Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble zum Neujahrsempfang des Diakonischen Werkes der EKD in Berlin
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Vor genau 19 Jahren, im Februar 1990, veröffentlichten die Landespfarrer und Hauptgeschäftsführer der Diakonischen Werke in den beiden deutschen Staaten eine gemeinsame Erklärung. Sie beschlossen, die Diakonie wiederzuvereinigen. Die Bundesregierung hatte damals gerade einen Kabinetts-Ausschuss „Deutsche Einheit“ eingerichtet und bereitete die „Zwei-plus-Vier-Gespräche“ vor. Dass unser Volk dann im Oktober 1990, nach 40 Jahren Teilung und kommunistischer Diktatur, wiedervereinigt werden konnte, kommt mir noch heute wie ein Geschenk des Himmels vor.
Bis die Diakonie ihre Wiedervereinigung rechtlich vollziehen konnte, hat es noch ein Jahr gedauert, aber mit der Erklärung vom Februar 1990 hatte die Diakonie demonstrativ einen politischen Schlussstrich unter die aufgezwungene Teilung gezogen.
Die war freilich gerade im kirchlichen Bereich nie so absolut, wie es die SED durchsetzen wollte. Die Partei und ihr Staatsapparat konnten die Diakonie in der DDR zwar formal zur organisatorischen Eigenständigkeit zwingen. Es gelang ihnen auch, wichtige Funktionsträger auszuschalten und – wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen auch – Spitzel einzuschleusen. Sie konnten aber weder verhindern, dass die Diakonie erst in der SBZ, dann in der DDR eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielte, noch dass sie ihre engen Verbindungen zur evangelischen Kirche im Westen aufrechterhielt.
Beides war dem DDR-Machtapprat ein Dorn im Auge: Erstens, dass die evangelische Kirche durch die Diakonie mit ihren sozialen Diensten am Menschen sichtbar war und Anerkennung gewann. Zweitens, dass durch die Unterstützung aus den evangelischen Kirchengemeinden im Westen ein Bewusstsein der Gemeinsamkeit auf beiden Seiten der Mauer erhalten blieb. Daraus folgte für die SED die Notwendigkeit, der Diakonie im Osten das Leben so schwer wie möglich zu machen und sie so weit wie möglich aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.
Die Gründe für diese Haltung der DDR-Regierung gegenüber der Diakonie waren schon damals so offensichtlich wie bezeichnend. Im Kern ging es immer um den Machterhalt der SED. Aus deren Sicht stellte die Diakonie mit ihren sozialen Diensten gleich mehrere Grundpfeiler der sozialistischen Diktatur in Frage. Auf der ideologischen Ebene stand sie für die gesellschaftliche Relevanz von Religion. Aus der Sicht des Marxismus-Leninismus aber waren Kirche, Religion und alles, was mit ihnen zusammenhing, überholte gesellschaftliche Strukturen. Sie waren der reinen Lehre nach zum Absterben verurteilt, nicht zum Fortbestehen in einem sozialistischen Musterstaat.
Auf der praktischen Ebene stellte die Diakonie zwei Dinge unter Beweis, die nicht sein konnten, weil sie nicht sein durften: erstens die Solidarität von Menschen aus allen sozialen Schichten; zweitens die Einheit von Wort und Tat der evangelischen Kirche und der evangelischen Christen. Deshalb wollte der DDR-Apparat, dem es nicht um das Wohl der Menschen, sondern die möglichst konsequente Anwendung der kommunistischen Ideologie ging, es nicht zulassen, wenn die Diakonie sich um all jene kümmerte, die im sozialistischen Paradies Hilfe brauchten.
Wir wissen heute, dass die DDR gerade wegen dieser zutiefst unmenschlichen Staatsräson gescheitert ist. In den vierzig Jahren DDR war diese Haltung aber offizielle Politik und geltendes Recht. Trotzdem hat die Diakonie-Ost sich behauptet. Sie hat sich auch nicht von der engen Partnerschaft mit der Diakonie und vielen evangelischen Gemeinden in der Bundesrepublik abbringen lassen.
Wie groß die Kluft zwischen der offiziellen und der tatsächlichen Rolle der Diakonie in der DDR war, will ich an Widersprüchen deutlich machen, die Bände sprechen. Der erste betrifft den Stellenwert diakonischer Einrichtungen für die Gesundheits- und Sozialfürsorge der DDR. Im Bewusstsein begrenzter eigener Mittel hat der Staatsapparat – nachdem alle Versuche, der Diakonie die Arbeit ganz unmöglich zu machen, gescheitert waren – alles in seiner Macht stehende getan, um die Diakonie an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Das folgte einem zynischen Kalkül: Wenn man die evangelischen Christen schon nicht an guten Werken hindern konnte, dann sollten sie sich eben um jene kümmern, die keinen Beitrag mehr zum Aufbau des Sozialismus leisten konnten: schwer kranke, alte und vor allem geistig behinderte Menschen. Während also die DDR der Diakonie jede Anerkennung verweigerte, setzte sie insgeheim auf deren soziale Arbeit, um das schon seit den 1960er Jahren offenkundig überforderte Gesundheitswesen zu entlasten.
Wie wichtig die Diakonie über Zeit für die Gesundheitsfürsorge in der DDR wurde, drücken am besten einige Zahlen aus. Die Diakonie unterhielt in den 1970er und 1980er Jahren 120 Einrichtungen für geistig behinderte Menschen. Von den Schwer- und Schwerstbehinderten in der DDR betreute die Diakonie etwa die Hälfte. In 76 konfessionellen Krankenhäusern wurden in 12 000 Betten Patienten versorgt. Fast genauso wichtig war die Diakonie für die soziale Vorsorge in der DDR. Über 1100 soziale Einrichtungen unterhielt sie, darunter knapp 300 Kindergärten und Horte sowie über 230 Alters- und Alterspflegeheime.
Solche Zahlen machen deutlich: Ohne die Diakonie wäre das Gesundheits- und Sozialsystem der DDR überfordert gewesen. Ohne die Diakonie wären ausgerechnet diejenigen, die am meisten der Hilfe bedurften, auf der Strecke geblieben. Es ist dem bewundernswerten Engagement der Diakonie und ihrer vielen auch ehrenamtlicher Mitarbeiter zu verdanken, dass aus Sicht der SED wertlose, abseits stehende Menschen nicht allein gelassen wurden.
Die Diakonie in der DDR wäre dazu nicht in der Lage gewesen – hier zeigt sich der zweite große Widerspruch zur Linie des Partei- und Regierungsapparats – ohne die Solidarität und Unterstützung der Christen im westlichen Teil Deutschland. Von Anfang an, seit der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen, bemühten sich die evangelischen Kirchen und die Diakonie in Ost und West gemeinsam um die Versorgung von Kriegsgeschädigten, Ausgebombten und Heimkehrern.
Zunächst war das auch den Machthabern in der Sowjetischen Besatzungszone recht. Nach Gründung der „Volkssolidarität“ aber, die dann 1951 zur SED- treuen Dachorganisation aller Wohlfahrtsverbände umfunktioniert wurde, kam es zu immer mehr Behinderungen. Einigen diakonischen Stiftungen wurde die Rechtsfähigkeit entzogen. Viele Einrichtungen wurden beschlagnahmt oder ihre Finanzierung gekappt. Spektakulär war die Verhaftung von Kurt Grünbaum, in dessen Wohnung 400 000 DDR-Mark an Spenden und Zuwendungen beschlagnahmt wurden.
Erst ab 1957 gestand die DDR der Diakonie eine geregelte Finanzierung und Hilfen „von außen“ zu. Eine zentrale Rolle spielten dabei Patenschafts- und Partnerschaftshilfen zwischen evangelischen Kirchengemeinden und den gliedkirchlichen Diakonischen Werken in Ost und West. Dazu kamen die zentralen Leistungen und Hilfslieferungen des Diakonischen Werkes der EKD. Auch die so genannten Kirchengeschäfte – Rohstofflieferungen im Gegenzug für humanitäre Erleichterungen, z.B. im Wege des Häftlingsfreikaufs – trugen zur Finanzierung der diakonischen Arbeit bei. Von 1957 bis 1990 summierte sich die Unterstützung auf fast 1,75 Milliarden Deutsche Mark. Das Geld floss für Wohn- und Gesundheitsbauten; oft wurden auch Baustoffe und medizinische Geräte geliefert. Diese Hilfen waren lebenswichtig, weil viele der gelieferten Güter in der DDR nicht zu bekommen waren. Deshalb hat sie damals auch der Bund zur Hälfte mitfinanziert.
Die Motivation der diakonischen Arbeit wie auch der Hilfen aus dem Westen war nicht, wie die SED vermutete, dass man auf diese Weise die DDR-Bevölkerung lenken wollte. Diakonie – das muss ich hier niemand erläutern –, bedeutete in der DDR das Gleiche, was es heute in unserer freiheitlichen Demokratie bedeutet: praktizierte Nächstenliebe. Beides, diakonisches Wirken in der DDR und solidarische Unterstützung aus der Bundesrepublik, waren humanitäre Taten, nicht politische Projekte.
Trotzdem hatten sie natürlich eine immanente politische Bedeutung – sowohl für das Leben in der DDR als auch für die innerdeutschen Beziehungen. Die sichtbarste Folge des gemeinsamen Engagements war, dass die Kirchen in der DDR nicht in den privaten oder kultischen Bereich abgedrängt wurden. Im Gegenteil: Sie blieben gesellschaftlich präsent als einzige – allen Beeinflussungsversuchen zum Trotz – unabhängige Kraft. Nur deshalb konnten sie auch in den 1980er Jahren bis hin zur friedlichen Revolution des Jahres 1989 als Schutzraum für kritisches Denken und schließlich die Formulierung demokratischer Ansätze in der DDR dienen.
Die Kirchen haben diese politische Rolle nicht gesucht; sie war natürlich erst recht kein Ziel der Diakonie. Ihre Arbeit galt hilfsbedürftigen Menschen, keiner politischen Partei und auch keinem Staat. Für sie wurde durch die Diakonie manches leichter und erträglicher. Nach der Wiedervereinigung ist deshalb von Einzelnen kritisiert worden, die Kirchen und die Bundesrepublik hätten so das SED-Regime gestützt und die Teilung unnötig verlängert. Ich halte das für abwegig. Hätten die Kirchen einfach wegsehen sollen? Die Hilfen kamen in erster Linie den Menschen zugute, die auf die humanitäre Arbeit der Diakonie angewiesen waren – nicht dem Apparat. Und im Übrigen hing es nicht von solchen Hilfen ab, ob die DDR fortexistierte, sondern vom Kurs der Sowjetunion.
Selbst wenn die Diakonie den Druck auf das SED-Regime verringert hat, dann hat sie doch zugleich auch das Bewusstsein für die Einheit des deutschen Volkes mit am Leben erhalten. Sie hat das Fortbestehen der Gemeinschaft aller Deutschen in Ost und West vorgelebt. Ich bin überzeugt, dass diese besondere Gemeinschaft eine wichtige Klammer war, die die Deutschen emotional zusammenhielt. Damit haben die Kirchen und hat auch die Diakonie, über ihre unmittelbare Absicht und Arbeit für die Schwachen hinaus Verantwortung übernommen für die Zukunft unseres einen Volkes.
Im Dienst an der Gemeinschaft durch den Dienst am Einzelnen, darin sehe ich auch unter heutigen Bedingungen die zentrale politische Bedeutung der Diakonie. Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen als während der deutschen Teilung. Damals ging es um die Existenzfrage unseres Volkes, nämlich die Erhaltung einer gemeinsamen Kultur und Sprache und damit verbunden auch eines gemeinsamen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit und politischer Ordnung. Das Schlimme an der deutschen Teilung war ja nicht nur, dass Sie am Ende 16 Millionen Menschen zu Geiseln ideologisch verblendeter Apparatschiks gemacht hat. Genauso schlimm war, dass sie das Gemeinsame, das alle Deutschen über alle regionalen und sozialen Unterschiede hinweg verbindet, systematisch geleugnet und verdrängt hat. Gerade deshalb waren die Kirchen so wichtig als Symbole und soziale Klammern des nationalen Zusammenhalts.
Was wir heute brauchen, sind Klammern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die gewaltigen Veränderungen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, vor allem die intensive globale Vernetzung, haben tiefgreifende Folgen für unsere Gesellschaft. Sie ist heute so heterogen wie noch nie zuvor. Nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer, die Menschen leben auch in immer unterschiedlicheren Lebenswelten. Die Migration von Millionen Menschen in Deutschland und Europa verstärkt diese Entwicklung noch. Sie birgt außerdem die Gefahr, dass sich soziale mit kulturellen oder religiösen Konflikten vermischen.
All das fordert die innere Einheit unserer Gesellschaft und unseres Staates heraus. Die innere Einheit ist aber unverzichtbar für unsere freiheitliche Demokratie. Denn Freiheit setzt ein gemeinsames Verständnis davon voraus, wie wir als Bürger eines Staates zusammenleben wollen. Moderne Gesellschaften funktionieren nur, wenn wir alle wissen, mitgestalten und akzeptieren, welche Regeln gelten. Und wenn es etwas gibt, das uns über Unterschiede, über emotionale Mauern hinweg zusammenhält. Das ist die Herausforderung, vor der wir alle heute stehen.
Ich glaube, die Kirchen können viel für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun. Sie tun es ja bereits mit ihrer sozialen Arbeit, insbesondere der Caritas und der Diakonie. Beide Organisationen zusammen haben eine Million ehrenamtliche Mitglieder. Nicht nur in dieser Zahl, sondern vor allem in den vielen unterschiedlichen sozialen Aktivitäten in den Gemeinden steckt ein gewaltiges Potential, um mit den Umwälzungen unserer Zeit umzugehen.
Ich möchte Sie als Verantwortliche der Diakonie deshalb ausdrücklich darin bestärken, dass sie sich in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten engagieren. Ich weiß, welche Herausforderung das gerade für ein Großunternehmen darstellt, wie es die Diakonie heute ist. Es bedeutet Veränderung nicht nur von Tätigkeitsschwerpunkten, sondern letztlich der gesamten Organisation. Dass viele der Migranten, die heute die Hilfe der Diakonie brauchen, einen anderen Glauben haben, macht die Aufgabe nicht leichter. Aber gerade weil die Diakonie es trotzdem wagt, bin ich zuversichtlich, dass es nicht nur klappen wird, sondern auch etwas leisten wird für unsere Gesellschaft.
Unser Staat braucht dieses Engagement. Zusammenhalt kann man nicht verordnen. Die DDR hat das versucht und dann, als es nicht recht klappen wollte, einen Todesstreifen um ihre Gesellschaft gezogen. Zusammenhalt entsteht im gemeinsamen Eintreten für Werte, die uns als Menschen einen Sinn geben. Das Gebot der Nächstenliebe, das die Diakonie beispielhaft vorlebt, ist solch ein zentraler Wert – nicht nur für uns als Christen, sondern auch für Angehörige anderer Religionen. Auch deshalb bin ich überzeugt, dass die Religionen und Organisationen wie die Diakonie heute wichtiger sind für unsere Gesellschaft, als mancher glaubt. Ihnen und allen, die sich in der Diakonie engagieren, möchte ich für Ihren Einsatz danken. Wer sich in Erinnerung ruft, welch große Prüfungen viele Deutsche während der Teilung mit Gottes Hilfe gemeistert haben, der braucht sich nicht vor der Zukunft fürchten.