ziel macht, dass die Bevölkerung diese Maßnahmen dauerhaft mitträgt. Wir sollten uns jedenfalls darauf vorbereiten, notfalls auch ohne russisches Öl und Gas auskommen zu müssen.
Hat Deutschland im Zusammenhang mit der Ukraine etwas gut gemacht?
Ich hoffe, dass man in der Ukraine sieht, dass wir unsere Fehler einsehen. Darüber hinaus gibt es in der Gesellschaft ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft. Die Ukrainer wollen nicht unser Mitleid sondern unsere Unterstützung. Wir müssen uns natürlich bemühen, unsere menschliche Verpflichtung gegenüber den Geflüchteten gut wahrzunehmen. Zudem liefern wir jetzt das, was wir an Waffen liefern können, und ich halte es für richtig, dass die Regierung darüber nicht viel redet. In solchen Zeiten muss man tun, was man tun kann – und das ist aktuell leider wenig.
Wie ist das möglich?
Der furchtbare Krieg in der Ukraine ist auch eine Bedrohung für uns, die Ukraine führt diesen Kampf auch für Deutschland, auch für Tschechien und viele mehr. Das müssen wir verstehen und – auch wenn es uns schwer fällt – akzeptieren. Lange Zeit hielten wir das nicht für denkbar was gerade geschieht. Spätestens seit 1990 dachten wir nicht mehr, dass Landesverteidigung, Bündnisverteidigung etwas ist, das wir wirklich brauchen. Im Zuge der sogenannten 2 plus 4 Verhandlungen im Vorfeld der Wiedervereinigung wurde die maximale Truppenstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann festgelegt. Diese deutliche Reduktion der gesamtdeutschen Streitkräfte im Vergleich zu Bundeswehr und NVA war ja auch Ausdruck des Gefühls, dass der Frieden in Europa nicht mehr bedroht ist und wir nur von Freunden als Nachbarn umgeben sind. Die Verteidigungsdoktrin der Bundeswehr widmete sich überwiegend Auslandseinsätzen, und erst Mitte des letzten Jahrzehnts ist Landes- und Bündnisverteidigung im offiziellen Aufgabenspektrum der Bundeswehr überhaupt wieder genannt. Man kann also erklären, warum die Notwendigkeit von Verteidigung unterschätzt wurde.
Jetzt kommt es wohl zur Rückkehr in die Zeiten der Konfrontation, an die meine Generation – die Anfang der 80er geborenen – sich nicht erinnert und deren Konsequenzen sie wohl noch nicht völlig versteht. Was erwartet uns ihrer Meinung nach? Wie müssen sich unsere Gesellschaften verändern, um in der neuen Zeit zu bestehen?
Ich hoffe wirklich, dass die Kräfte in der Welt, die einsehen, dass wir schon so viele andere grosse Sorgen haben, insgesamt stark genug sind. Die Bedrohung der natürlichen Grundlagen, also der Klimawandel und der genauso wichtige Verlust an Artenvielfalt und all die anderen Krisen verschwinden ja nicht. Und dazu kommt es infolge des Krieges noch zu einer Ernährungskrise, weil die Ukraine ein wichtiger Lieferant von Grundnahrungsmitteln ist – und Russland im Übrigen auch. Die Vereinigten Staaten und China sind auf hoher Ebene im Gespräch und es ist wichtig – und offen -, wie sie mit der Situation umgehen. Bis zum Überfall auf die Ukraine dachten wir ja, dass die große weltpolitische Konfrontation zwischen den USA und China ausgetragen wird. Man muss hoffen, dass es eine vernünftige Phase der Kooperation angesichts der globalen Herausforderungen gibt.
Ist es nicht unabdingbar, dass wir in eine Ära größerer Konfrontation eintreten?
Das hoffe ich nicht: es gibt doch verschiedene Szenarien der weiteren Entwicklung. Ich gebe zu, ich bin seit dem Überfall auf die Ukraine sehr bedrückt, aber in der Politik darf man diesen Gefühlen nicht nachgeben, man muss – so furchtbar alles auch ist – jeden Tag versuchen, die Lage so realistisch wie es nur geht einzuschätzen. Man muss einsehen, was bislang falsch gemacht wurde, die Kritik ernst nehmen und daraus bessere Schlussfolgerungen ziehen. Aber zu sagen, dass sowieso alles schief und in Richtung einer Konfrontation geht, wäre die falsche Antwort.
Sie schreiben in ihrem letzten Buch, dass der kalte Krieg die westlichen Gesellschaften geeint hat, dass er den Menschen im Westen auch Identität gab, das Gefühl auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Wird es nun wieder so kommen oder ist die heutige Situation anders?
Gemeinsame Bedrohungen führen zusammen, und wenn die Bedrohung verschwindet, dann geht diese Bindung zunehmend verloren. Hier liegt also eine Chance, insofern bringen Krisen, so schrecklich sie sind, immer auch Chancen. Wir sehen jetzt auch, dass wir viel stärker auf das Bündnis mit den Amerikanern angewiesen sind, als wir es nach den Erfahrungen mit der Präsidentschaft des Vorgängers von Joe Biden gerne sein wollten. Wir brauchen so lange wie möglich eine so eng wie mögliche Zusammenarbeit mit den Amerikanern. Das sahen viele in Europa und auch in Deutschland bis vor kurzen anders. Wir können nur von Glück reden, dass wir jetzt Biden als Präsidenten haben.
Erwarten Sie, dass nun Spannungen zwischen Westeuropa und den postkommunistischen Mitgliedstaaten innerhalb der EU abnehmen? Dass die Länder in Mittel- und Osteuropa dank ihrer aktiven Rolle in der Ukraine mehr Respekt bekommen?
Das findet schon statt. Die Reise der drei Ministerpräsidenten nach Kiew war ein großes und sehr gutes Symbol, sie hat viele beeindruckt – vor allem in den europäischen Mitgliedsstaaten und auch in Brüssel, wo man nicht ganz vorbehaltlos zu sein schien. Dennoch: eigentlich sollte jeder voller Begeisterung reagieren und sagen ja, so wünschen wir uns Europa!
Was bedeutet das größere Gewicht der Osteuropäer für die weitere Integration der EU? Denn die postkommunistischen Regierungen sind weiterhin eher euroskeptisch.
Ich habe ja meine spezifische Erfahrung von der Arbeit bei der deutschen Wiedervereinigung und habe diese auch auf Europa übertragen. Ich gehörte in der deutschen Politik immer zu denen, die gegen harte Kritik an Osteuropäern argumentierten. Mir gefällt nicht jede innenpolitische Entwicklung in jedem EU-Land, auch in Deutschland nicht, aber ich hielt diese Kritik oft für überzogen. Der grosse Erfolg der europäischen Politik war ja die Überwindung der europäischen Teilung – und diesen Erfolg darf man nicht gefährden. Man muss bereit sein, die Lebenserfahrung der Anderen anzuerkennen und auch den Fakt sehen, dass die Menschen im Osten nach 1990 eine größere Last der Veränderung tragen mussten. Innerhalb Deutschlands ist dies nicht immer gut gelungen und in Europa war es noch komplizierter. Denn natürlich war der Übergang nach dem Kommunismus für die osteuropäischen Gesellschaften nicht einfach.
Wo liegt für sie die Grenze des Verständnisses gegenüber populistischen, autoritären Tendenzen in Mittel-Ost Europa?
Das habe ich auch in meiner Rolle als Bundestagspräsident in vielen Gesprächen mit unterschiedlichen Repräsentanten auf allen Ebenen besprochen. Es ist legitim, in Rechtsfragen verschiedener Meinung zu sein aber am Ende müssen wir die Frage vor Gericht austragen, dafür haben wir den Europäischen Gerichtshof. Und bei der Akzeptanz seiner Entscheidungen sehe ich dann die rote Linie. Wir brauchen zivilisierte Regeln: entweder respektieren wir, dass wir anderer Meinung sind, oder – dort wo wir gemeinsame Regeln und Lösungen brauchen – muss es das Gericht entscheiden.
Sie waren bekannt als Verfechter “Vereinigter Staaten von Europa”, also eines mehr integrierten Europas. Wieviel mehr Integration der EU erwarten sie also in den nächsten Jahren – was ist machbar?
Ich vermute, dass es eher schneller zu einer Erweiterung der EU kommt. Ich bin seit Langem der Meinung, dass wir den Ländern des westlichen Balkans eine schnellere Beitrittsperspektive geben sollten – und der Ukraine jetzt sicherlich auch. Ich bedauere, dass der Europäische Rat in Versailles den Ukrainern in dieser Sache nicht mehr entgegengekommen ist. Wir müssen zu den Prinzipien zurückkommen, dass die, die etwas zusammen vergemeinschaftlichen wollen, es in kleineren Staatengruppen tun können. Als Ganzes braucht die EU mehr Gemeinamkeit bei Verteidigung und Sicherheit innerhalb des NATO-Bündnisses, bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen sowie bei der Klimapolitik.
In einem Interview sagten sie: “Man muss behutsam sein, wenn man Europa voranbringen will. Ich bin da auch zurückhaltender geworden. Das habe ich im Laufe der Jahrzehnte gelernt.” Was meinten sie damit?
Es kam aus der Erkenntnis, dass am Ende offenbar die Bindung der Bürger an ihre Nationalstaaten – nicht in allen Ländern, aber in vielen – stärker ist als ich dachte. Das muss man respektieren, denn diese Bindekräfte braucht eine freiheitliche Demokratie, sonst ist sie nicht stabil. Das habe ich gelernt, ich sah es früher anders. Politik muss nicht nur an dem, was man einmal als erkannt glaubte, festhalten. Politik muss immer von der Betrachtung der Realität, von Veränderung ausgehen. Dann ist sie fähig, aus Fehlern die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Ganz im Sinne der Lehre von Karl Popper.
Die letzten zehn Jahre erscheinen als Dauerkrise: Finanz- und Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Pandemie und nun Krieg in der Ukraine. Ist diese Akkumulation von Krisen, die alle als historisch erscheinen, Zufall oder gibt es tiefere Zusammenhänge?
Vermutlich gab es in früheren Zeiten auch gleichzeitig viele Krisen, wir haben sie nur nicht in dem Ausmaß wahrgenommen, weil wir erst dank der modernen Medien die Entwicklungen in allen Teilen der Welt so stark teilen. Ich habe aber den Eindruck, dass sich gerade durch die modernen Informationstechnologien das Tempo der Entwicklung, der Veränderungen unglaublich beschleunigt hat. Wahrscheinlich ist diese Beschleunigung der gemeinsame Nenner der Krisen und auch der Grund, warum sie so schwierig zu lösen sind. Entwicklung findet schnell statt und sowohl Natur als auch wir Menschen haben Mühe, uns schnell genug anzupassen.
Es scheint, dass keine der grossen Krisen wirklich gelöst ist, dass sie eher eingefroren wurden und jederzeit wieder auftauen können. Kommt Europa bislang aus all den Krisen des letzten Jahrzehnts schwächer oder stärker hervor?
Es bewegt sich schon etwas, zum Beispiel bei der Klimapolitik. Da man aber bei allem, was man tut, nicht sicher weiß, ob es sich in ein paar Jahren nicht als Fehler herausstellt, kann man auch sagen, dass wir es dadurch, dass wir nicht alles so schnell voranbringen, vielleicht schaffen, noch erratischere Ausschläge zu vermeiden. Das ist dann die positive Interpretation einer unsicheren Wirklichkeit.
Aufmerksamkeit und Zeit sind begrenzt. Schaffen es Spitzenpolitiker und Staatsapparate mehrere Krisen gleichzeitig zu bewältigen?
Wenn Krisen kommen, dann muss die Politik sich mit ihnen auseinandersetzen.
Ich meinte eher, ob wegen neuen Krisen nicht das lösen der älteren vergessen wird? Sie haben zum Beispiel 2017 als Finanzminister bei dem deutschen Vorsitz der G20 Länder die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas zur Priorität erklärt, als Prävention von Massenmigration, die damals als die Top Krise galt. Es entstanden anspruchsvolle Pläne, der sogenannte Compact for Africa, doch dann kam Korona, Klima, Ukraine und man hört wenig darüber. Sind die Pläne in der Schublade gelandet?
Nein, überhaupt nicht. Auch in Afrika ist vieles in positiver Bewegung, die Afrikanische Union wird selbstbewusster, bei dem diesjährigen gemeinsamen Gipfel auch gegenüber der EU. Das ist auch gut.
Sie werden als Langzeitgedächtnis der deutschen Politik bezeichnet, weil sie nun schon 49 Jahre als Abgeordneter arbeiten. Wie würden sie die Politiker in den 70er bzw 80er Jahren mit den heutigen vergleichen? Deren Typus, Charakter, Weltsicht, soziales Umfeld. Ist die Arbeitswoche des Abgeordneten heute anders als vor 40 Jahren?
Demokratische Politik ist ja nicht zu trennen von Öffentlichkeit, sie ist unmittelbarer Teil der Arbeit eines Abgeordneten. Wir werben immer um Zustimmung, nicht nur bei Wahlen. Und der starke Wandel der Öffentlichkeit aufgrund moderner Medien und Kommunikationsformen verändert auch die Arbeit der Politiker. Abgeordnete haben heute viel mehr Informationsmöglichkeiten, sie beschäftigen sich viel mehr mit Details und Einzelfragen. Ob das besser ist oder nicht, ist dann eine andere Frage, man kann da verschiedener Meinung sein, und ich will es ausdrücklich nicht bewerten. Damals wie heute gilt: wenn sie die Arbeit als Abgeordneter nicht befriedigt, dann sollten sie es auch nicht machen. Politik ist eine Leidenschaft.
Sie schreiben in ihrem Buch, dass die deutsche Politik weniger Perfektionismus braucht – was meinen Sie damit?
Wir versuchen, gerne Regelungen so perfekt zu machen, dass sie am Ende nicht pragmatisch sind und ein Übermaß an Bürokratie hervorrufen. Das sehen wir gerade wieder bei der Debatte um die Coronabekämpfung. Wir müssen wieder lernen, dass Entscheidungen immer auch negative Aspekte haben – es ist dann die Aufgabe politischer Führung, Entscheidungen so zu treffen, dass sie sich nicht selbst ad absurdum führen.
Und werden Entscheidungen in der Spitzenpolitik heute anders als damals getroffen?
Damals gab es schon eine stärkere Hierarchie in Fraktionen und Parteien. Aber jetzt am Beispiel Ukraine sehen wir, dass kurzfristig fundamentale Richtungsentscheidungen getroffen werden müssen, die den basisdemokratischen Beteiligungsvorstellungen einiger in der Regierungskoalition diametral entgegensetzt sind.