Namensbeitrag von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble in „Die Welt“
Die Euro-Krise ist noch lange nicht überwunden, aber es mehren sich die Zeichen, dass die Reformen ihre Wirkung entfalten. Nun muss Europa demokratischer werden.
Wieder einmal ist das Abendland nicht untergegangen. Wieder einmal haben die Untergangspropheten auch 2012 nicht recht behalten. Wieder einmal bestehen Euro und Europäische Union weiter. Und sie bestehen nicht nur. Sie sind Anfang 2013 stärker als vor einem Jahr. Die Fakten in der Euro-Zone sprechen für sich: Die Haushaltsdefizite sinken. Die Wettbewerbsfähigkeit steigt. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte gehen zurück. Verbesserungen bei der Wettbewerbsfähigkeit erleben wir vor allem in Griechenland und in Irland. Dort sind die Lohnstückkosten seit 2009 um jeweils mehr als zehn Prozent gesunken. In Spanien und Portugal gingen sie um sechs Prozent zurück. Bei den nationalen Leistungsbilanzen halbierte sich in den vergangenen vier Jahren beinahe der Abstand zwischen Deutschland mit dem höchsten Überschuss und Griechenland mit dem größten Defizit.
Auch im internationalen Vergleich steht die Euro-Zone heute besser da: Ihr durchschnittliches Budgetdefizit verringerte sich zwischen 2009 und 2012 um rund die Hälfte von 6,3 auf 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – und dies im starken Kontrast zu den Vereinigten Staaten und zu Japan, wo mehr als doppelt so viele Schulden aufgenommen werden mussten als in den Euro-Ländern. All dies zeigt: Es geht wieder aufwärts in Europa. Unsere Reformen greifen. Unsere Defizite sinken.
Dies bedeutet aber nicht, dass wir die Krise im Euroraum für beendet erklären können. Zwar sind wir bei ihrer Lösung auch im vergangenen Jahr entscheidende Schritte vorangekommen – sowohl bei den beschlossenen Reformmaßnahmen auf europäischer Ebene als auch bei den Fortschritten in den von der Krise besonders betroffenen Staaten. Dort beweist die Entwicklung wichtiger ökonomischer Kennzahlen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Was aber für einen nachhaltig positiven Weg unserer Währungsunion letztlich noch entscheidender ist: Wir haben auch die institutionellen Strukturen reformiert, sodass nun die Voraussetzungen für solide öffentliche Finanzen und wettbewerbsfähige Volkswirtschaften im Euroraum besser sind als vor der Krise. Dies haben wir durch die Stärkung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes erreicht, wobei die Kompetenzen der Europäischen Kommission ausgebaut wurden. Wir haben einen Fiskalpakt geschlossen, der für 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbindliche Schuldenbegrenzungsregeln vorschreibt – vergleichbar mit der Schuldehbremse im deutschen Grundgesetz. Wir haben die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und dann den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) eingerichtet – und dadurch den bisher fehlenden permanenten, verlässlichen Krisenbewältigungsmechanismus institutionalisiert. Und wir werden bis Anfang 2014 eine Finanzmarktaufsicht bei der Europäischen Zentralbank (EZB) aufbauen, mit einem einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) für den Euroraum. Die EZB wird Finanzinstitute beaufsichtigen, die für das europäische Finanzsystem von systemischer Bedeutung sind. Dies sind diejenigen, die entweder eine Bilanzsumme von mehr als 30 Milliarden Euro haben oder deren Bilanzsumme ein Fünftel der Wirtschaftsleistung ihres Heimatlandes erreicht oder die drei größten Institute eines jeden Landes sind. Damit machen wir unser gemeinsames Währungsgebiet krisensicherer. Denn länderübergreifende Gefahren können durch eine gemeinsame Aufsicht bei der EZB effektiver abgewendet werden.
Doch diesen wichtigen Schritten auf dem Weg zu einer stärker integrierten Europäischen Union werden noch viele weitere folgen müssen – nicht als Selbstzweck, sondern weil wir nur auf diese Weise Europa für die vor uns liegenden Herausforderungen rüsten können. So müssen wir vor allem die europäischen Institutionen weiterentwickeln, damit sie ihre Aufgaben auch in Zukunft erfüllen können. Denn angesichts der durch die Globalisierung forcierten Verschiebung der politischen und ökonomischen Gewichte in der Welt wird Europa nur als handlungsfähige Einheit weiterhin Einfluss nehmen können auf die zukünftigen globalen Entwicklungen. Dies gilt für die Regulierung der Finanzmärkte, den Klimaschutz, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus oder die Durchsetzung von fairem Wettbewerb auf den Weltmärkten. Jeder europäische Nationalstaat – auch Deutschland – ist auf der internationalen Ebene politisch wie wirtschaftlich zu klein, um dort alleine ein für die Zukunft ausreichendes Gewicht zu entfalten – nicht zuletzt angesichts der demografischen Entwicklung der europäischen Gesellschaften.
Die Geschichte lehrt uns, dass Nationen und Staaten, die sich nicht weiterentwickelt haben, die nicht Schritt hielten mit den Veränderungen ihrer Welt, früher oder später untergegangen sind oder zumindest an Bedeutung verloren haben. Wenn Europa ein solches Schicksal nicht teilen will, muss es bereit sein für den erforderlichen Wandel. Dazu ist es entscheidend, dass wir unsere politischen Institutionen den neuen Anforderungen anpassen. Denn sie haben in der politischen Ordnung eine Doppelrolle: Politische Institutionen sorgen dafür, dass politische Prozesse auf der Basis von Regeln ablaufen. Sie stabilisieren die politische Ordnung. Zugleich müssen politische Institutionen aber anpassungsfähig sein und sich verändern, um auf neue Herausforderungen neue Antworten geben zu können.
Damit ist die richtige Mischung von Stabilität und Anpassungsfähigkeit politischer Institutionen ein zentraler Faktor für Erfolg oder Niedergang von Nationen und Staaten. Zu diesem Schluss gelangt auch der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der in seinem aktuellen Werk „The Origins of Political Order“ feststellt, dass arme Länder nicht aufgrund mangelnder Ressourcen arm sind, sondern weil es ihnen an effektiven politischen Institutionen mangelt.
Für Europa bedeutet dies vor allem zweierlei: Zum einen müssen wir die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen verbessern. Die Entscheidungsabläufe sind zu optimieren, damit wir in Zukunft schneller zu besseren Entscheidungen kommen – auch wenn wir uns nicht der Illusion hingeben dürfen, dass wir mit 17 Euro-Staaten oder 27 EU-Mitgliedstaaten so schnell entscheiden können, wie es von den Finanzmärkten manchmal gewünscht wird. Denn eine demokratische Entscheidungsfindung benötigt naturgemäß ihre Zeit.
Zum anderen müssen wir die politischen Entscheidungsprozesse in Europa aber auch den Bürgerinnen und Bürgern deutlicher als bisher näherbringen, indem wir sie transparenter gestalten und die Zuständigkeiten zwischen den Nationalstaaten und der europäischen Ebene neu justieren. Bereits die Präambel des Vertrags über die Europäische Union sieht die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vor: Die Kompetenz für eine Aufgabe soll immer bei der kleinsten dafür geeigneten staatlichen Ebene liegen, also so nah wie möglich bei den Bürgerinnen und Bürgern. Dies ist die zentrale Vorgabe für unsere wichtigste Weichenstellung in Europa: Wir müssen uns darüber verständigen, welche Entscheidungen zukünftig nicht mehr auf der Ebene des Nationalstaates getroffen werden können und deshalb auf die europäische Ebene verlagert werden müssen. Dazu sind dann die europäischen Institutionen zu stärken und ihre demokratische Legitimation zu verbessern. Dies wird uns sicherlich nur Schritt für Schritt gelingen. Aber so funktioniert die europäische Integration seit ihren Anfängen – und dies mit großem Erfolg.
Für die Europäische Währungsunion müssen wir sicherstellen, dass ihre reformierte Konstruktion nicht Fehlanreize für ihre Mitglieder setzt. Dies war in der Vergangenheit der Fall, als einer vergemeinschafteten Geldpolitik weiterhin nationale Wirtschafts- und Finanzpolitiken gegenüberstanden – mit den bekannten negativen Folgen. Denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt verfügte nicht über genügend Schlagkraft, um in jedem Land für eine solide Finanzpolitik und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft zu sorgen. Für die Zukunft benötigen wir daher eine deutlich besser verzahnte Finanzpolitik, die dann auch durchgesetzt wird. Ein wichtiger Schritt wäre hier die Stärkung des EU-Währungskommissars. Er könnte die Einhaltung der Regeln, die wir uns in Europa gemeinsam setzen, in gleichsam richterlicher Unabhängigkeit überwachen, entsprechend den Kompetenzen des Wettbewerbskommissars im Kartellrecht.
Die für ein starkes Europa erforderlichen institutionellen Veränderungen gehen jedoch weit über die Währungsunion hinaus. So ist die Europäische Kommission zu einer demokratisch legitimierten Exekutive weiterzuentwickeln – mit einem von den Bürgerinnen und Bürgern Europas gewählten Präsidenten. Das Europäische Parlament ist zu stärken, indem es früher und intensiver in die politischen Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene eingebunden wird. Auch sollte das Parlament ein flexibles Stimmrecht erhalten: Bei Entscheidungen, die lediglich bestimmte Gruppen von Mitgliedsländern wie die Euro-Zone oder die Schengen-Staaten betreffen, sollten künftig nur die Europa-Abgeordneten aus den jeweils betroffenen Mitgliedstaaten abstimmen.
Um den Bürgerinnen und Bürgern die zentrale Relevanz Europas für ihr tägliches Leben zu verdeutlichen und zumindest in Ansätzen eine „europäische Öffentlichkeit“ zu schaffen, sollten alle Parteien bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 mit Spitzenkandidaten für ganz Europa antreten. Mittelfristig sollte dann der Kandidat mit der größten Unterstützung im Europäischen Parlament von den Staats- und Regierungschefs als Kommissionspräsident akzeptiert werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt zur demokratischen Legitimierung und Akzeptanz der EU-Institutionen durch die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Mit dem Zusammentreten eines neuen Europäischen Parlaments öffnet sich 2014 ein Zeitfenster für weitere substanzielle Arbeiten an einer Reform des institutionellen Gefüges der Europäischen Union. Diesen Zeitraum müssen wir nutzen. Denn die Welt des 21. Jahrhunderts wartet nicht auf Europa. Umso mehr müssen wir in Europa gemeinsam die Frage beantworten, welchen Weg die Europäische Union in Zukunft gehen soll. Für mich lautet die Antwort: Wir müssen die Integration Europas weiter vorantreiben. Wir müssen die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten auf nationaler wie auf europäischer Ebene neu verteilen. Wir müssen die politische Union vollenden. Denn allein ein geeintes, handlungsfähiges Europa kann seine Stimme im globalen Konzert behaupten – politisch wie wirtschaftlich. Und nur so garantieren wir Sicherheit und Wohlstand für die Menschen in Deutschland und in Europa.
Alle Rechte: Die Welt.