Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Neujahresempfang der Stadt Offenburg
Zum Jahresanfang vor 10 Jahren – 1999 – begannen wir uns mit der bevorstehen-den Jahrtausendwende zu befassen. Das Jahr 2000 wurde zum Nährboden rosiger Zukunftsentwürfe, aber auch Schwarzmaler hatten Konjunktur. Zeitungen erinnerten, wie das vor 1000 Jahren gewesen sein sollte mit apokalyptischen Erwartungen und selbst zur Jahrhundertwende 1900 gab es mancherlei Endzeitwahn. Von derlei Aber-glauben fühlten wir uns frei; aber ob die Computer die Umstellung auf eine Jahres-zahl mit drei Nullen schaffen würden, das war die große, nicht wirklich zu klärende Frage, und Verwaltungen wie Wirtschaft trafen große Vorbereitungen, um auf mög-lichst viele Eventualitäten vorbereitet zu sein. Von hunderten Milliarden Dollar Kosten war die Rede und von der Sorge, dass Atomwaffen außer Kontrolle geraten könnten. Schon bei der Einführung des Euro als Buchgeld zum 1. Januar 1999 sagten Pessi-misten einen absoluten GAU voraus. Gekriselt hat es dann an anderer Stelle.
Im März 2000 begann die Blase in der new economy zu platzen. Unternehmen mit Geschäftsmodellen in der damals noch neuen Informationstechnologie erreichten teilweise Börsenwerte, die den klassischer großer Industriekonzerne weit übertrafen, obwohl sie noch keinen Dollar oder Euro Umsatz gemacht hatten. Man ahnte, dass das nicht gut gehen konnte, aber dabei sein wollte man bei diesen tollen start-ups schon, und im Übrigen waren wir ja am Beginn des dritten Jahrtausend nicht mehr so blöde wie unsere Vorfahren im 17. Jahrhundert. Über die irrsinnigen Werte, die da-mals die Spekulation in holländische Tulpenzwiebeln erreichte, konnte man ja wirk-lich nur lachen.
Das Lachen ist uns zwischenzeitlich vergangen. Nun fing es mit IKB, KfW und Hypo Real Estate an, dann kamen schlechte Nachrichten über Landesbanken hinzu – womit nur bestätigt schien, dass Staat und Politik eben nicht fähig seien, sich auf in-ternational komplexen Märkten angemessen zu bewegen. Aber ehe man sich noch darüber richtig empören konnte, war aus der amerikanischen Immobilienblase längst eine veritable Krise des Finanz- und Bankensystems insgesamt geworden, und dass daraus ein Einbruch auch der realen Wirtschaft zwangsläufig folgen musste, das konnte eigentlich nur bezweifeln, wer von der Bedeutung von Geld und Kredit für das Funktionieren einer arbeitsteiligen Wirtschaft keine Ahnung hat. Und jetzt gibt es kei-nen Guru des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems mehr, der nicht müde wird zu erklären, dass man derzeit überhaupt nichts mehr vorhersehen oder vorher-sagen könne.
„Da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor“ – Goethes Faust liefert uns mit seinen geflügelten Worten in vielen Lebenslagen hilfreichen Ausdruck, und auch insoweit bestätigt sich, dass Faust am Ende eine Menschheitsparabel ist. Mo-derner sind wir Menschen geworden, klüger nicht wirklich.
So blicken wir am Beginn des neuen Jahres mit banger Ungewissheit auf das, was kommen mag. Auch wenn niemand mehr eine wirtschaftliche Prognose abgeben mag, rechnen alle damit, dass wir eher schwierigen Zeiten entgegen gehen. Die weltwirtschaftlichen Probleme können uns in Deutschland nicht unberührt lassen. Gerade unsere Stärke als Exportnation und auch unsere im Vergleich zu allen euro-päischen und westlichen Partnern leistungsstarke industrielle Produktion lassen uns Nachfragerückgänge auf den Weltmärkten unmittelbar spüren. Das wird auch für uns in der Ortenau gelten, wo unsere mittelständisch geprägte Wirtschaft ihr Leistungs-vermögen in globalen Märkten und ihren Verflechtungen bewiesen hat. Aber es muss uns nicht umwerfen, und ich will begründen, warum es uns meines Erachtens nicht umwerfen wird:
Im Grunde machen wir in dieser Krise wieder neu die uralte Menschheitserfahrung, dass jeder Fortschritt auch seine Schattenseiten hat. Das war mit der Erfindung des Automobils nicht anders als mit der des Schießpulvers. Und das lernen wir schon aus der griechischen Mythologie, wo dem Prometheus mit seinen Fortschritten alsbald die Büchse der Pandora folgte.
Und eine zweite Erfahrung hängt damit zusammen, nämlich die, dass Menschen im-mer dazu neigen, durch Übertreibung zu zerstören bzw. den Fortschritt in Nachteil zu verwandeln. Wer erinnert sich nicht an den Turmbau zu Babel?
Wichtig bleibt dabei, über den Nachteilen und Risiken nicht den Fortschritt oder das Positive aus dem Auge zu verlieren. Das ist in der berühmten Geschichte vom halb-vollen oder halbleeren Glas enthalten. Wenn also jetzt alle über die internationalen Finanzmärkte und ihre Exzesse klagen und innovative Finanzprodukte, deren Risiken am Ende keiner mehr beherrschen konnte, als Ursache der Probleme identifizieren, dann darf darüber nicht vergessen werden, dass ohne Geld und Kredit und damit ohne funktionierende Finanzmärkte arbeitsteilige Wirtschaft nicht funktionieren kann. Wie groß die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Finanzmärkte in der welt-wirtschaftlichen Verflechtung, ohne die unser Lebens- und Sozialstandard auch nicht in Ansätzen denkbar wäre, sind, sehen wir jetzt, wo Banken sich schwer tun, hinrei-chend Kredit und Liquidität zur Verfügung zu stellen. Kurzum, ohne das Schwungrad leistungsfähiger, innovativer Finanzmärkte ist wirtschaftlicher Aufschwung nicht mög-lich, und über aller Armut in der Welt und auch in unserer Gesellschaft, die für die Wohlhabenden immer beschämend bleiben muss, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, welche gewaltige wirtschaftliche Entwicklung in nahezu allen Teilen der Welt für Milliarden Menschen stattgefunden hat.
Mit anderen Worten, man kann auch Sorgen und Ängste übertreiben, und wer nur Nachteile und Risiken sieht, ist genauso blind wie der naiv Fortschrittsgläubige.
Es kommt die andere Erfahrung hinzu: eine Art Sättigungsgesetz, und das heißt ein-fach, dass alles, was wir selbstverständlich zu besitzen glauben, an individuellem Wert verliert. Wie oft mahnen Eltern ihre Kinder vergeblich: „achte auf Deine Ge-sundheit“ – aber kaum scheint die Gesundheit nicht mehr so sicher, schon wird sie wichtiger als fast alles andere. Und mit sauberer Luft und reinem Wasser war es vor Zeiten bei den meisten von uns nicht anders.
Wir alle wissen, dass Grundlage jeder freien Preisbildung das Verhältnis von Ange-bot und Nachfrage ist, dass also jede Bewertung letztlich subjektive Elemente ent-hält. Mein schwäbischer Großvater war noch überzeugt, dass Grund und Boden sei-nen Wert nicht verlieren kann. Er würde sich angesichts der amerikanischen Immobi-lienblase die Augen reiben. Und auf die Wertbeständigkeit von Gold sollte man allen-falls so lange hoffen, wie die Nachfrage danach gesichert erscheint.
Jedes Ziel, das erreicht und jedes Streben, das erfüllt ist, droht deshalb an Bedeu-tung zu verlieren. Das entspricht dem ökonomischen Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, macht übrigens Politik nicht immer nur leichter. Was erreicht ist, ist weniger wert – wie anders wäre am Ende der schnelle Rückgang der Beteiligung bei allen Wahlen in den neuen Bundesländern zu erklären, wo doch in der ehemaligen DDR noch vor 20 Jahren mit die größte Sehnsucht die nach freien Wahlen war?
Weil Fortschrittsverweigerung so blind wie Fortschrittsgläubigkeit sein kann, brau-chen wir die nötige Balance. Balance ist, wie wir im Physikunterricht gelernt haben, ein labiles Gleichgewicht. Das heißt: es ist immer gefährdet und muss immer neu errungen bzw. gehalten werden. Nach Karl Poppers Theorie lernen wir vor allem aus unseren Fehlern. Es gibt nichts endgültig Richtiges, was eine notwendige Vorausset-zung für Freiheit ist, wie Popper in seinem großen Werk von der Offenen Gesell-schaft und ihren Feinden so eindrucksvoll nachgewiesen hat. Bei der Balance ist es ähnlich. Sobald sie verloren zu gehen dort, justieren wir sie neu. Das Pendel schwingt gewissermaßen zurück. Vor kurzem wäre noch jeder Versuch, nationale oder internationale Finanzmärkte regulieren zu wollen, als Verstoß gegen unsere Zukunftschancen verurteilt worden, und die das am entschiedensten vertreten haben, rufen heute am lautesten nach dem Staat. Im Prozess von trial and error, so Popper, in Versuch und Irrtum, vollzieht sich menschliche Entwicklung, und nur so ermöglicht sich Freiheit.
Und genau hier beginnt meine Zuversicht. Übertreibungen geschehen und Übertrei-bungen fordern und bedürfen der Korrektur. Aber das heißt eben nicht Stillstand, sondern es bleibt Entwicklung. Die Verhältnisse ändern sich. Viele sagen, dass sich aufgrund wissenschaftlich-technischen Fortschritts das Tempo der Veränderungen beschleunigt habe. In der Ökologie, in der Informationstechnologie, in den Sozial-strukturen bis hin zur Demographie. Und das ist wiederum vielfältig Grund zur Sorge. Aber der Mensch als solcher bleibt – zur Freiheit berufen und in der Schuld verstrickt, wie nicht nur die Christen wissen, also unvollkommen und doch zugleich einzigartig.
Wirklich klüger wird der Mensch, wie wir gesehen haben, nicht und moralischer leider auch nicht, wie die Geschichte seit Jahrtausenden lehrt. Das war wohl der Hauptirr-tum der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts: dass sie glaubten den Menschen in seiner Grundstruktur ändern zu können. Grausame totalitäre Diktaturen waren Folge dieses Irrglaubens.
Aber lernen konnte der Mensch schon immer, Neues erfinden, nach neuen Erkennt-nissen streben. Anders ist die Einzigartigkeit der Menschheitsgeschichte nicht zu er-klären. Lernen also im Popperschen Sinn von trial and error. Und das bedeutet nichts anderes, als sich auf ständig sich ändernde reale Verhältnisse einzulassen, sie zur Kenntnis zu nehmen und zu versuchen, daraus möglichst richtige Schlussfolgerun-gen zu ziehen.
Ich möchte vier solcher Entwicklungen kurz andeuten:
1) Der technische Forschritt, das, was man früher etwas unpräzise Rationalisie-rung genannt haben mag, bewirkt schnelle und tief greifende Veränderungen der Art, wie Güter und Dienstleistungen hergestellt und verteilt werden. Das ist der entscheidende Faktor für Wohlstandsmehrung. Wohlstandsmehrung sehr umfassend verstanden, wenn man zum Beispiel auch bedenkt, dass der Er-satz menschlicher Arbeit durch Energie dazu führt, dass sich Menschen viel weniger als früher schinden müssen. Die Anforderungen an Bildung, Ausbil-dung und berufliche Qualifikation, die sich aus diesem wissenschaftlich-technischen Fortschritt ergeben, sind offensichtlich bis zu der Tatsache, dass auch schwächere Begabungen qualifiziert werden müssen, weil der Arbeits-markt für gering qualifizierte Tätigkeiten weitgehend erodiert. Vielfältig verän-dern sich so auch alltägliche Lebensumstände, wenn wir nur an die Entwick-lung im Einzelhandel beispielhaft denken. Kommunalpolitikern brauche ich nicht zu beschreiben, welche Anforderungen sich heute dadurch ganz neu stellen. Und Mobilität ist heute nicht mehr nur für innerstädtische Verkehrspla-nung wichtig, sondern genau so eine Anforderung an die Berufs- und Lebens-planung von immer mehr Menschen.
2) Mit technisch-wissenschaftlichem Fortschritt hängt die Steigerung der durch-schnittlichen Lebenserwartung zusammen, von der geringeren körperlichen Belastung durch Maschineneinsatz über bessere Ernährung bis zu den un-glaublichen Fortschritten von Medizin und pharmazeutischer Wissenschaft. Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ermöglicht Familienplanung und die tatsächliche Verwirklichung von Gleichheit zwischen Männern und Frauen hat die Einstellung zu Beruf und Familie innerhalb einer Generation grundlegend verändert und schafft so neue Anforderungen an die Vereinbar-keit von beiden. Die zuvor schon genannten Mobilitätsbedürfnisse kommen hinzu. Steigende Lebenserwartung führt zu seiner wachsenden Zahl von Hochbetagten, auch Pflegebedürftigen, und das alles beinhaltet neue Heraus-forderungen für die Gesellschaft und ihre Institutionen, nicht zuletzt die Fami-lie.
3) Die neuen Fähigkeiten, Informationen zu sammeln, zu verarbeiten, zu verbrei-ten, die Informations- und Kommunikationstechnologien, stellen nicht nur ganz neue Herausforderungen an den Datenschutz. Sie verändern industrielle Pro-duktion wie Dienstleistungen und Verwaltung, sie ermöglichen mit den un-glaublichen Rechenkapazitäten naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt in bisher nicht gekanntem Maß und Geschwindigkeit, und sie verändern die medial vermittelte öffentliche Kommunikation, was nicht nur Zeitungsverlage oder auch CD-Hersteller spüren. Weil menschliche Aufmerksamkeit – also die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten – immer begrenzt bleibt, wird der Wettbewerb um Aufmerksamkeit – gemeinhin nennt man das Quote oder Auflage – bei unendlich viel verfügbaren Informationen härter. Im Zweifel setzt sich die skandalträchtigere Information gemäß dem journalisti-schen Erfahrungssatz „bad news are good news“ durch. Fast zwangsläufig kommt es zur Dramatisierung und zugleich Banalisierung unserer öffentlichen Informationssysteme, die wir heute beobachten. Auch die Monotonie der sich in jeweils einer Zeiteinheit durchsetzenden Information nimmt zu. Und daraus folgt wiederum fast zwangsläufig der schnellere Überdruss und also der schnellere Wechsel der Themen, die öffentlich Aufmerksamkeit finden. Das öf-fentliche Langzeitgedächtnis nehme ab, beobachten Soziologen.
Auch unsere Art zu denken bleibt nicht unbeeinflusst. Seit Gutenberg lasen wir Seite für Seite und gewöhnten uns daran, Schritt für Schritt Informationen in mehr oder minder logischer Abfolge aufzunehmen. Bei Google haben wir mit einem Mausklick jede Information unmittelbar verfügbar. Wer ungeduldig aus meiner Generation versucht, bei einem modernen technischen Gerät eine Gebrauchsanleitung zu verstehen, droht zu verzweifeln.
Weil jede, und vor allem jede freiheitlich verfasste Gesellschaft entscheidend durch die Art, wie sie kommuniziert, geprägt wird, sind die Auswirkungen der digitalen Revolution auf unsere gesellschaftlichen und politischen Strukturen bislang nur in Ansätzen erfasst.
4) Weltweit fassen sich alle diese Entwicklungen unter dem Stichwort „Globalisie-rung“ zusammen. Von jedem Punkt der Erde verfügen wir heute in real time über jede Information, und weil das zumindest im Grundsatz eben auch um-gekehrt gilt, schafft die Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher Lebensumstän-de neue Konfliktpotenziale zwischen Kulturen und Religionen und vor allem zwischen Armen und Reichen. Alles hängt mit allem zusammen, im Weltklima so sehr wie bei Wirtschaft und Finanzen und in der Bedrohung durch gewalttä-tige Konflikte, failing states, asymmetrische Kriegsführung, organisiertes Verbrechen und internationalen Terrorismus eben auch. Was an einem Punkt der Erde passiert, hat vielfältige Auswirkungen auch auf andere Länder. Das führt dann wiederum zu neuen Qualitäten und Quantitäten von Mobilität, die wir bei uns selbst mit unserer Präsenz auf allen Weltmärkten und unserem nach wie vor ausgeprägten touristischen Engagement ebenso sehen wie in der weltweiten Migration. Rund 200 Millionen Menschen, schätzen die Exper-ten der Vereinten Nationen, sind derzeit Migranten. Daraus folgen neue Her-ausforderungen an die uralte Aufgabe jeder politischen Ordnung, Sicherheit zu gewährleisten. Das ist übrigens kein Gegensatz zu Freiheit, weil ohne die durch staatliche – oder besser politische – Ordnung verbürgte Sicherheit Frei-heitsrechte bestenfalls noch auf dem Papier stehen. Aber Globalisierung ein-schließlich Migration bedeutet vor allem auch, dass wir Verschiedenheit nicht nur in fernen Erdteilen, sondern überall, also auch zu Hause erleben, und das heißt: alternativlose Notwendigkeit von Integration von Menschen ganz unter-schiedlicher geografischer, kultureller, sozialer, auch religiöser Herkunft.
Auf solche, sich womöglich schneller vollziehende Änderungsprozesse, Entwicklun-gen müssen wir uns also einlassen und Antworten suchen, die der Wesensart des Menschen gemäß sind, die uns also weder unter- noch überfordern. Dafür gibt es die einzig und ein für alle Mal richtige Antwort nicht – zum Glück nicht, weil das mit Of-fenheit von Zukunft und eben mit Freiheit nicht zu vereinbaren wäre. Aber es gibt Erfahrungen, die uns im Popperschen Sinn helfen können.
Weil ich gerade von den Auswirkungen von Migration und damit der Notwendigkeit von Integration gesprochen habe, will ich mit der Religion beginnen. Sie wird aus menschlichem Leben und menschlicher Gesellschaft nicht verschwinden, was immer jeder Einzelne glauben mag. Das 21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein, hat André Malraux schon vor langer Zeit gesagt, und spätestens die Begegnung mit dem Islam zeigt uns, dass er Recht hatte – so wie das der vor kurzem verstorbe-ne Samuel Huntington auch gesehen hat. Menschliche Gesellschaften suchen Grün-de für Zusammengehörigkeit, Identität, und das hat neben gemeinsamen Erinnerun-gen oder Mythen und geteilten Gefühlen viel mit der Frage nach dem Sinn menschli-chen Lebens zu tun, und trotz aller atemberaubenden Entdeckungen insbesondere der Astrophysik mit Urknall und schwarzen Löchern bleibt die Frage nach dem Davor und Danach. In Wahrheit überfordert die Grenzenlosigkeit von Zeit und Raum menschliche Vorstellungskraft, was wiederum belegt, dass der Mensch ohne Gren-zen und das Wissen um seine Begrenztheit schlecht leben kann. Das ist zugleich eine gute Vorkehr gegen Allmachtsphantasien, und damit eine Vorkehr gegen Über-treibungen, Hybris.
Allein kann der Mensch auch nicht leben. Man kommt nicht allein in diese Welt, ziem-lich schlecht auch wieder aus ihr heraus, und dazwischen geht es auch nicht wirklich. Bei Daniel Defoes Robinson Crusoe kann man das nachlesen. Aber der Einzelne ist immer mehr als nur Teil einer Gesellschaft – wir taugen zum Ameisenstaat nicht. Das ist Hitler nicht gelungen, Stalin nicht, Mao nicht und Pol Pot auch nicht. Und dar-aus folgt, dass aus personaler Bindung, Verantwortung, Betroffenheit sich Lösungen für unsere Probleme finden lassen, immer wieder, die in der Anonymität nicht zu fin-den sind. Das wird uns im Umgang mit der virtuellen Welt noch manche Diskussio-nen abverlangen. Da sind wir erst am Anfang. Und das erklärt auch die Überlegen-heit marktwirtschaftlicher Modelle, wenn Menschen aus eigenem Antrieb oder eige-nem Interesse freiwillig aus eigener Entscheidung viel leistungsfähiger und kreativer sind, als wenn sie bürokratisch oder totalitär reglementiert werden.
Das klingt allenfalls scheinbar pathetisch. In Wirklichkeit ist es ganz alltägliche Erfah-rung. In kleinen überschaubaren Einheiten gibt es ein Maß an Engagement, Solidari-tät, auch Phantasie, Kreativität und Einsatzbereitschaft, das immer wieder erstaunen lässt. Bürgerschaftliches Engagement in Stadtteilgruppen, ehrenamtlicher Einsatz in kulturellen und Sportvereinen, in Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Parteien, Bür-gerinitiativen, freiwillige Helfer bei der Feuerwehr, dem Roten Kreuz, dem Techni-schen Hilfswerk und all den anderen gemeinnützigen Organisationen. Die institutio-nellen Formen mögen sich ändern, das muss in der Abfolge der Generationen auch so sein. Aber die Bereitschaft, sich einzubringen, etwas für sich und für andere zu tun, die bleibt. Das Streben nach eigener Entscheidung, also Freiheit, bleibt dem Menschen ebenso immanent wie die Tatsache, dass er auf Gemeinschaft angelegt ist.
Und das gilt allzumal für die Institution, in der Menschen seit jeher Gemeinschaft am ursprünglichsten erfahren, die Familie. Sie bleibt unverzichtbar, und sie wird bei allen Veränderungen die ursprünglichste Gemeinschaft bleiben, in der Zusammenleben und Verantwortungsgemeinschaft von Generationen und damit menschliche Gesell-schaft in der Generationenfolge sich verwirklicht.
Auf solches lässt sich Zuversicht gründen. Die Formen ändern sich, aber der Kern wird Bestand haben. Das zeigt übrigens auch jeder interkulturelle Vergleich. Und dass sich Formen ändern, ist keine Bedrohung. Stillstand ist dem Menschen nicht gemäß. Weil ich aus dem Faust schon zitiert habe, will ich an seine Wette noch erin-nern: „Werd‘ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann will ich gern zugrunde gehn!“ Stillstand ist dem Menschen nicht gemäß. Mono-tonie schafft Überdruss und Langeweile, macht auch – wie wir aus der Biologie wis-sen – weniger widerstandskräftig. Also bedroht Vielfalt, Buntheit, auch Fremdheit nicht, wie der geistige Führer der jüdischen Gemeinde Großbritanniens, Jonathan Sacks, zum interreligiösen Verhältnis geschrieben hat: „the dignity of diversity“ – Würde oder Reichtum der Verschiedenheit. Also Fremdheit bedroht nicht, sondern bereichert, unter der Voraussetzung, dass Austausch stattfindet, Kommunikation. Dazu braucht man eine gemeinsame Sprache und dazu braucht es Interesse für den anderen, und dazu braucht es Toleranz, auch zwischen den Angehörigen unter-schiedlicher Religionen. Dann heißt das Integration. Auch deshalb habe ich die Deut-sche Islamkonferenz gegründet.
Zur Vielfalt passt auch der Hinweis, dass Wirtschaft und wirtschaftlicher Erfolg wich-tig, aber auch nicht alles sind. Wir dürfen menschliche Gesellschaft nicht auf den Prozess von Angebot und Nachfrage reduzieren. Darauf hat schließlich einer der be-deutendsten Markttheoretiker, Wilhelm Röpke, in seinem Buch Jenseits von Angebot und Nachfrage hingewiesen. So, wie wir nicht alle Lebensbereiche ausschließlich nach dem Prinzip von Markt und Wettbewerb organisieren sollten. Darüber muss man gelegentlich mit europäischen Institutionen streiten. Aber Sport ist eben mehr als nur der kommerzialisierte Bereich. Und Kunst und Kultur bleiben für Menschen prägend. Vom Brot allein lebt der Mensch eben nicht. Aber wirtschaftlicher Erfolg bleibt auch wichtig. Und den erzielt man eher, wenn man bei Kreativität und Leis-tungsbereitschaft, Phantasie und Engagement der Menschen ansetzt. Das begründet die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnung. Die dürfen wir auch in der Krise nicht zu Tode regulieren. Und umgekehrt brauchen wir Vorkehrungen gegen Über-treibungen, weil Gier Menschen immer blind zu machen droht. Das ist der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft.
Das alles ist Grund für Zuversicht, weil sich darin Lösungen finden lassen im Wett-streit unterschiedlicher Meinungen. Nur so geht Freiheit, aber freiheitliche Lösungen haben sich anderen immer als überlegen erwiesen, weil der Mensch in seiner Indivi-dualität im Streben und im Irren sich in einer langen Geschichte immer wieder als innovations-, auch als anpassungsfähig und vor allem als überlebensfähig erwiesen hat. Auch das begründet Zuversicht.
Wie gesagt, wie konkrete Lösungen aussehen, darüber kann, ja darüber muss ge-stritten werden. Viele der bewährten institutionalisierten Erfahrungen sind übrigens im politischen Wettstreit grundsätzlich unbestritten, von der Notwendigkeit einer Poli-tik, die auf Familie setzt, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, stärkere Anstrengungen für Bildung und Qualifikation auf allen Ebenen über die Förderung ehrenamtlicher Strukturen bis zur Diversifizierung unserer wirtschaftlichen Einheiten, von Selbstständigen und Existenzgründern über einen breiten Mittelstand bis zu gro-ßen Unternehmen. Auch da macht die Diversifizierung krisenresistenter. Wie genau wir die Balance zwischen Selbstverantwortung und Regulierung finden, darüber wird immer wieder gestritten werden müssen, aber weil Übertreibungen sich selbst zerstö-ren, korrigieren sie sich auch am Ende selbst, funktioniert also dieser Prozess im po-litischen Wettstreit. Dass personale Verantwortung unersetzlich bleibt, wird spätes-tens bei der zentralen Funktion von Vertrauen klar. Ohne Vertrauen funktionieren selbst in Zeiten hochkomplexer Finanzprodukte am Ende weder Märkte noch Ban-ken, und Geld oder Währung ist am Ende auch nichts anderes als irgendwie geron-nenes Vertrauen.
Auf personale Verantwortung gründet kommunale Selbstverwaltung. Sie ist – wie der Föderalismus trotz mancher aktueller Probleme – eine Stärke unseres deutschen und zunehmend auch des europäischen Modells, nicht zuletzt weil sie den Versu-chungen zur Anonymität wehrt und weil sie die starken Seiten individueller Verant-wortung und freiheitlicher Ordnung anspricht. Das kann Befriedung schaffen und Be-friedigung.
Wir haben eine Menge Probleme vor uns. Aber wir haben auch eine gute Menge an Erfahrungen, die uns stark machen können. So haben wir Grund zur Zuversicht.