Im Interview mit dem Magazin FOCUS vom 24. November 2014 über europäischen Reformbedarf, Steuermoral und den Wert eines ausgeglichenen Bundeshaushalts.
Focus: Herr Minister, nur Angela Merkel hat mehr Regierungsjahre als Sie hinter sich. Unter den Bundesministem dürften Sie schon bald Norbert Blüm mit der bislang längsten Amtszeit überholen, wenn wir alle Stationen zusammenzählen. Kein Abgeordneter sitzt so lange im Bundestag. Was motiviert Sie, sich jeden Morgen noch mal diesen Ruck zu geben?
Wolfgang Schäuble: Ich mache das aus Freude an der Arbeit.
Focus: Geht es auch um Macht?
Schäuble: Für mich ist entscheidend, Dinge gestalten zu können, etwas zu beeinflussen. Da bin ich durchaus ehrgeizig. Dagegen habe ich es nicht so furchtbar damit, wenn rote Teppiche ausgerollt werden. Natürlich willst du eher wichtig sein als unbeachtet bleiben. Wer das bestreitet, kennt den Menschen nicht und sich selber im Zweifel auch nicht. Das wäre nicht ehrlich.
Focus: Wie viel Härte braucht man für Ihren Job – gegen sich selbst und andere?
Schäuble: Als Bundesfinanzminister brauchen Sie das schon: Die Summe der Wünsche ist größer als der Betrag an Geld, das da ist. Immer. Die Mehrheit der Menschen will mehr staatliche Leistungen, weniger Steuern und keine Schulden. Das lässt sich gleichzeitig gar nicht erreichen. Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht als Finanzminister: Je mehr Geld da ist, umso hemmungsloser soll es ausgegeben werden.
Focus: Das würde bedeuten: Ihre ersten vier Amtsjahre, die mit einer extrem schwierigen Finanzlage – nämlich der höchsten Neuverschuldung in der bundesdeutschen Geschichte begonnen haben, waren leichter, als das, was Sie jetzt erleben?
Schäuble: Ja, in dieser Hinsicht schon. Der Finanzminister hat es leichter, wenn alle die Lage desolat finden. Das ist eine demokratische und menschliche Urerfahrung: Der Erfolg birgt immer die Gefahr in sich, dass er sich selbst wieder auffrisst. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder neue Ziele zu setzen. Das Leben ist auf Bewegung angelegt, nicht auf Stillstand.
Focus: Sie erreichen in dieser Woche ein politisches Ziel: Der Deutsche Bundestag beschließt erstmals seit 46 Jahren einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden. Ist Ihnen das persönlich so viel wert wie Ihr Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung?
Schäuble: Nein. Die deutsche Wiedervereinigung ist ein Ereignis, das in jeder Hinsicht so viel schwerer wiegt. Wenn Sie mich schon so persönlich fragen: Ich bin stolz darauf, meinen Beitrag mit dem Aushandeln des Einigungsvertrags und dem damit vorgegebenen Weg geleistet zu haben. Das war ein starkes und anstrengendes Stück Arbeit.
Focus: Und was ist mit der Stabilisierung des Euro?
Schäuble: Das ist noch immer Arbeit.
Focus: Sie haben den Euro schließlich gewollt – als Super-Europäer wie auch Kanzler Kohl.
Schäuble: Ich will den Euro auch immer noch. Jetzt müssen wir einen starken Impuls setzen, dass wir gemeinsam und entschlossen die Entscheidungsstrukturen in der Euro-Zone verbessern. Die Gelegenheit dafür ist günstig. Denn wir haben ein neues Parlament und eine neue Kommission.
Focus: Wie soll ein solches Signal aussehen?
Schäuble: Wir müssen zeigen, wie wir weiter in Richtung Fiskalunion gehen wollen. Das bedeutet, dass sich die Staaten der Euro-Zone verbindlich zu weniger Schulden verpflichten. Dass wir den Euro unumstößlich dauerhaft verankern wollen, muss klar sein. Bei der Bankenunion haben wir das erreicht, bei der Fiskalunion noch nicht.
Focus: Staaten, die sich nicht an die Regeln halten, können sich mangels Sanktionen nach wie vor durchmogeln.
Schäuble: Mir wäre am liebsten, wenn eine europäische Institution die Regeln durchsetzen würde. Dafür brauchen wir aber eine Vertragsänderung. Das erfordert ein einstimmiges Votum von 28 Mitgliedsländern und ist daher nicht so einfach. Aber wir sollten bis dahin mindestens den Währungskommissar mit den gleichen Rechten wie unsere Wettbewerbskommissarin ausstatten. Wenn die feststellt, dass ein Land die Wettbewerbsfreiheit verletzt, dann lässt sich das nicht mehr mit politischen Kompromissen weg verhandeln.
Focus: Sie wollen, dass der Währungskommissar den Haushalt eines Mitgliedslandes etwa wegen zu hoher Schulden zurückweisen kann?
Schäuble: Ja. Der Währungskommissar soll ein Vetorecht gegen Haushalte bekommen, die gegen die Euro-Stabilitätskriterien verstoßen. Das verletzt das nationale Budgetrecht nicht. Die Parlamente in den betroffenen Mitgliedsstaaten können immer noch selbst entscheiden, ob sie ihre Ausgaben kürzen, die Steuern erhöhen oder andere wachstumsfördernde Reformen einleiten. Wir hätten mit diesem Veto ein starkes Signal, dass wir unsere gemeinsamen Verpflichtungen auch wirklich einhalten wollen. Daher hoffe ich, dass die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel im Dezember die glaubwürdige Botschaft senden, diesen Weg zu gehen.
Focus: Sie sind an der deutsch-französischen Grenze aufgewachsen – in Baden. Kommt daher Ihre Begeisterung für ein gemeinsames Europa?
Schäuble: Vielleicht ist es auch genetisch geprägt. Mein Vater war auch schon ein begeisterter Europäer. Als Kind bin ich in der französischen Besatzungszone groß geworden. In unserem Haus war ein Offizier untergebracht. Ich verbinde damit keinerlei negative Erinnerungen. Im Gegenteil: Das war ein sehr freundlicher Mann. Ich weiß aber selbst nicht, ob das wirklich meine wichtigste Triebfeder ist.
Focus: Was denn dann?
Schäuble: Ich versuche ja, die Welt zu verstehen. Anderswo wächst die Zahl der Menschen viel schneller, in Europa – insbesondere in Deutschland – geht sie zurück. Europa kann nur noch eine Rolle spielen, wenn wir in der Welt gemeinsam auftreten.
Focus: Von den Vereinigten Staaten von Europa hören wir aber nichts mehr. Warum?
Schäuble: Eine alternde Wohlstandsgesellschaft wie unsere ist nicht veränderungswillig. Damit müssen Regierungschefs umgehen. Sonst verlieren sie die nächste Wahl.
Focus: Also ändern Politiker lieber nichts?
Schäuble: Bei Krisen oder Katastrophen geht Veränderung ganz schnell. Für politische Strategien heißt das: Wenn sich nicht viel erreichen lässt, dann ist offenbar der Leidensdruck noch nicht groß genug. Sobald sich die Lage zuspitzt, geht es dann schon. Europa ist in großen Krisen entscheidend vorangekommen.
Focus: Setzen Sie also auf die Krise?
Schäuble: Überhaupt nicht. Ich bin nur gelassen. Wenn wir keine Krise haben, ist es ja gut. Dann muss man aber auch seinen Gestaltungswillen ein bisschen zähmen.
Focus: Aber warum nicht „Vereinigte Staaten von Europa“?
Schäuble: Der Begriff löst die Assoziation „Vereinigte Staaten von Amerika“ aus. Und wir haben auf Grund unserer Geschichte nicht die nationale Unbekümmertheit der Amerikaner. Aber der Begriff ist eigentlich gut.
Focus: Wenn wir über Höhen und Tiefen reden, dann liegen die bei Ihnen ganz dicht zusammen – politisch wie persönlich: Unmittelbar nachdem die deutsche Wiedervereinigung im Oktober nach Ihrem Plan vollzogen war, wurden Sie Opfer eines schrecklichen Attentats. Wie haben Sie wieder Lebensmut gefasst?
Schäuble: Neun Tage später war das. Aber so ist das im Leben: Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – das liegt dicht beieinander, nicht nur bei mir.
Focus: Aber Sie sind schon so etwas wie ein Comeback-Künstler.
Schäuble: Irgendwann ist das Leben vorbei. Aber bis dahin bewegt es sich. Bei den unerwarteten und unerfreulichen Wendungen wissen wir nie, wozu es gut ist und was es bringt. Diese Offenheit macht das Leben interessant.
Focus: Politisch kann das frustrierend sein. Der vor 25 Jahren in Deutschland gelüftete Eiserne Vorhang geht jetzt wieder weiter östlich – in der Ukraine – runter. Es riecht nach 1914.
Schäuble: Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist jetzt 100 Jahre her. Doch wir haben gelernt aus der Geschichte. Vielleicht müssen wir eine Zeit damit leben, dass Russland nur begrenzt kooperiert. Aber wir wollen und werden auch mit Russland wieder zusammenarbeiten. Voraussetzung ist, dass sich die Russen an die Regeln halten und auf militärische Aktionen oder sonstige Mätzchen verzichten.
Focus: Wo nehmen Sie die Hoffnung auf so viel Einsicht her?
Schäuble: Russlands Präsident Putin unterschätzt total, wie abstoßend seine Methoden auf Menschen wirken, die sich in vielen osteuropäischen Staaten die Freiheit erkämpft haben. Diese Entschlossenheit hören Sie auch bei unserem Bundespräsidenten heraus und bei Angela Merkel, selbst wenn die das nie so sagen würde.
Focus: Als gelassener Optimist bekennen Sie sich zu dem Satz des französischen Philosophen Albert Camus, dass wir uns die griechische Sagengestalt Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen müssen. Haben Sie jetzt mit Ihrer schwarzen Null eine Last den Berg hochgewuchtet, die Ihnen bald wieder ins Tal rast?
Schäuble: In diesem Satz von Camus steckt übrigens viel Weisheit. Sie können aber auch den Mann aus dem Schwarzwald direkt fragen: Was machen Sie, wenn Sie auf dem Gipfel sind? Sie haben nur zwei Möglichkeiten: Sie bleiben entweder für immer oben, oder Sie gehen wieder runter, irgendwann. Ich sage Ihnen: Am besten sind Sie abends wieder im Tal, in der Hütte. Da ist es gemütlich warm, und Sie bekommen noch etwas zu essen. Und am nächsten Tag können Sie zum nächsten Gipfel aufbrechen.
Focus: Also die nächste Herausforderung: Wo liegt die, wenn der Haushalt ohne neue Schulden auskommt – im Tilgen?
Schäuble: Ich habe meinen Leuten zur schwarzen Null immer gesagt: Hängt das tiefer. Denn ich erlebe vor allem zwei Reaktionen: Die einen sagen, dass das nur mein persönlicher Ehrgeiz ist. Und die anderen klagen: Der Schäuble tilgt ja nichts. Ich bin aber schon zufrieden, dass der Sachverständigenrat, die Wirtschaftsforschungsinstitute und die Bundesbank diese Linie richtig finden.
Focus: Aber bei den Investitionen sollten Sie mehr tun, was Sie nun auch angekündigt haben. Zehn Milliarden Euro – auf mehrere Jahre bis 2018 gestreckt. Warum ist nicht mehr drin?
Schäuble: Da sollten Sie auch nicht auf die Zahlen hereinfallen, die ständig in die Welt gesetzt werden. Die immer wieder behauptete Investitionslücke in angeblich zwei- oder dreistelliger Milliardenhöhe gibt es in dieser Größe nicht. Wenn ich höre, dass die Verkehrsminister den Bedarf für die Straßen auf 7,5 Milliarden Euro jährlich beziffern, kann ich nur warnen: Diesen angeblichen Auftragsstau könnte die Bauwirtschaft gar nicht abarbeiten.
Focus: Schlaglöcher, Staus und gesperrte Autobahnbrücken sind aber Fakten.
Schäuble: Das bestreite ich überhaupt nicht. Aber die Bauwirtschaft ist gut ausgelastet. Da können wir nicht wie wild in den Boom rein investieren. Ich habe diese zehn Milliarden genannt, um ein Signal zu setzen und um die europäische und internationale Finanzwelt zu beruhigen: Wir machen nicht nur keine neuen Schulden mehr, sondern wir investieren auch. Das ist nicht wirklich neu, aber jetzt überall angekommen.
Focus: Ein psychologischer Trick, damit Sie Ihre Finanzpolitik weiter ungestört betreiben können nach dem Prinzip Langeweile?
Schäuble: Verlässlichkeit. Darin liegt auch der Wert der schwarzen Null. Sie symbolisiert, dass wir Ziele, die wir uns setzen, auch erreichen. Diese Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit bei den öffentlichen Finanzen ist sehr wichtig für eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Die beruht nämlich bei Verbrauchern wie bei Investoren auf Psychologie.
Focus: Statt der schwäbischen Hausfrau, an der sich Kanzlerin Angela Merket gern orientiert, erledigt das ihr badischer Hausmann im Kabinett.
Schäuble: Ich bin da eine Mischung. Meine Mutter, an die ich eine liebevolle Erinnerung habe, war schon eher eine schwäbische Hausfrau. Als solche hat sie auch wunderbare Maultaschen gemacht.
Focus: Und gespart?
Schäuble: Ja, aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit. Unsere Eltern waren anständig. Dazu gehört, dass man nicht betrügt. Dass man nicht Steuern hinterzieht, auch nicht im Kleinen. Wenn meine Mutter partout kein Kleingeld für die Parkuhr hatte, ist sie am nächsten Tag wieder hingefahren, um die zwei Groschen nachträglich einzuwerfen. Man bezahlt, was bezahlt werden muss.
Focus: Dieses Prinzip scheint bei politischen wie wirtschaftlichen Eliten nicht mehr sehr weit verbreitet. Ihr Freund Jean-Claude Juncker, jetzt Präsident der EU -Kommission, hat als Finanzminister und Regierungschef in Luxemburg aggressive Steuergestaltungsmodelle gefördert. Fühlen Sie sich dadurch getäuscht?
Schäuble: Das war mir nicht neu. Aber Luxemburg ist nicht der einzige Fall. Das machen viele in Europa. In Irland haben wir einen hohen Preis dafür gezahlt. Aber es ergibt keinen Sinn, nur auf die zu schimpfen. Solche Möglichkeiten werden gnadenlos von jedem, der kann, genutzt. Die Liste derer, die in Luxemburg entsprechende Institutionen zum Steuersparen haben, ist ein Who’s who der deutschen Wirtschaft. Auch auf bestimmten Inseln in der Karibik mit funktionierenden Rechtsordnungen finden Sie so etwas vor. Das ist aber ein Wettbewerb, der nicht in Ordnung ist.
Focus: Gegen den ein deutscher Finanzminister hilflos ist?
Schäuble: Ich kämpfe seit Jahren gegen die Auswüchse dieses unfairen Wettbewerbs. Wir kommen steuerrechtlich innerhalb der EU nur langsam voran, weil da Entscheidungen nur einstimmig fallen können. Deshalb haben wir die Kommission gebeten, diese Steuermodelle mal unter dem Aspekt des fairen Wettbewerbs in der EU zu prüfen. Das gilt für das Luxemburger Modell, für das irische und das holländische Modell.
Focus: Sehen Sie konkrete Ergebnisse?
Schäuble: Bislang verschieben Unternehmen ihre Gewinne über Lizenzgebühren in Länder, die dafür Niedrigsätze anbieten. EU -Mitgliedsstaaten sollten das künftig nur noch dann einräumen dürfen, wenn die Lizenzen von einem im Land selbst tätigen Wirtschaftsunternehmen kommen. Lizenzen, die bisher einfach nur zum Steuersparen über die Grenze gehen, würden wir dann nicht mehr als Betriebsausgabe anerkennen. Sie müssten dann in Deutschland versteuert werden. Wir kommen voran.
Focus: Was wiegt schwerer: der direkte Steuerschaden in den deutschen Etats oder die moralische Komponente, weil normalen Bürgern und mittleren Unternehmen solche Möglichkeiten nicht zur Verfügung stehen?
Schäuble: Der moralische Schaden ist natürlich enorm. Das Recht muss für alle und jeden gelten. Wenn sich bestimmte Gruppen nicht angemessen an der Finanzierung der öffentlichen Haushalte beteiligen, stimmt etwas nicht. Niemand erwartet vollständige Gerechtigkeit, aber es muss wenigstens fair zugehen. Denn das ist die Voraussetzung für Akzeptanz. Dessen sollten sich die wirtschaftlichen Eliten stärker bewusst sein. Über das große Versagen, auch bei Menschen, von denen man mehr erwartet hätte, kann man sich nur wundem.
Focus: Können Sie Managern kreative, aber legale Steuergestaltung vorwerfen, wenn diese im Sinne ihrer Aktionäre gar nicht anders dürfen?
Schäuble: Na ja. Ob sie wirklich verpflichtet sind, sich bei ihrer persönlichen Lebensführung so aufzuführen, wie es manche tun oder getan haben, wage ich zu bezweifeln. Sie sind bestimmt auch nicht verpflichtet, ihr ererbtes Vermögen in Liechtenstein vor der Steuer in Sicherheit zu bringen. Und dass in großen börsennotierten Dax-Gesellschaften im Zweifel das Management einen höheren Anteil des Ertrags vor Steuern bekommt als die Aktionäre, ist ein Thema für Corporate Governance.
Focus: Also die Grundsätze guter Unternehmensführung, für die auch die Politik den Rahmen setzt.
Schäuble: Ja. Ich setze zwar auf Selbstregulierung. Aber die Eliten müssen aufpassen, dass sie nicht abheben und sich damit abkoppeln vom Rest der Gesellschaft. Wenn der Eindruck entsteht, ihre Firma sei ein Selbstbedienungsladen für Vorstände, schadet das der Firma.
Focus: Sind Konzerne dafür anfälliger als Familienunternehmen?
Schäuble: Das deutsche Familienunternehmen ist ja wirklich stark, weil es gelernt hat, in Generationen zu denken. Das ist der Vorteil unseres Systems im Vergleich zur Kapitalmarkt-Fixierung in den angelsächsischen Ländern. Wenn wir uns da zu sehr anpassen, droht der Verlust an Wertorientierung bei Menschen, die sich wie Elite verhalten sollten, es aber nicht tun. Das gilt auch für Politiker. Wir müssen Vorbild sein, weil wir in der Verantwortung stehen.
Focus: Wo Sie Vorbild sind: Sie arbeiten selbst noch mit 72 engagiert in einer Regierung mit, die eine abschlagfreie Rente mit 63 beschlossen hat. Zeigen Sie damit nicht persönlich, dass die Menschen im Land wegen der Demografie eher länger als kürzer arbeiten müssen?
Schäuble: Wir verbieten doch niemandem, länger tätig zu sein – von wenigen Ausnahmen mal abgesehen. Für politisches Engagement gibt es bislang keine Altersgrenze. Es ist vielmehr daran gebunden, dass man von anderen dafür beauftragt werden muss. Da entscheiden also die Wähler. Und deswegen habe ich nicht die Absicht, mich dafür zu entschuldigen, dass mich die Wähler im Wahlkreis Offenburg bei vollem Bewusstsein über mein Alter bis 2017 gewählt haben.
Focus: Wer Sie sehr gut kennt, weiß zwar, dass Sie extrem fleißig sind, aber sich immer Zeit für Sport und Familie nehmen.
Schäuble: Ich halte überhaupt nichts von der Selbstinszenierung als Workaholic, wie das viele Politiker oder Manager machen. Wenn solche Menschen wirklich sieben Tage die Woche 16 Stunden arbeiten, kann ja nur Unsinn rauskommen. Nicht mal Helmut Schmidt hat das auch wirklich praktiziert. Er ist ja ein toller Musiker. Wenn ich zwei Stunden Handbike fahre, fällt mir unter Umständen mehr Gescheites ein, als wenn ich mich im Ministerium mit den Akten herumschlage.