Die europäische Einigung weiter voran bringen



Namensartikel von Wolfgang Schäuble in der Süddeutschen Zeitung

Noch immer ist Europa ein relevanter Teil der Weltwirtschaft. Angesichts der Rahmenbedingungen, die sich rasant verändern, müssen wir uns aber darüber im Klaren sein, dass unsere relative Bedeutung in dieser globalisierten Welt abnimmt. Das ist schon heute zu sehen. Wir werden daher künftig nur eine Rolle spielen, wenn wir als Europäer zusammenarbeiten. Wer glaubt, wir könnten irgendetwas gewinnen, wenn wir uns von manchen Lasten in Europa erleichtern, hat nicht begriffen, dass dies in der heutigen Welt eine kurzsichtige Betrachtung ist. Dauerhaftes und nachhaltiges Wachstum können wir nur erreichen, wenn es uns gelingt, die europäische Einigung weiter voranzubringen.

In den vergangenen Jahren haben wir viel dafür getan, dass Europa relevant bleibt. Vor vier Jahren standen wir erst vor einer Finanz- und Bankenkrise, dann hatten wir eine Vertrauenskrise in den Euro. Die Finanzmärkte entdeckten plötzlich, dass Europa ein kompliziertes Konstrukt ist. Das war nicht neu, aber es wurde zum ersten Mal entdeckt. Entgegen allen Untergangsprophezeiungen haben wir gezeigt, dass auch die komplizierte Konstruktion Europas Erfolg haben kann. Nun müssen wir einerseits Schritt für Schritt weitergehen und andererseits Visionen entwickeln. Die skeptische und ungeduldige Bevölkerung in Europa müssen wir davon immer wieder überzeugen.

Entgegen allen Vorhersagen ist der Euro nicht untergegangen, er ist stabil. Die Finanzmärkte sind nicht mehr beunruhigt über die Zukunft der Euro-Zone, wir haben keine Ansteckungsgefahr mehr. Regierungskrisen, die es ständig in irgendeinem Land gibt, oder Koalitionsverhandlungen schaffen keine Ansteckungsgefahr mehr für die Eurozone als Ganzes. Die Eurozone ist aus der längsten Rezession ihrer Geschichte heraus. Wir haben ein geringes Wachstum, das ist wahr – aber wir haben Wachstum.

Die ersten beiden Länder, für die wir Hilfsprogramme hatten, Irland und Spanien, beenden diese 2013. Das hat bei Beginn der Programme niemand für möglich gehalten. Portugal wird Mitte 2014 folgen. Griechenland hat mit Abstand die größten Probleme zu bewältigen, hat aber in den letzten eineinhalb Jahren seine Zahlen besser erfüllt, als in den Auflagen des zweiten Hilfsprogrammes überhaupt vorgesehen ist. Die Wachstumszahlen sind besser als angenommen, die Reduzierung des staatlichen Defizits ist schneller vorangegangen als unterstellt. Und man muss sich dabei vorstellen, was Griechenland innenpolitisch alles verkraften muss. Wer dafür nicht ein bisschen Respekt hat, der ist nicht zu einer angemessenen und fairen Betrachtung in der Lage.

Unsere Politik der Stabilisierung unserer gemeinsamen Währung und der Rückgewinnung von Wettbewerbsfähigkeit für alle europäischen Länder ist auf dem richtigen Weg. Wir haben die durchschnittliche Neuverschuldung aller Mitgliedstaaten der Eurozone in den letzten drei Jahren halbiert. Wir müssen diesen Weg nun fortsetzen.

Natürlich haben wir weiterhin das Problem der Arbeitslosigkeit. Aber auch dort verbessert sich die Lage. Das geht allerdings nicht über Nacht. Auch die Annahme, man könnte nachhaltiges Wachstum durch eine höhere Verschuldung oder durch geldpolitische Maßnahmen schaffen, ist falsch. Langfristiges, dauerhaftes Wachstum kann man nur dadurch gewährleisten, dass man die notwendige Wettbewerbsfähigkeit ebenfalls dauerhaft zurückgewinnt.

Viele unterschätzen, wie stark der Einfluss der rasanten technologischen Entwicklung und der Globalisierung auf die Arbeitsmärkte überall in der Welt ist. Deshalb greifen jene, die sagen, wir müssten nur mehr defizitfinanziertes Wachstum in Europa stimulieren, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, total daneben.

Zugleich gilt: Wir wollen kein deutsches Europa. Wir wollen ein Europa, das stark genug ist, um seine Interessen und seine Verantwortung in dieser Welt der Globalisierung des 21. Jahrhunderts erfüllen zu können.

Sind dabei die Modelle anderer Wirtschaftsregionen auf uns übertragbar? Wir wollen sicherlich nicht das chinesische Modell in Europa. Und wer glaubt, die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft sei ohne weiteres auf uns zu übertragen, den will ich daran erinnern: Europa hat eine doppelt so hohe Sozialleistungsquote im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt wie alle anderen Wirtschaftsregionen. Das ist nicht zu kritisieren, sondern das ist das Ergebnis europäischer Geschichte und Tradition mit einem höheren Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit.

In diesen Rahmen fügt sich die deutsche Politik ein. Wir wollen nicht der Lehrmeister Europas sein. Aber wir müssen in Europa versuchen, weiterhin unseren Beitrag zu leisten, Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive zu sein.

Erinnert sich noch jemand daran, dass in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009 um 5,1 Prozent zurückgegangen ist? Das hat es seit 1948 nicht gegeben. Das war deswegen überhaupt nicht mehr vorstellbar. Aber aus dieser Krise sind wir besser herausgekommen als alle anderen vergleichbaren Industrieländer in Europa und darüber hinaus.

Wir haben sogar unsere hohen Defizite wieder zurückgeführt, die notwendig waren, um die Krise in den Zeiten der damaligen Großen Koalition gut zu bewältigen. Allerdings haben wir dadurch auch immer noch eine gesamtstaatliche Bruttoverschuldung von 80 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Wir liegen also noch weit über den europäisch vereinbarten Obergrenzen. Aber wir sind auf gutem Weg, sie wieder einzuhalten.

Wir haben unseren Partnern in Europa gesagt: Egal wie die Bundestagswahl ausgeht, niemand muss sich um Deutschland Sorgen machen. Deutschland wird ein verlässlicher Partner in Europa bleiben. Wir werden eine stabile Regierung zustande bringen, und sie wird, das ist Konsens in Deutschland seit sechs Jahrzehnten, ihre Verantwortung für Europa wahrnehmen. Denn die Deutschen haben begriffen, dass wir – um mit Fritz Stern zu sprechen – unsere zweite Chance durch die Integration in Europa haben. Eine Zukunft haben wir nur in dem Maße, wie Europa gelingt. Auch Deutschland wird es nur dann gut gehen, wenn es Europa gut geht.