„Die Pandemie ist eine große Chance“



Neue Westfälische, 20.08.2020

Seinen Urlaub hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) in Schleswig-Holstein verbracht. Gut erholt und mit dem gelassenen Blick des erfahrenen Politikers gibt er an seinem ersten Arbeitstag nach der Sommerfrische unserer Zeitung ein Interview.

Herr Präsident, wie ist unsere Demokratie unterwegs? Haben wir Diskussions- und Erneuerungsbedarf?

WOLFGANG SCHÄUBLE: Diskussionsbedarf besteht in einer Demokratie immer. Die Pandemie hat zu Veränderungen geführt, mit denen niemand gerechnet hat. Es ist nur menschlich, wenn wir die bislang völlig unbekannte Gefahr der Pandemie betrachten, dass wir uns innerlich immer noch dagegen sträuben, die Bedrohung zu akzeptieren. Wir denken: Irgendwie wird es schon wieder so wie vorher. Aber die Spuren der Pandemie werden länger und tiefgreifender sein, als wir uns das heute vorstellen können. Dazu kommen andere Herausforderungen wie der Klimawandel, die Globalisierung und Digitalisierung. Das alles zu Grunde gelegt, ist unsere Demokratie viel besser, als wir oft über sie reden. Politik und Gesellschaft, wir alle haben gut reagiert. Die Debatte funktioniert und das Parlament funktioniert. Unser Land ist eine lebendige Demokratie. Und abseits der Pandemie: Die SPD hat sogar schon einen Kanzlerkandidaten, die Grünen werden auch jemanden benennen und die CDU wird einen neuen Parteivorsitzenden wählen und gemeinsam mit der CSU einen Kanzlerkandidaten bestimmen. Insgesamt hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt: Der liberale Rechtsstaat ist nicht am Ende, sondern die beste Antwort auf die Herausforderungen. Unsere Demokratie kann all diese Probleme offenbar besser als jedes andere System lösen, auch wenn wir im Nachhinein betrachtet, wahrscheinlich nicht immer alles richtig gemacht haben werden.

Auch mit wilden Demonstrationen der unterschiedlichsten teils skurrilen Strömungen, ohne Rücksicht auf Corona-Regeln?

SCHÄUBLE: Proteste sind ja immer ein Hinweis darauf, dass es Klärungsbedarf gibt. Deshalb habe ich früh die Demonstrationen gegen die Corona-Regeln verteidigt. Ich halte viele Meinungen, die da geäußert werden, für völligen Unsinn. Aber es ist gut, dass sie dort geäußert werden. Davon lebt Demokratie.

Die Koalitionen bei den Demonstrationen sind aber sehr schräg. Denen geht es doch nicht um die Sache.

SCHÄUBLE: Man kann sich nicht immer vor Beifall von der falschen Seite schützen. Gar nichts gegen diesen falschen Beifall zu unternehmen, ist allerdings auch nicht richtig. Es ist deshalb wie immer in der Demokratie ein Abwägen. Das gehört zur Verantwortung aller Bürger.

Demokratie funktioniert besser als andere Staatsformen? Dabei sind die Prozesse doch oft so quälend lang und langsam.

SCHÄUBLE: Demokratie ist langsam. Demokratie ist schwierig. So ist es. Jetzt geht es darum, dass Europa sich bewähren und eine größere Rolle übernehmen muss.

Wie meinen Sie das?

SCHÄUBLE: Wir leben seit sieben Monaten mit der Pandemie und Europa hat sich schon schneller bewegt als vorher. Aber Europa als Ganzes muss mehr Verantwortung übernehmen, gerade auch in der in der Sicherheits-und Verteidigungspolitik. Das gilt unabhängig davon, wer in den USA im November zum Präsidenten gewählt wird. Dieses Ziel lässt sich mit dem Einstimmigkeitsprinzip nur schwer vereinbaren. Daher sollten diejenigen vorangehen, die das wollen. Unter der Bedingung allerdings, dass immer derjenige dazu kommen kann, der dazu bereit und in der Lage ist. Das muss pragmatisch möglich sein.

Gilt das auch für das Corona-Hilfspaket?

SCHÄUBLE: Ja, die EU muss ihren Mitgliedern aber stärker deutlich machen, wofür sie 750 Milliarden Euro bekommen und wofür nicht. Schon bisher haben die Mitgliedstaaten längst nicht alle Mittel aus Brüssel abgerufen, vor allem ärmere Länder nicht. Wir brauchen deshalb konkrete Vorschläge, wie die Hilfen zielgerichtet investiert werden, und es ist eine stärkere Kontrolle nötig. Und dann müssen wir den Bürgern erklären, dass es in unserem Interesse ist, wenn Italien und anderen Staaten geholfen wird. Denn es geht Deutschland nur so lange gut, wie es Europa gut geht.

Da war Ihre Haltung als Finanzminister in der Finanz- und Wirtschaftskrise aber eine andere. Da haben Sie auf dem Geld gesessen.

SCHÄUBLE: Überhaupt nicht, ich denke schon immer sehr stark europäisch. Meine Haltung ist aber klar: Die Entscheidung, wofür Geld ausgegeben wird, und die Haftung dafür dürfen nicht auseinanderfallen. Und wenn einzelne Länder Geld bekommen, müssen sie gewisse Voraussetzungen erfüllen. Das wollten sie in der Vergangenheit nicht.

Ist das jetzt anders?

SCHÄUBLE: Die Corona-Krise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer. Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen – auf der Grundlage der Überzeugung, dass derjenige, der entscheidet, auch die Verantwortung dafür übernimmt. In diese Richtung haben wir uns mit dem Hilfspaket bewegt.

Könnte die Bevölkerung dem nun auch eher folgen?

SCHÄUBLE: Davon bin ich überzeugt. Ich will die Pandemie nicht verharmlosen, wenn ich feststelle: Große Krisen sind große Chancen.

Ist denn in Deutschland der Föderalismus die richtige Form, um Problemen zu begegnen?

SCHÄUBLE: Im Föderalismus liegt eine Stärke unseres Landes. Wir können nicht alle Fragen einheitlich beantworten. Der Föderalismus muss sich jedoch immer wieder aufs Neue bewähren, die Länder müssen sich nicht nur in der Corona-Krise untereinander abstimmen. Das haben sie im Wesentlichen gut hinbekommen. Das Prinzip ist richtig, erfordert aber immer die Bereitschaft zur Korrektur.

Es wird jedoch der Wettlauf der Lockerungen unter den Ministerpräsidenten kritisiert.

SCHÄUBLE: Die Bevölkerung möchte einheitliche Lösungen, aber wenn sie die bekommt, schüttelt sie oft den Kopf. Wir müssen immer wieder erklären, dass der föderale Wettbewerb ein Ringen um die beste Lösung ist. Damit sind wir im Ergebnis gut gefahren. Wenn es einer übertreibt, stellt sich bald heraus, dass er auch nur mit Wasser kocht.

Apropos: Wie schauen Sie auf den Wettlauf um den CDU-Vorsitz?

SCHÄUBLE: Wir haben drei Kandidaten, die alle qualifiziert sind. Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen: alle haben ihre Leistungen erbracht.

Wenn Annegret Kramp-Karrenbauer, mit ihrer Ankündigung den Vorsitz abzugeben noch etwas gewartet hätte, wäre die CDU nun nicht mit der schwierigen Suche nach Nachfolgern befasst.

SCHÄUBLE: Es ist eigentlich müßig, darüber nachzudenken, aber so viel kann ich sagen: Ich bin ihr, gegen meine Gewohnheit, während ihrer Erklärung im Parteipräsidium ins Wort gefallen, aber da war die Nachricht auch schon verbreitet. Unabhängig davon: Es wird eine neue Erfahrung für die Union sein und auch für Deutschland, dass die Kanzlerin wahr macht, was man Politikern im Allgemeinen nicht zutraut . . .

. . . dass sie auch macht, was sie angekündigt hat?

SCHÄUBLE: Dass sie selbst entscheidet, wann ihr Amt endet, wann sie aufhört. Angela Merkel hat die Chance, selbstbestimmt aufzuhören, und das hat sie auch verdient.

Verändert das Politik oder die Parteien?

SCHÄUBLE: Beides verändert sich ständig. Der Abschied von Konrad Adenauer führte in einen langen Übergang. Der Abschied von Helmut Kohl hatte Folgen für die CDU. Problematischer als solche normalen Wechsel ist, dass Parteien überall in der westlichen Welt eine viel geringere Rolle spielen als vorher. Sie haben Schwierigkeiten, Menschen dauerhaft für sich zu interessieren. Dennoch ist unser System geeignet und anpassungsfähig genug, solche Veränderungen und Herausforderungen zu meistern.

Zu einem ganz anderen Thema: Wie stark ist unsere Demokratie durch Radikalismus vor allem von Rechts gefährdet? Selbst in Kreisen von Polizei und Justiz hat sich diese Haltung vorgefressen.

SCHÄUBLE: Auch dort arbeitet ein Querschnitt der Bevölkerung. Es wäre verwunderlich, wenn wir in Verwaltung, Justiz und Polizei nicht auch Probleme hätten wie insgesamt in der Gesellschaft. Diese Probleme dürfen nicht verharmlost werden, sondern müssen verfolgt und bestraft werden. Wir haben es uns lange nicht vorstellen können, dass es unter Rechtsextremen so viele Leute gibt, die systematisch Waffen sammeln und Morde vorbereiten. Auch ich nicht. Das ist bereits durch die NSU und nun wieder durch den Prozess um den Mord an Walter Lübcke ans Licht gekommen. Das macht mich fassungslos.

Im politischen Raum macht die AfD rechtes Gedankengut salonfähig.

SCHÄUBLE: In meiner Funktion als Bundestagspräsident achte ich sehr auf Gleichbehandlung aller im Bundestag vertretener Parteien. Auch die AfD-Abgeordneten sind gewählt. Ich bin aber kein politisches Neutrum, und ich habe kein Interesse am Erfolg von Extremen. Es ist Aufgabe aller demokratischen Kräfte, um die Zustimmung der Bevölkerung zu werben, sie von ihren Vorstellungen zu überzeugen. Wenn extreme Positionen anwachsen, hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass etwas im Argen liegt. Dann ist die Demokratie gefordert zu handeln. Sie kann es besser als jedes andere System.

Das Interview führten Carsten Heil und Thomas Seim