Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit Anni Dietzke vom Tagesspiegel. Klicken Sie hier, um zum Interview zu gelangen.
Herr Schäuble, Sie sitzen seit einem Unfall 1990 im Rollstuhl. Wie oft wurde diese Tatsache in den vergangenen Jahrzehnten thematisiert, vor allem in Bezug auf Ihre politische Karriere?
Eigentlich relativ wenig. Ich bin nach der Verletzung Ende 1990 / Anfang 1991 – nach den Wahlen und im Angesicht der Koalitionsverhandlungen – relativ schnell, schrittweise, wieder in den Politikbetrieb zurückgekehrt und musste mich natürlich selber mit der neuen Situation erst einmal zurechtfinden. Das war nicht leicht und ein relativ anstrengender Prozess der Rehabilitierung, bei dem man sich an die neue Lebenssituation als Querschnittsgelähmter gewöhnen muss. Aber: die Aufnahme in den politischen Betrieb in Bonn war ausgesprochen positiv. Natürlich haben viele, ich selber ja auch, nicht so genau gewusst: Wie ist das mit einem Rollstuhlfahrer? Aber es ging ganz gut – ich war ja auch Mitglied der Regierung und wollte keine Sonderkonditionen, gerade im Hinblick auf den politischen Wettbewerb, den Streit um die bessere Meinung.
Hatten Sie den Eindruck, dass aufgrund der erlangten Behinderung Ihre Position auch mal in Frage gestellt wurde?
Ich habe mich zunächst ja auch selber in Frage gestellt! Am Anfang konnte ich mir das gar nicht vorstellen, weil ich auch eine schwere Kieferverletzung und ähnliches mehr hatte. Da fragt man sich natürlich selber: Werde ich das denn überhaupt können? Das ist ja keine Selbstverständlichkeit. Dennoch dachte ich schon: Ich kann das ja auch alles als Rollstuhlfahrer machen. Aber dann kam wiederum die Frage: Wie werde ich den öffentlichen Druck und die öffentliche Beobachtung aushalten?
Also Druck von außen und innen?
Das sind Fragen, die man sich selber stellt, aber die auch von außen völlig legitim sind. Wenn Sie im Rahmen des repräsentativen Systems Menschen beauftragen, besondere Aufgaben zu erfüllen, dann müssen diese ja dazu auch in der Lage sein. Das muss jeder auch akzeptieren, dass man dann fragt: Kann er das überhaupt? Insofern ist man dann auch unter dem Druck, den man sich selber macht, ob man die Aufgabe erfüllen und den Erwartungen gerecht werden kann.
Und trotzdem haben Sie sich das zugetraut?
Ich war, als ich schwerbehindert wurde, Innenminister der Bundesrepublik Deutschland und kein Mensch, der als Schwerbehinderter in die Politik gegangen ist. Ich war bereits in der Politik und war dann schwerverletzt. Das war eine besondere Situation. Man kann aus meiner Erfahrung keine Schlüsse ziehen für andere. Als Innenminister war die öffentliche Anteilnahme auch eine völlig andere. Das war damals ein paar Tage lang ein relativ spannendes Thema. Das muss man auch aushalten können.
Sie konnten das aushalten?
Ich hatte nicht nur die Querschnittsverletzung, sondern auch einen Schuss in den Oberkiefer bekommen. Ich habe dann zu der Klinikleitung in Langensteinbach gesagt: Ich glaube, ich muss mal eine Pressekonferenz machen, um auszuprobieren, ob ich diese ganze psychische Belastung, fotografiert zu werden, aushalte. Und dann habe ich hinterher gesagt: Ich glaube, ich halte es aus. Ich bin offenbar im Nehmen doch relativ hart.
Gab es etwas, was Sie auch bestärkt hat in dieser Zeit?
Die öffentliche Anteilnahme ist natürlich etwas, was einen auch bestärkt. Das fördert ja auch die eigene Eitelkeit. Ich habe aber auch immer gesagt: Ich bin ja durch die Tatsache, dass ich behindert bin, kein besserer Mensch geworden – was Ihnen übrigens meine Frau bestätigen kann.
Wie bereit war der Bundestag in den 90er Jahren für einen Politiker im Rollstuhl?
Der Bundestag war damals natürlich nicht „bereit“, zum Beispiel gab es am Anfang keine rollstuhlgerechten Toiletten. Mit der deutschen Perfektion ist dann der Bundestag mit behindertengerechten Toiletten ausgestattet worden. Es ist aber immer noch – auch im Alltag – ein bisschen beschwerlich.
Sie sprechen den Vergleich von damals zu heute schon an. Was hat sich über die Jahre noch verbessert?
Die Erfahrung damals für die Öffentlichkeit und den Bundestag, einen querschnittsgelähmten Abgeordneten zu haben, war neu. Aber die Art, wie die Politik und auch die Medien darauf reagiert haben, die hat mich immer sehr positiv beeindruckt. Heute ist natürlich Vieles besser geworden, die Inklusion ist viel besser geworden.
Haben Sie ein Beispiel für die verbesserte Inklusion?
Die Paralympische Bewegung ist wirklich toll, die Lebensfreude und die Leistungen, die schwerbehinderte Sportler erbringen. Das ist, glaube ich, das richtige Verständnis von Inklusion: Jeder und jedem im Rahmen seiner Möglichkeiten die Chance zu geben, ein Stück weit sich selbst zu verwirklichen.
Sollte es auch mehr Menschen mit Behinderung in der Politik geben, um dort die Inklusion zu fördern?
Mein Verständnis von Repräsentation ist das nicht. Jeder, der eine bestimmte gesellschaftliche oder politische Aufgabe erfüllt, muss sich für alle verantwortlich fühlen. Das war auch eines meiner Kernanliegen in meiner Ansprache als Alterspräsident bei der Konstituierung des Bundestages. Deshalb sollten wir möglichst gute Politiker haben. Es sollte keine Rolle spielen, ob Frau oder Mann, behindert oder nicht behindert, jung oder alt. Es sollte auf die Qualifikation ankommen.