Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des Abschlusses der Sanierung der Gedächtniskirche der Protestation
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Wenn der Bundesinnenminister hier am Ort der Protestation über die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Protestantismus spricht, dann tut er das Kraft Amtes als für Religion zuständiger Bundesminister. Ich spreche heute zu Ihnen aber auch als Protestant. Als mich der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber im November letzten Jahres auf der Synode im Bremen begrüßte, sagte er, ich würde mich der Evangelischen Kirche verbunden fühlen. Ich gehöre ihr einfach an, habe ich ihm geantwortet. Und dass ich darin keinen Widerspruch zu meinem politischen Amt sehe.
Die Frage nach der politischen Bedeutung einer Religion fand bis vor kurzem nicht allzu viel Aufmerksamkeit in unserem weltanschaulich neutralen, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Sie galt als Folge von Reformation, Aufklärung und demokratischer Selbstorganisation der Bürger als eindeutig geklärt. Nicht minder eindeutig, aber genau andersherum wäre die Frage 1529 beantwortet worden, zum Zeitpunkt des Reichstags zu Speyer, an den diese Kirche erinnert. Eine Entscheidung für oder wider die Reformation hatte damals dramatische politische Konsequenzen. Niemand konnte sagen, was genau es für die protestantische Minderheit bedeuten würde, sich der kaiserlichen Absage an die Reformation zu widersetzen. Klar war aber, dass es für die betroffenen Fürsten und Magistraten potentiell eine Sache von Krieg oder Frieden, von Gewinn oder Verlust ihrer Territorien, also letztlich von politischem Überleben oder Untergang war. Staat und Religion, zumindest aber Politik und Religion waren eng verwoben. Mit dem Augsburger Religionsfrieden wurde 1555 gar der Grundsatz, der Regent eines Landstrichs bestimme die Religion seiner Einwohner, zur Rechtsgrundlage des Miteinanders im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Wie das funktionierte, zeigte sich spätestens mit Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges.
So dramatisch standen die Dinge nicht mehr, als Ende des 19. Jahrhunderts der Plan für den Bau dieser Kirche gefasst wurde. Dennoch war auch in der Zeit des Kaiserreichs die politische Bedeutung des Protestantismus für Deutschland recht eindeutig gelagert. Symbolische und repräsentative evangelische Kirchbauten aus dieser Zeit, die Gedächtniskirche hier oder der Berliner Dom, waren auch deutliche politische Zeichen für die Identifikation von Preußen und dem Kaiserreich mit dem Protestantismus.
Heute ist die Frage nach der politischen Bedeutung des Protestantismus in Deutschland komplexer. Mancher wird vielleicht bestreiten, dass es eine solche Bedeutung in unserem säkularen Land überhaupt noch gibt. Tatsächlich sah es lange Zeit eher danach aus, dass die Religion aus dem öffentlichen und privaten Leben verschwinden würde. Schon in den 1960er Jahren prophezeiten Wissenschaftler wie der amerikanische Anthropologe Anthony Wallace, mit dem Fortschritt der modernen Zivilisation sei die Religion dazu bestimmt, in der gesamten Welt auszusterben.
Wir wissen, dass es dieses „Ende der Religion“ seither ebenso wenig gegeben hat wie das „Ende der Geschichte“, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vorhergesagt worden ist. Was die Religion angeht, meinten aber auch solche Experten, die nicht vom Aussterben sprechen wollten, dass Religion jedenfalls ihre öffentliche, politische Rolle einbüßen würde. Religion würde weiter relevant bleiben, aber zur reinen „Privatsache“ werden, ganz so, wie sich das die Kritiker des öffentlichen Einflusses der Kirchen seit dem 19. Jahrhundert gewünscht hatten.
Diese Kritik war, blickt man auf die gerade für die lutherische Tradition typische Allianz von Thron und Altar, nicht ganz abwegig. Die Bereitschaft der evangelischen Kirchen und Christen zu diesem Bündnis machte sie zwangsläufig verdächtig für alle, die mit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Zeit unzufrieden waren. Der Soziologe José Casanova hat gezeigt, dass der Widerstand gegen eine öffentliche Rolle der Kirchen oft aus ihrer Einbindung in vor- und undemokratische Strukturen resultiert. Er hat dabei vor allem an seine spanische Heimat gedacht, was zugleich belegt, dass wir es nicht nur mit einem Problem des Protestantismus zu tun haben.
Auch im Bewusstsein vieler Deutscher wirken Konflikte um die politische Rolle der christlichen Kirchen nach und führen bei manchen zu einer regelrechten Gegnerschaft gegenüber allem Religiösen. Es ist wichtig, uns ins Gedächtnis zu rufen, warum das so ist. Wenn wir heute über die politische Bedeutung des Protestantismus in Deutschland sprechen, dürfen wir nicht vergessen, wie lange die große Mehrheit evangelischer Christen gebraucht hat, um sich von obrigkeitsstaatlichem und staatskirchlichem Denken zu lösen. Die heute selbstverständliche Akzeptanz von Demokratie und Menschenrechten wurde für die meisten deutschen Protestanten erst nach dem zweiten Weltkrieg möglich.
Dennoch konnte und kann es kein Ausweg sein, die Religion zur Privatsache machen zu wollen. Denn einmal abgesehen von der Tatsache, dass der christliche Glaube sich prinzipiell nicht auf den Bereich der Privatsphäre beschränken lässt, übersehen die Kritiker, dass sich das öffentliche Wirken der Kirchen selbst zu Zeiten des landesherrlichen Kirchenregiments keineswegs in der Legitimierung eines Obrigkeitsstaates erschöpfte. Auch die innere Mission und die Diakonie gehörten stets zum öffentlichen Wirken des Protestantismus. Dazu zählten das Schul- und Gesundheitswesen, aber auch maßgebliche Beiträge zu Musik und Architektur, zu Literatur und Wissenschaft. Ein Rückzug des Protestantismus ins Private wäre daher nichts, was sich ein Politiker – ganz gleich was seine eigene religiöse Überzeugung ist – im Ernst wünschen könnte. Eine Privatisierung des Religiösen würde unsere Gesellschaft in vielen Bereichen ärmer machen.
Vor allem übersehen Kritiker, die so etwas fordern, dass ein öffentliches Wirken dem Protestantismus wie auch anderen Religionen schlicht wesentlich ist. Es ist in ihrem Wesen angelegt. Deshalb hat die These, dass Modernisierung zum Verschwinden von Religion führe, immer ein Stück weit zwar gesellschaftliche Veränderungen beschrieben, aber falsche Schlüsse aus ihnen gezogen. In den Vereinigten Staaten hat die These, dass Modernisierung und Religion nicht zusammengehen, noch nie gestimmt. Aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich auch in vielen anderen Teilen der Welt Gesellschaften modernisiert, ohne dass deshalb Religion irrelevant geworden wäre. Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass irgendwo außerhalb Westeuropas eine Entwicklung stattfindet, die man hierzulande mit dem Begriff der Säkularisierung bezeichnet.
Auch bei uns in Deutschland hat sich – wenn ich es richtig beobachte – die Diskussion in den letzten Jahren verschoben. Zwar hält der Mitgliederschwund der großen Kirchen an, und auch eine grundsätzliche Alphabetisierung in der christlich-jüdischen Tradition scheint nachzulassen. Aber: Die großen Umwälzungen unserer Zeit und ein wachsendes Bewusstsein für die Aufgaben, vor denen unsere Gesellschaft steht, haben vielen Menschen die Bedeutung von Orientierung gebenden Werten wieder stärker bewusst werden lassen.
Die Spaßgesellschaft, von der einige noch vor wenigen Jahren sprachen, ist – und man könnte mit den Gründen dafür hadern – einer Ernsthaftigkeit gewichen, die existentiellen Fragen eine ganz andere Bedeutung beimisst: Gibt es eine letzte Instanz, vor der individuelle Entscheidungen verantwortet werden müssen? Wie setzen wir uns Grenzen, angesichts der Gefahren, die unserer Welt und uns selbst durch scheinbar ‚unbegrenzte’ Möglichkeiten entstehen?
Die öffentliche Diskussion über Werte in unserer Gesellschaft, über medizinethische Fragen wie Stammzellenforschung und Sterbehilfe, aber auch über die bedenklichen Folgen von übersteigertem Gewinnstreben in unserem Wirtschaftssystem auf Gesellschaft und Umwelt: All das deutet für mich darauf hin, dass hier eine neue Sensibilität für existentielle Fragen entsteht und auch ein wachsendes Bedürfnis nach Orientierung und tragfähigen Werten.
Interessantes Beispiel dafür ist Jürgen Habermas, der sich selbst (mit Max Weber) als ‚religiös unmusikalisch’ bezeichnet und doch in zahlreichen Äußerungen der letzten Jahre zum Ausdruck bringt, dass hier etwas unabgeschlossen ist, dass die Säkularisierung nicht die letzte Antwort auf die Probleme unserer Zeit sein kann. Habermas spricht in diesem Zusammenhang übrigens von einer „Dialektik der Säkularisierung“ – so der Titel eines Buches, das er 2005 gemeinsam mit dem (damals noch) Kardinal Joseph Ratzinger herausgebracht hat. Und er sagte sogar, säkularisierte Staatsbürger dürften weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch das Recht gläubiger Mitbürger bestreiten, sich „in religiöser Sprache“ in öffentliche Debatten einzubringen.
Damit sind wir bei dem, was Religion allgemein und der Protestantismus im Besonderen in unsere Gesellschaft einzubringen haben. Jede Gesellschaft, auch eine moderne, säkulare, westliche Gesellschaft hat gemeinsame Werte nötig, deren Anerkennung Grundlage für ein gutes Miteinander ist. Nun mag mancher einwenden, diese Werte seien alleine im Grundgesetz als Ausdruck unserer politischen Rechts- und Werteordnung abgelegt. Das beantwortet aber weder die Frage nach all den ethisch-moralischen Werten, die für das alltägliche Leben und die Fortentwicklung unserer Gesellschaft so entscheidend sind, noch nach dem Ursprung dieser Werte.
Religion, der Glaube an etwas Höheres, an Ethik und Moral als Voraussetzung eines gottgefälligen Lebens, ist eine wichtige Ressource für Werteorientierung – für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat sie als wichtige „Quelle des Selbst“ beschrieben, aus der wir schöpfen – gerade auch angesichts der großen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft heute steht.
Das ist der Grund, warum Religion und warum der Protestantismus politisch bedeutsam bleibt. Daran ändert auch die verfassungsrechtliche Trennung von Kirche und Staat nichts. Denn Politik wird von Menschen gemacht, und diese Menschen kommen nicht aus dem luftleeren Raum. Menschen mit einem religiösen Glauben werden als politisch aktive Bürger gebraucht. Sie werden, so meine ich, umso mehr gebraucht, sofern sie über eine klare Orientierung, eine Grundausrichtung ihres Lebens verfügen. Von der Politik wird zu Recht Orientierung für unsere Gesellschaft erwartet. Orientierung kann aber nur geben, wer selbst orientiert ist. Der religiöse Glaube gehört zu den wichtigsten Quellen starker Wertvorstellungen in unserer Kultur. Die Politik kann auf diese Quelle nicht verzichten.
Dabei geht es nicht nur um die Überzeugung Einzelner. Religion ist wesentlich eine Sache von Gemeinschaft, und gerade in dieser Dimension ist sie für den Staat in unserer immer individualistischeren Gesellschaft von Bedeutung. Allein durch den Bezug auf politische Institutionen kann Identität nicht erreicht werden. Der von manchen – da bin ich schon wieder bei Habermas – empfohlene „Verfassungspatriotismus“, der sich nur auf die gemeinsame Wertschätzung von Institutionen bezieht, kann nicht erklären, warum wir beim Fußballspiel Deutschland gegen Frankreich unsere eigene Mannschaft anfeuern. Denn beide Seiten vertreten die gleichen oder jedenfalls ähnliche politische Werte. Karl Otto Hondrich hatte deshalb Recht, als er Identität mit Bezug auf „geteilte Gefühle“ definierte. „Vom Einklang der Gefühle“, so hat er einmal formuliert, „geht ein eigener Zauber aus: der Zauber der Einheit.“ Und tatsächlich: Wenn wir uns einem Gemeinwesen zugehörig fühlen wollen, dann muss es etwas geben, was uns auf einer tieferen menschlichen Ebene miteinander verbindet. Auf genau einer ähnlich tiefen und persönlichen Ebene, auf der auch Religion und Glaube angesiedelt sind. In diesem Sinn können wir auch in einem modernen, pluralen und säkularen Gemeinwesen nicht auf den Beitrag der Religion verzichten.
Ihre Bedeutung für Gesellschaft und Politik liegt also darin, dass sie Menschen durch gemeinsame Werte verbindet. Aber natürlich wissen wir auch: Religion verbindet Menschen nicht nur, sie trennt sie auch. Wenn man das Thema meines Vortrags falsch betont, kann es schnell so klingen, als gehe es alleine um die Bedeutung des Protestantismus für Gesellschaft und Politik, so als sei der Protestantismus in dieser Hinsicht wichtiger und besser als der Katholizismus, das Judentum oder der Islam.
Tatsächlich ist das oft so gesehen worden. Wenn wir davon sprechen, wie wichtig der Beitrag von Religion zur Integration und ein gutes Miteinander ist, dann dürfen wir nicht vergessen, wie oft in der Vergangenheit – aber auch heute noch –, Religion Anlass von Streit, Auseinandersetzungen und gewaltsamen Konflikten war und ist. Aus der Wertschätzung der eigenen Religion wurde und wird zu oft die Herabsetzung anderer Glaubensgemeinschaften. Unsere europäische Geschichte im Gefolge der Reformation ist eine, in der weite Teile Europas in langwierige, blutige Kriege verwickelt und ganze Landstriche verwüstet wurden.
Eines der Buntglasfenster dieser Kirche zeigt die ‚trauernde Magdeburg’ – eine Erinnerung an die fast vollständige Zerstörung dieser Stadt im Dreißigjährigen Krieg. Es ist zugleich eine Mahnung, dass ein religiös und weltanschaulich neutraler Staat Voraussetzung für Frieden und Eintracht zwischen den Religionen ist. Er wird gebraucht, damit es zu Konflikten, wie sie zur Protestation in Speyer geführt haben, gar nicht erst kommt.
Anscheinend müssen wir uns das wieder und wieder ins Gedächtnis rufen. Denn der Geist des Gegeneinanders zwischen den christlichen Konfessionen war auch am Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht verschwunden. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass Kirchen wie die Gedächtniskirche hier oder der Berliner Dom Ausdruck einer besonderen Identifikation des Kaiserreichs mit dem Protestantismus waren. Katholiken fühlten sich dadurch nicht unbegründet ausgeschlossen. Noch aggressiver grenzte sich die protestantische Gesellschaft der Kaiserzeit vom Judentum ab; in dieser Zeit hat sich der Antisemitismus stärker verbreitet und wurde weithin akzeptiert. Beides aber, die Abgrenzung gegenüber dem Katholizismus wie die aggressive Haltung gegenüber dem Judentum geht letztlich auf die Reformation zurück.
Wir haben vor einiger Zeit die Lutherdekade eingeleitet. Zehn Jahre, bis zum Jubiläum von 2017 sollen wir uns mit der Reformation beschäftigen. Ich meine, wir sollten uns in dieser Zeit auch auf die bedenklichen und problematischen Seiten dieser Tradition besinnen. Ich sage das weder aus der distanzierten Sicht eines Außenstehenden, noch aus Selbstzerfleischung oder historischer Nabelschau. Im Gegenteil, es kommt darauf an, die Potentiale und die Möglichkeiten des Protestantismus selbstbewusst in die Welt des 21. Jahrhunderts einzubringen. Das aber können wir nur erreichen, wenn wir uns erinnern; und eine solche Erinnerung schließt eben auch die Besinnung auf die schwierigen Seiten der eigenen Vergangenheit ein.
Das Erinnern an dunkle Stellen in der reichen Geschichte des Protestantismus ist also kein Selbstzweck. Es ist wichtig, damit das Gedenken an die Reformation heute zu einem Überwinden der alten Gräben führt. Wir sollten uns vornehmen, dass die Lutherdekade in einem ökumenischen Geist geführt wird und zu einem Gewinn an Gemeinsamkeit mit unseren katholischen Mitchristen führt. Das hängt natürlich nicht nur an uns; viele Hindernisse für dem ökumenischen Fortschritt bestehen auf der katholischen Seite. Es wäre aber falsch so zu tun, als hätte der Protestantismus seine Hausaufgaben gemacht und es läge jetzt nur an der katholischen Kirche, die ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Es ist für jede Kirche schwer, sich auf eine plurale Situation, auf ein Nebeneinander von mehreren Gemeinschaften wirklich einzulassen. Als vor ein paar Jahren die lutherischen Kirchen eine Übereinkunft mit den Katholiken über die Lehre von der Rechtfertigung erreicht hatten, gab es gegen diese Einigung einen Sturm des Protestes – aus der evangelischen, nicht aus der katholischen Kirche. Die Frage nach der Rechtfertigung des Menschen vor Gott war für Luther und seine Mitstreiter zentral gewesen; das Thema berührte also unsere protestantische Identität ähnlich zentral wie die Eucharistie die der Katholiken. Deshalb erleben wir in solchen Fragen schnell die Grenzen der Bereitschaft zu Verständigung und Dialog.
Während wir uns noch Gedanken machen, wie wir damit umgehen sollen, ist inzwischen deutlich geworden, dass religiöse Vielfalt uns in Deutschland noch viel grundsätzlicher herausfordert als bisher gedacht. Deutschland befindet sich in der fast paradoxen Situation, dass auf der einen Seite die Konfessionszugehörigkeit der Bürger insgesamt nach wie vor zurückgeht, gleichzeitig jedoch an vielen Stellen andere als christliche Gruppen und Gemeinschaften am Wachsen sind. Wir stehen deshalb vor der Aufgabe – und das betrifft Staat, Kirchen und den einzelnen Bürger gleichermaßen, wenn auch in verschiedener Funktion –, unser gesellschaftliches Leben auf diese neue religiöse Pluralität einzustellen.
Das gilt in erster Linie für unser Verhältnis zum Islam und den Muslimen in Deutschland. Deshalb habe ich vor zweieinhalb Jahren die Deutsche Islam Konferenz einberufen. Das ist natürlich kein interreligiöser Dialog über Glaubensfragen. Ziel des Dialogs zwischen Staat und Muslimen ist vielmehr eine Verständigung über Fragen des Miteinanders von Menschen verschiedenen Glaubens in unserer modernen, freiheitlichen und komplexen Gesellschaft.
Noch kann niemand sagen, was am Ende dieses Prozesses stehen wird. Wir haben einige Ergebnisse, in so grundsätzlichen Fragen wie dem Bekenntnis der Muslime zu unserer gemeinsamen Rechts- und Werteordnung, aber auch bei ganz konkreten Dingen wie dem Bestattungswesen oder beim Religionsunterricht. Auch aus dieser Erfahrung kann ich alle, die sagen Islam und Demokratie passten überhaupt nicht zusammen, nur vor allzu schnellen Schlüssen warnen. Auch da kann der Blick auf unsere eigene widersprüchliche Geschichte hilfreich sein. Protestantismus, Demokratie und Menschenrechte sind nicht seit jeher Hand in Hand gegangen. Was heute für uns selbstverständlich ist, ist das Ergebnis eines langen Lernprozesses, und diesen sollten wir Menschen, die erst seit relativ kurzem bei uns leben, auch zugestehen – obgleich wünschenswert ist, dass er nicht Jahrhunderte dauert.
An neue Gegebenheiten müssen sich allerdings nicht nur Muslime anpassen. Die Integration der Muslime und des Islam in unsere Freiheitsordnung ist ein zweiseitiger Prozess. Das bedeutet, dass die Mehrheitsgesellschaft auf den Glauben der hier lebenden Muslime Rücksicht nehmen und ihnen auch Räume für ihre Religionsausübung zugestehen muss. Umgekehrt müssen die Muslime in unserem Land nicht nur das geltende Recht und Gesetz, sondern auch die christliche Glaubensprägung der überwiegenden Mehrheit akzeptieren. Das Christentum hat in unserem Kulturkreis ohne Zweifel eine herausgehobene Bedeutung, und diese Bedeutung, das will ich ganz klar sagen, wird nicht einfach verschwinden. Sie ist prägend für unser kulturelles Bewusstsein, auch unser politisches Denken und die Institutionen, die es hervorgebracht hat.
Und so ist die Integration des Islam eine Herausforderung für muslimische Gruppen und für Staat und Gesellschaft. Und sie ist auch ein schwieriges Thema für die christlichen Kirchen. Meine Hoffnung und meine Erwartung ist, dass sie bereit sind, ihre Rolle in einer zunehmend religiös pluralen und vielfältigen Gesellschaft neu zu bedenken. Das bedeutet nicht die Schaffung eines religiösen Einerlei, einer Nacht, in der alle Katzen grau sind. Worum es geht ist die gemeinsame Suche nach einer Verhältnisbestimmung von Religionen und Staat, die unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit im 21. Jahrhundert entspricht. Die christlichen Konfessionen verfügen mit Ihrer Geschichte des Konflikts und des Dialogs über wertvolle Erfahrungen, die hilfreich auch für den Dialog mit Muslimen sind. Indem wir sie weitergeben, helfen wir Muslimen, sich in unser Religionsverfassungsrecht und die Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft einzufinden.
Der Beitrag des Protestantismus, von Kirchen und Gläubigen zu den öffentlichen Angelegenheiten erschöpft sich darin nicht. Auch nicht in den vielfältigen Facetten des öffentlichen Wirkens der Kirchen, etwa der Diakonie. Wenn wir die großen Umwälzungen der Globalisierung, die eine Folge des rasanten Anwachsens technischen Wissens und damit verbundener Wahlmöglichkeiten sind, bewältigen wollen, brauchen wir auch eine von Werten geleitete politische Debatte. Der Protestantismus kann und muss dafür eine Quelle sein.
Wir sollten es umgekehrt mit dem Ableiten politischer Positionen aus der Religion aber auch nicht übertreiben. Im Begriff Protestantismus steckt das Wort ‚protestieren’. 1529, beim Reichstag zu Speyer, legte die Minderheit der evangelischen Reichsstände Widerspruch ein gegen den Beschluss der Mehrheit, die zwei Jahre zuvor gewährte Toleranz in Glaubenssachen wieder zurückzunehmen. Besteht also die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Protestantismus im Protestieren und Widersprechen? Manchmal habe ich das im Laufe meiner Jahre als Politiker tatsächlich gedacht.
Bei vielen in der Öffentlichkeit kontroversen politischen Themen – ob innere Sicherheit, Einwanderung oder Stammzellforschung–, erhoben maßgebliche Vertreter meiner Kirche energisch ihr Wort gegen das nicht nur aus meiner Sicht politisch Notwendige. Bei aller Meinungsverschiedenheit im Einzelnen liegt darin ein wichtiger und positiver Beitrag des Protestantismus zur politischen Kultur. Demokratie lebt vom Widerspruch und von der Bereitschaft, um der Sache willen auch harte Diskussionen zu führen. Unser politisches System beruht auf der Annahme, dass die richtige Entscheidung selten eindeutig zu treffen und am besten durch einen Wettstreit der Meinungen zu finden ist. Deshalb sind Streit und Zusammenhalt zwei Seiten derselben Medaille in unserer freiheitlichen Demokratie.
Damit Streit und Zusammenhalt zusammengehen, braucht es aber auf allen Seiten auch die Bereitschaft, die eigene Position nicht absolut zu setzen. Der protestantische Hang zum Protestieren kann nach meiner Erfahrung durchaus intolerante Züge annehmen, was dann eher nicht förderlich ist für eine positive Wahrnehmung der politischen Rolle unserer Religion. Dafür wäre es besser, wenn Kirchen und kirchliche Gruppen sich öfter einmal klar machten, dass auch auf der anderen Seite Menschen sind, deren Position von echter Sorge um das gesellschaftliche Wohl herrührt. Und dass auch sie ihre Haltung zu einer Frage oft genug in Auseinandersetzung mit ihrer christlichen Überzeugung errungen haben.
Es schadet dem Protestantismus, wenn in politischen Debatten der Eindruck erweckt wird, aus christlicher Sicht könne es überhaupt nur eine bestimmte Haltung zu einer Frage geben. Ein solcher Eindruck bestätigt nämlich wieder alle diejenigen, die im öffentlichen Wirken von Religion eine Gefahr für das Miteinander in einer pluralen Gesellschaft sehen. Es wirft aber auch ein ethisch-moralisches Dilemma für diejenigen auf, die politisch handeln. Denn wie ist ihr Tun zu rechtfertigen, wenn gerade die unter Berufung auf den Glauben geforderte Option nicht umsetzbar ist? Den Realitäten nicht gerecht wird?
Max Weber hat darauf hingewiesen, dass es zwischen der „absoluten Ethik der Bergpredigt“ und politischer Vernunft einen unüberwindlichen Widerspruch gibt. Wenn das stimmt, stehen sich dann christliche Gewissensethik und Verantwortungsethik des Politikers unversöhnlich gegenüber? Ich kann mich als Protestant, der politische Verantwortung trägt, damit nicht anfreunden. Ich muss es auch nicht, weil eigentlich jedem einleuchten sollte, dass es einechristliche Politik nicht geben kann. Schon Katholiken und Protestanten sind sich politisch nicht immer einig, und auch innerhalb der Konfessionen gibt es große Unterschiede – in Glaubens- genauso wie in politischen Dingen. Die Bergpredigt ist eben kein politisches Grundsatzprogramm.
Im Übrigen wäre es auch gar nicht im Interesse einer Kirche, etwas anderes behaupten zu wollen. Denn was wäre die Konsequenz, für die Kirche selbst und für unsere freiheitliche Demokratie? Im Grunde liefe das dann auf eine politische Betätigung hinaus. Und wer das fordern wollte, wäre auch nicht mehr weit entfernt von der radikalen Minderheit unter den Muslimen, die das Recht der Scharia zur Richtschnur in Staat und Gesellschaft machen wollen. Genauso wenig wie es eine islamische Politik gibt, kann es eine christliche oder protestantische geben. Was es aber gibt, uns was wir dringend brauchen angesichts so vieler grundlegender Herausforderungen, ist Politik aus christlicher Verantwortung. Darunter verstehe ich Politik, die den Menschen mit dem christlichen Menschenbild in all seinen Stärken und Schwächen sieht und auf der Grundlage christlicher Werte Verantwortung übernimmt.
Das heißt auch, dass der Protestantismus mehr können muss als nur zu protestieren. So wichtig die kritische Begleitung politischen Handelns in der Öffentlichkeit ist, für sich allein genommen ist sie unbefriedigend. Der Protestantismus hat durch seine Theologie und Geschichte mehr Eigenständiges zur politischen Kultur beizutragen, und das sollte er auch offensiv und selbstbewusst tun. Karl Jaspers hat einmal davon gesprochen, dass Demokratie sich auf das „Wagnis der Freiheit“ gründe. Der Protestantismus gründet in ähnlicher Weise auf das Wagnis des Glaubens an Jesus Christus. Diese Haltung der glaubenden Hoffnung spricht sich aus in dem berühmten Wort Luthers, dass er auch dann noch ein Apfelbäumchen pflanzen wollte, wenn morgen schon das Unheil des Weltuntergangs drohte. Ob dieses Wort tatsächlich von Luther stammt oder ihm nachträglich in den Mund gelegt wurde, darüber streiten sich die Gelehrten. Das ändert aber nichts an der Aussagekraft des gebrauchten Bildes: Vertrauen zu Gott und Zutrauen zur Welt und zu den Menschen bedingen sich wechselseitig. Christliche Hoffnung kann so zur seelischen Kraftquelle weltlicher Vernunft werden.
Diese Hoffnung brauchen wir auch, wen wir angesichts der komplexen Problemstrukturen, des schwierigen politischen Prozesses und den letztlich fast immer menschlichen Ursachen unserer Probleme nicht resignieren wollen. Christen sind da meiner Erfahrung nach enttäuschungsresistenter. Ihre Kraft, ihre Motivation speist sich nicht allein aus dem, was sie in dieser und für diese Welt erreichen wollen. Sie kommt auch aus dem unverfügbaren Grund des Glaubens und der Hoffnung. Peter Ustinov hat einmal das Wesen von Hoffnung mit dem bemerkenswerten Satz beschrieben, dass derjenige, der statt Erwartungen Hoffnungen hat, in seinem Leben weit weniger enttäuscht werde. Als Christ kann man gelassener sein, weil man sich selbst weniger wichtig nehmen muss. Das setzt allerdings auch voraus, dass Innerlichkeit und Spiritualität in einer Balance stehen mit dem sich Einmischen in Politik und Gesellschaft der Kirchen.
Für den Protestantismus – wie ich ihn verstehe – ist das Wort des Paulus aus dem Galaterbrief grundlegend: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit.“ Ein so befreiter Christ kann auf sein Glaubensfundament ohne den ängstlichen Blick auf geistliche Autoritäten vertrauen. Er lässt sich mit Zuversicht, Selbstbewusstsein, Offenheit und fröhlicher Dankbarkeit auf die Welt ein, im Wissen um ihre Begrenztheit und Vorläufigkeit. Er bezieht, in aller Irrtumsmöglichkeit Standpunkte und mischt sich aktiv in öffentliche Belange ein. Das ist christlich und gleichzeitig zutiefst protestantisch. Biblisch gesprochen heißt das: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Politisch gesprochen liegt genau darin der Beitrag des Protestantismus für unser gesellschaftliches und politisches Leben – in der Gegenwart und für die Zukunft.