Namensartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Mai 2014.
„La Grande Illusion“, die große Illusion, ist der Titel des Meisterwerkes von Jean Renoir über das Ende des alten und die Wurzeln des neuen Europas. Seine überragende inhaltliche wie formale Qualität wird schon dadurch deutlich, dass Joseph Goebbels ihn 1937 direkt verbot. Große Illusionen gibt es viele in diesem Film. Eine der schwerwiegendsten Fehleinschätzungen ist der Glaube, dass allein der gute Wille, die Werte und die Humanität der handelnden Akteure ausreichen, um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationen, Schichten und Religionen friedlich zu gestalten. Eine weitere Illusion ist es zu glauben, dass es nach den verheerenden Weltkriegen keinen weiteren Krieg auf europäischem Boden geben könne, da die wirtschaftlichen Verflechtungen einfach zu groß seien. Aber die größte Illusion ist der Glaube, dass Kriege in Europa ein Mittel sein können, politische Ziele zu erreichen. Es ist eine der vielen Qualitäten von Jean Renoir, dass es ihm gelingt, uns diese Illusionen als solche subtil vorzuführen.
Zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und ein gemeinsamer okzidentaler Wertekanon allein reichten und reichen in Europa nicht aus, um ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Wir brauchen institutionelle Regeln, die Europas Demokratien unauflöslich miteinander verbinden, so dass es nur noch miteinander und nicht gegeneinander in Europa weitergehen kann. Das ist eine der fortdauernden Lehren nicht zuletzt aus dem Ersten Weltkrieg vor hundert Jahren, vor dessen Beginn die Welt bereits einmal global wirtschaftlich vernetzt war und wie heute technologische Revolutionen erlebte. Zu dauerhaftem Frieden hat dies bekanntlich nicht geführt. Erst nach den Schrecken von zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg kehrte die Welt zur Globalisierung und internationalen Zusammenarbeit zurück.
Heute leben wir in Zeiten, die uns diese historische Erkenntnis neu und zum Teil drastisch verdeutlichen: Die Krise in der Ukraine zwingt Europa zu neuer Ernsthaftigkeit und zu größerem Bemühen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Sie zeigt, wie sehr wir Europäer weiter an uns arbeiten müssen, um in der neuen Weltunordnung zu bestehen. Wenn wir auch weiterhin auf die Mittel setzen wollen, von deren langfristigem Erfolg wir überzeugt sind, auf Diplomatie und wirtschaftliche Instrumente, dann müssen wir erst recht stark sein.
Vor zehn Jahren gab es in den Vereinigten Staaten eine selbstbewusste Debatte über einen „unipolaren Moment“. Als einzig wirklich zutreffend an derlei Vorstellungen hat sich das Zeitwort „Moment“ erwiesen. Russland hingegen scheint heute zu glauben, tatsächlich einen „imperialen Moment“ zu erleben. Aber ein Denken und Handeln in imperialen Kategorien offenbart ein Unverständnis dessen, was in der Globalisierung zählt.
In der Globalisierung sind Imperien im klassischen Sinne unmöglich. In der Globalisierung gewinnen die, die früher imperial dominiert wurden, an Wirtschaftskraft, Selbstbewusstsein und Macht. Globalisierung ist ein machtvoller und langfristiger Megatrend – anders als imperiale Landnahme. In der globalisierten Welt ist „soft power“ von entscheidender Bedeutung – also ein attraktives Gesellschaftsmodell, getragen von einer starken Volkswirtschaft.
Diese langfristig wirksamen Faktoren sind momentan nicht auf Russlands Seite, sondern auf der Europas und des Westens. Russlands globale Anziehungskraft für aufstrebende Gesellschaften ist heute nicht besonders groß. Und Russlands wirtschaftliche Aussichten sind gegenwärtig eher trübe. Beides hängt zusammen. Das Land modernisiert sich nicht, auch weil sich die Wirtschaft nicht modernisiert und zukunftsträchtig entwickelt. Gesellschaft und Wirtschaft leiden unter dem Bedeutungsverlust des Industriesektors und der zunehmenden Dominanz des Rohstoffsektors. Die Wirtschaft ist in Russland viel weniger diversifiziert, als sie es noch in der Sowjetunion war: Der Anteil des Öl- und Gasexports am russischen Gesamtexport liegt bei etwa siebzig Prozent.
In Landmassen statt in Märkten zu denken wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Vielleicht erleben wir in diesen Monaten eine Trotzreaktion Russlands, das diese strukturellen Probleme möglicherweise zu ahnen beginnt. Auch Russland muss und wird aber begreifen, dass diese Politik auch wirtschaftlich nicht funktioniert.
Für Europa hat die Ukraine-Krise einen Katalysatoreffekt. Durch sie gewinnt Europa heute auch als Friedensprojekt wieder an Relevanz und an Überzeugungskraft. Bis zum 20. Februar, dem Tag, an dem in Kiew rund achtzig Demonstranten getötet wurden, war es vor allem die Erinnerung an 1914, die wir in diesem Gedenkjahr beschworen haben. Seither ist es auch die Gegenwart, die uns das europäische Friedenswerk kostbar macht – ein Friedenswerk, das seit der Osterweiterung vor zehn Jahren auch in Osteuropa wirkt. Man muss sich nur vorstellen, wie die Lage heute durch die Ukraine -Krise etwa in den baltischen Staaten wäre, wenn Estland, Lettland und Litauen nicht Mitglieder der EU wären.
Die Krise in und um die Ukraine, die noch nicht völlig überwundene Krise im Euroraum und die gewaltigen globalen Herausforderungen, die ja ganz unabhängig von den europäischen Krisen nicht kleiner werden: All das zwingt uns Europäer, unablässig und konsequent an uns zu arbeiten, an unserer Wettbewerbsfähigkeit und an unseren politischen Strukturen. Es geht darum, im weltweiten Systemwettbewerb den Erfolg unseres europäischen Lebensmodells unter schwierigen Bedingungen auch künftig zu beweisen.
Neue Zahlen zeigen die Größe dieser Aufgabe: Für die 34 OECD-Länder wird ein Wachstum im Jahr 2015 von 2,8 Prozent erwartet. In den Ländern der Eurozone sollen es 1,7 Prozent werden. Europa muss aufholen. Wir müssen in Europa mehr erwirtschaften, um unsere „soft power“ zu erhalten und mehr „hand power“ zu finanzieren. Unsere amerikanischen Partner mit ihrer schwierigen Haushaltslage fordern seit Jahren mehr Engagement der Europäer für Sicherheit. Dafür und um vor allem im technologischen Wettbewerb mithalten zu können, brauchen wir nachhaltiges Wachstum. Dies erreichen wir nur durch zukunftsträchtige Investitionen und die nur durch neues Vertrauen in Europa.
Dieses so wichtige Vertrauen in Europa ist spürbar zurückgekehrt. Die Politik hat Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen. Oft schien ja, auch und gerade im politischen Feuilleton, die Ohnmacht der Politik in der Welt des 21. Jahrhunderts als ausgemachte Tatsache. Und selbst wenn sie könnte, wolle sie nicht: Der französische Ökonom Thomas Piketty wurde neulich in dieser Zeitung mit der Behauptung zitiert, die angebliche Ohnmacht der Politik in Europa sei von den europäischen Politikern sorgfältig gehütet (F.A.Z. vom 8. Mai).
Ich erlebe und beobachte anderes. Europa, der Euroraum stehen heute besser da als zu Beginn der Krise. Die am stärksten betroffenen Länder haben begonnen, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch tiefgreifende Strukturreformen wiederherzustellen. Wir haben die Institutionen der Währungsunion verbessert, untereinander Solidarität geübt, Regeln gehärtet – die jetzt hart bleiben und durchgesetzt werden müssen – und Verfahren entworfen, die eine solide Haushalts- und eine nachhaltige Wirtschaftspolitik in Europa wahrscheinlicher machen. Wachstum kehrt zurück, und mit der unvermeidbaren Verzögerung wird auch die Arbeitslosigkeit in Europa wieder sinken.
Auch die Finanzmärkte sind heute besser reguliert. Banken haben mehr Eigenkapital. Die neuen Haftungsregeln in der beginnenden Bankenunion verringern zusätzlich das Risiko aus Bankenschieflagen für die Steuerzahler. Das ist keine Schönmalerei. Auf den Märkten wird dies bei der Einschätzung der Kreditwürdigkeit europäischer Geldinstitute bereits berücksichtigt. Investoren sehen sich die Banken genauer an und werden risikobewusster. Das zeigt, dass die Regeln, die die Politik gegeben hat, wirken. Schritt für Schritt nähern wir uns übrigens in Europa und global auch dem automatischen Austausch von Steuerdaten im Kampf gegen internationale Steuerhinterziehung und -vermeidung.
Das ist überhaupt vielleicht nicht die schlechteste Nebenwirkung der Krisen dieser Jahre: dass wir uns als Gesellschaft neu bewiesen haben, dass Politik auch im 21. Jahrhundert Gestaltungsmacht hat. Und die ist nicht nur bitter nötig. Wir müssen sie in Europa vor allem besser bündeln. Es wird zunehmend unabweisbar, dass Europa in der globalisierten Welt nicht als loser Verbund stets neu und mühsam sich zusammenraufender Nationalstaaten wird bestehen können, sondern nur integriert, stark und einig. Für ein solches Europa brauchen wir langfristig bessere rechtliche Grundlagen. Die europäische Realität des Jahres 2014 spiegelt sich nur bedingt im Vertrag von Lissabon wider.
Wir haben die europäische Integration in den letzten Jahren erheblich vertieft – allerdings oft nicht über die Gemeinschaftsmethode, die ich grundsätzlich immer vorziehen würde. Aber wenn wir mit dem gegenwärtigen Stand der europäischen Verträge die drängenden aktuellen Probleme nicht lösen konnten, blieb uns für eine notwendige rasche Lösung oft nur die intergouvernementale Methode – auch deshalb, weil die Bereitschaft der Staaten zu weiterem Souveränitätsverzicht nicht sehr ausgeprägt war und ist. In der Gemeinschaftsmethode voranzukommen heißt letztlich, auf Teile von Souveränität zu verzichten.
So wird – nur ein Beispiel – der Aufbau des europäischen Bankenabwicklungsfonds, der aus Beiträgen der Banken gespeist werden soll, durch eine zwischenstaatliche Konstruktion erfolgen. Für eine europäische Bankenabgabe haben wir keine sichere Rechtsgrundlage. Wir werden in Europa Schritt für Schritt daran arbeiten müssen, dass wir solche zweitbesten Lösungen durch begrenzte Anpassungen der Verträge ersetzen oder ergänzen.
Wir brauchen auf der einen Seite ein stärkeres Europa, vor allem für die großen und übergreifenden Fragen, die kein Staat allein lösen kann. Und wir brauchen auf der anderen Seite eine größere Bereitschaft, das Subsidiaritätsprinzip konsequent anzuwenden. Dieses Prinzip wird leider öfter gepriesen als beherzigt. Wir müssen die Zuständigkeiten zwischen den Ebenen in Europa klarer verteilen: So viel wie möglich an Zuständigkeiten muss dezentral bei Kommunen, Regionen, auch bei den Mitgliedstaaten bleiben. Aber das, was nur auf europäischer Ebene entschieden werden kann, muss auch durch europäische Institutionen entschieden werden.
Ich kann mir etwa einen europäischen Haushaltskommissar vorstellen, der nationale Haushalte zurückweisen kann, wenn sie den gemeinsam vereinbarten Regeln nicht entsprechen. Wir haben – mit guten Erfolgen – eine ähnliche Regelung zur Durchsetzung von Regeltreue beim Wettbewerbskommissar. Damit wäre das Haushaltsrecht nicht verletzt. Denn wie die Regeln eingehalten werden, ob durch weniger Ausgaben oder durch mehr Einnahmen, das verbleibt weiterhin in der nationalen Zuständigkeit. Die Forderung, die Regeln einzuhalten, die wir in Europa vereinbart haben, verletzt jedenfalls nicht die nationalen Souveränitätsrechte. Sonst dürften wir in Europa keine Regeln vereinbaren.
Die EU könnte sich im Wesentlichen auf Handel, Finanzmarkt und Währung, Klima, Umwelt und Energie sowie Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren – auf die Bereiche also, in denen nur die europäische Ebene nachhaltig erfolgreich handeln kann.
Im Sinne klarer Verantwortlichkeiten und durchschaubarer Strukturen sollte dann jede Ebene in Europa unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips die Gesetzgebungskompetenz und die Vollzugskompetenz für ihre Zuständigkeiten haben. Dafür brauchen wir keine europäische Verwaltung in der Fläche. Es reicht, dass europäisch getroffene Beschlüsse ohne Abstriche umgesetzt werden.
Dafür brauchen wir dann aber vor allem auch eine stärkere demokratische Legitimation der europäischen Institutionen. Das Ziel sollte eine von Europas Bürgern eindeutig, legitimierte Legislative, Exekutive und Judikative auf europäischer Ebene sein. Wir werden in Deutschland akzeptieren müssen, dass für die Entscheidungen, die europäisch geregelt sind, im Streitfall der Europäische Gerichtshof zuständig ist und nicht nationale Gerichte letztinstanzlich entscheiden können. Für das Europäische Parlament brauchen wir ein einheitliches, ein europäisches Wahlgesetz. Und das Parlament muss auf der Basis der Gleichheit der Stimmen zusammengesetzt sein – es repräsentiert die Bürger als Bürger der EU.
Das Bemühen um Demokratisierung und Legitimität setzt voraus, dass europäische Mehrheitsentscheidungen von den Bürgern auch als legitime Entscheidungen anerkannt werden. Dies hängt wiederum davon ab, wie weit sich die Menschen mit Europa identifizieren. Identität ist die Grundlage von freiheitlich gegründeter Legitimität jeder politischen Ordnung. Das hat entscheidend mit Kommunikation und Öffentlichkeit zu tun, durch die erst Zusammengehörigkeit wachsen kann. Darauf muss man in Europa sorgsam achten. Wenn man glaubt, künstlich etwas bauen zu können, das in der Wirklichkeit von den Menschen nicht getragen wird, dann muss man damit scheitern. Deshalb habe ich mit anderen gerade für die Schaffung von mehr Öffentlichkeit und Identifikation die Direktwahl des Kommissionspräsidenten immer wieder ins Gespräch gebracht. Die Entwicklung geht langsam in diese Richtung.
Die gängigen Begriffe in der politischen Debatte für die hier skizzierte Ordnung gefallen mir allerdings nicht recht: „Politische Union“ ist ein sehr vager Begriff. Und der Ausdruck „Vereinigte Staaten von Europa“ lässt den ganz eigenen Charakter des europäischen Gebildes zu unbestimmt und führt zu Missverständnissen, wenn man dabei die Vereinigten Staaten von Amerika vor dem inneren Auge hat.
Technisch beschrieben, wäre Europa so etwas wie eine „Mehr -Ebenen -Demokratie“: kein Bundesstaat, dessen Schwergewicht im Zentrum eines quasinationalstaatlichen Gemeinwesens läge. Aber zugleich viel mehr als ein Staatenbund, dessen verbindendes Element dürftig und schwach legitimiert bliebe. Sondern Europa wäre ein sich ergänzendes, ineinander greifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten: eine national -europäische Doppeldemokratie.
Wir wären dann Bürger unserer nationalen Demokratien und einer europäischen Demokratie zugleich. Dies könnten wir dann auch mit zwei Pässen zum Ausdruck bringen. Wir würden auf diese Weise eine Integration von größerer Qualität in Europa erreichen. Misstrauen gegen unnötig komplizierte Brüsseler Strukturen könnte sich verwandeln in Stolz, Bürger eines gleich mehrfach demokratischen Europas zu sein.
Der globalisierten und immer enger vernetzten Welt kann der Nationalstaat im klassischen Sinne kaum noch gerecht werden. Das seit dem Westfälischen Frieden entwickelte Souveränitätsprinzip gewährt keine hinreichende Stabilität. Nationalstaatliche Regelungsmonopole und das Interventionsverbot reichen nicht mehr aus in den globalen Interdependenzen. Der Nationalstaat kann die großen Probleme und Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr allein lösen. Dazu bedarf es neuer Formen des Regierens. Überall auf der Welt wird auf vielfältige Weise nach „Governance“ für das 21. Jahrhundert gesucht – im Zusammenspiel von Staaten, multilateralen Organisationen und Gremien, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften, gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen. Es wird gesucht nach globalen Regeln für das Internet, für Wirtschaft und Finanzmärkte. Und dort, wo wir solche Regeln sogar schon haben, etwa zur Universalität der Menschenrechte oder in Fragen von Krieg und Frieden, ringen wir um Wege und Verfahren, diese Regeln global durchzusetzen.
Hier mit einer national-europäischen Doppeldemokratie der Welt ein Modell für globales Regieren im 21. Jahrhundert anzubieten könnte nicht nur Inspiration für andere, sondern auch eine neue Quelle von Identifikation und Freude der Europäer an ihrem Europa sein.
Ist das eine weitere „Grande Illusion“? Ich denke, es ist der einzige Weg, den großen Illusionen des vergangenen Jahrhunderts dauerhaft zu entkommen. Ob wir heute neuen großen Illusionen aufsitzen, und wenn ja welchen, das wird uns – schmerzlich dann sicherlich, aber hoffentlich wenigstens wieder künstlerisch großartig – vielleicht in einigen Jahren ein Jean Renoir des 21. Jahrhunderts beantworten. Ihm wie uns sollten hier die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas wieder einmal Mahnung und Ansporn zugleich sein. Denn unserer Welt zu entkommen dürfte in der Tat eine Illusion sein.