Deutschlands zweite Chance – Geschichte, Stand und Perspektiven der Deutschen Einheit



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Tagung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Das Thema „20 Jahre wirtschaftlicher Neuaufbau in Ostdeutschland“ liegt in diesem und im nächsten Jahr im Trend. Zu den Jubiläumsdaten, die sich 2009 und 2010 zu einer Kette reihen, gehört die Errichtung der Bundesrepublik Deutschland vor 60 Jahren genauso wie die Friedliche Revolution in der DDR vor 20 Jahren, die die SED-Herrschaft stürzte und den Weg in die deutsche Einheit eröffnete. Im Blick zurück, in dem wir die Ereignisse von 1989/90 historisch einordnen, fragen wir uns zugleich, wo wir auf dem Weg, der sich uns damals so glücklich eröffnet hat, inzwischen angekommen sind, wo er uns weiter hinführen soll und welche Schwierigkeiten wir dabei zu überwinden haben.

Dieser Rückblick ist natürlich keine nur akademische Angelegenheit, sondern eine eminent politische. Schon in dem allgemeinen Sinn, dass die Frage, wie wir im Aufbau Ost und damit auch in der inneren Einigung unseres Landes weiter vorankommen wollen, eine politische Grundsatzfrage mindestens auch des nächsten Jahrzehnts bleiben wird. Politisch aber auch in dem spezifischen Sinn, dass sie Ansatzpunkte für die parteipolitische Auseinandersetzung oder Instrumentalisierung bietet. Wenn gelegentlich Politiker es für zweckmäßig halten, kleine ungelenke Verbeugungen vor dem ehemaligen SED-Staat zu machen, dient das zwar nicht der historischen Wahrheit und auch nicht dazu, den Unterschied zwischen freiheitlicher Demokratie und Diktatur bewusst zu machen. Aber es zeigt, ebenso wie die darauffolgende öffentliche Auseinandersetzung, welche Brisanz diese Diskussion nach wie vor hat.

Aus meiner Sicht sind die entscheidenden zwei Sätze hierzu vor 15 Jahren vom Deutschen Bundestag ausgesprochen worden. 1994, bei der Entgegennahme des Berichts der ersten Enquête-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, fasste der Bundestag eine Entschließung, in der er u.a. feststellte:

„Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war dies nicht durch Fehlentwicklung oder individuellen Machtmissbrauch, sondern von seinen ideologischen und historischen Grundlagen her. […]

Die politisch-moralische Verurteilung der SED-Diktatur bedeutet keine Verurteilung der ihr unterworfenen Menschen, im Gegenteil. Die Deutschen in der SBZ/DDR haben den schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tragen gehabt.“ [1]

Dies wurde damals übrigens mit den Stimmen der Fraktionen von Union, SPD, FDP und Grünen beschlossen, und ich halte es nach wie vor für eine konzise Zusammenfassung der beiden entscheidenden Punkte der DDR-Aufarbeitung. Die Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR haben sich ihren Staat nicht ausgesucht. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten wir keine deutsche Teilung bekommen, keine Ein-Parteien-Diktatur, keine Stasi, keine Mauer und keine Zentralverwaltungswirtschaft. Dass es dazu kam, folgte aus dem Willen der östlichen Besatzungsmacht, und so musste sich ein Teil der Deutschen in den folgenden 40 Jahren abermals in einer Diktatur einrichten. Beseitigen ließ sie sich nicht, solange die sowjetische Macht das Regime mit allen Mitteln stützte – das war die Lehre des 17. Juni 1953 –; weglaufen konnte man nach dem Mauerbau auch nicht mehr, oder nur unter Lebensgefahr und Belastung für die zurückbleibenden Angehörigen, und so blieb nichts übrig, als das eigene Leben unter den Bedingungen, die man hatte, so gut es ging zu gestalten. Und als die Rahmenbedingungen sich Ende der 80er Jahre wandelten, haben die Menschen in der DDR die Diktatur gestürzt und ihre Freiheit erkämpft.

Sie haben damit zugleich den Weg zur Wiedergewinnung unserer nationalen Einheit eröffnet und ihn mit dem Beitrittsbeschluss der Volkskammer vom 23. August 1990 beschritten. Dafür muss man ihnen Anerkennung und Respekt zollen. Es war die erste nachhaltig erfolgreiche Revolution in der deutschen Geschichte. Und sie war friedlich und unblutig – sie konnte auch nur friedlich und unblutig erfolgreich sein. Ebenso wie die Errichtung der freiheitlichen demokratischen Ordnung nach dem Kriege in Westdeutschland ist sie grundlegend für die heutige Bundesrepublik Deutschland. Sie muss Teil unserer kollektiven Erinnerung und unseres historisch-politischen Selbstverständnisses in ganz Deutschland werden und bleiben.

Ich weiß nicht, ob es gerade für uns Deutsche charakteristisch oder ob es eher allgemein menschlich ist, dass man für das Mangelhafte oder Fehlende einen schärferen Blick als für das Gelungene und Erreichte hat. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass beim Einigungsprozess und beim Aufbau Ost in der Öffentlichkeit eine eher kritische Betrachtung überwiegt. Sicherlich spiegelt sich darin die Tatsache wider, dass die meisten vor 20 Jahren die Probleme der Transformation in den neuen Ländern nicht in ihrem vollen Gewicht erkannt und mit einem schnelleren Tempo der Angleichung gerechnet haben. Heute wird allerdings häufig die umgekehrte Frage gestellt, ob denn 1990 nicht alles viel zu schnell gegangen sei und ob es nicht für die wirtschaftliche Umgestaltung besser gewesen wäre, wenn die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nicht schlagartig, sondern als Ergebnis eines längeren Anpassungsprozesses eingeführt worden wäre. Darum ist es notwendig, an die damalige Ereignisfolge mit ihrer ungeheuren Dynamik und zugleich an die wirtschaftliche Ausgangslage zu erinnern.

Die Revolution, die sich in der DDR und im Ostteil Berlins vom September 1989 an vollzog und die in der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 ihren Abschluss fand, hatte in ihrer Unwiderstehlichkeit etwas von einem Naturereignis an sich. Das Tempo wurde nicht von der Politik gemacht, sondern von den Demonstranten auf den Straßen. Die Ereigniskette kam Anfang Mai 1989 langsam in Gang, als die Ungarn begannen, die Grenzbefestigungen abzubauen, und als in der DDR erstmals Bürgerrechtler eine Wahlauszählung überwachten und dabei massive Fälschungen feststellten. Die Menschen, die gehofft hatten, Gorbatschows neue Politik werde auch zu Reformen in der DDR führen, fühlten sich um so heftiger enttäuscht. Der Druck der Ausreisewilligen wuchs; gleichzeitig begannen, zunächst noch zögerlich, Demonstrationen, die Ende September Massencharakter annahmen. Am 9. Oktober 1989 unterblieb die in Leipzig vorbereitete Niederschlagung der Demonstration. Die versammelten Polizei- und Sicherheitskräfte waren zu schwach und die Risiken eines gewaltsamen Niederschlagens zu hoch angesichts der unerwartet großen Menschenmenge von 70.000, die sich an beiden folgenden Montagen noch zweimal verdoppelte.

Die Angst vor dem Regime fiel von den Menschen ab; die Demonstrationen in der ganzenDDR verstärkten sich: Gleichzeitig wurde deutlich, dass die sowjetischen Truppen, anders als 1953, nicht zugunsten des Regimes eingreifen würden. Gorbatschow hielt offenbar ein, was er mit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan und mit der Aufkündigung der Breschnew-Doktrin versprochen hatte. Und so beschleunigte sich der Absturz: 18. Oktober Rücktritt Honeckers, 7 Wochen später Rücktritt seines Nachfolgers Krenz, dazwischen Rücktritt der Regierung Stoph. Und am 9. November, in einer Mischung aus Handlungswillen und Desorganisation, die missverständliche Verkündigung einer neuen Reiseregelung, die von den Menschen als Öffnung der Mauer gedeutet und dann an den Innerberliner Grenzübergängen erzwungen wurde.

Und nun war erst recht kein Halten mehr. Die Menschen erkannten, dass mehr möglich war als nur eine Reform im System, eine „Wende“, wie Krenz sie nannte. Der Forderung nach Freiheit – „Wir sind das Volk!“ – folgte schnell der Ruf „Wir sind ein Volk“. Und damit war die Deutsche Einheit auf der Tagesordnung – „Deutschland einig Vaterland!“. Schon Anfang November hatte die Bundesregierung die Forderungen der Demonstranten aufgegriffen und der Regierung in Ost-Berlin auf deren Frage hin mitgeteilt, dass die erbetene umfassende wirtschaftliche Hilfe nur nach einer Systemänderung möglich wäre: Verzicht auf das Machtmonopol der SED, freie Wahlen. Und am 28. November verkündete Bundeskanzler Kohl das Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas, mit dem die deutsche Einheit auch auf die internationale Agenda gesetzt wurde. Bei seinem Besuch in Dresden knapp vier Wochen später zeigte der Jubel der Menschen, dass dieses Programm ihren eigenen Wünschen Ausdruck und politische Form gab.

Und dann kam die dritte Stufe der Ereignisse und eine nochmalige Beschleunigung. Anfang 1990 zeigte sich, dass auch die neuernannte Regierung Modrow kein Vertrauen gewinnen und die Lage nicht stabilisieren konnte. Die Macht verfiel. Der Übersiedlerstrom in den Westen hielt unvermindert an: Von Mauerfall bis Jahresende 300.000 Menschen, von Anfang 1990 bis zum 18. März 1990 täglich knapp 2000. Die freien Volkskammerwahlen mussten um 2 Monate vorgezogen werden, damit überhaupt eine handlungsfähige Regierung da war, und sie erbrachten ein eindeutiges Votum für den schnellen und unkomplizierten Weg zur deutschen Einheit, den des Beitritts nach Artikel 23 GG.

Die internationale Situation war in diesem Augenblick günstig. Niemand im In- und Ausland sah eine realistische Alternative zur Wiedervereinigung, auch wenn mancher sie herzlich gern gefunden hätte. Die USA befürworteten rückhaltlos die Selbstbestimmung der Deutschen, solange die Grenzen in Europa unverändert blieben und Deutschland europäisch und atlantisch eingebunden blieb. Und Gorbatschow war einsichtig genug, diese Entwicklung nicht mit Gewalt zu stoppen, und er hatte – noch jedenfalls; niemand konnte sagen, wie lange – die Macht, seine Zustimmung zur deutschen Einheit in Moskau durchzusetzen. In dieser Situation konnte verantwortungsvolle deutsche Politik nur darin bestehen, die Chance zu nutzen, solange das Window of Opportunity offen stand und das mögliche Ergebnis nicht durch Zögern zu gefährden. Alles andere als entschlossen die Möglichkeit zu Einheit in Freiheit zu ergreifen, wäre geradezu pflichtvergessen gewesen.

Aber hätte man nicht wenigstens den wirtschaftlichen Anpassungsprozess langsam und schrittweise vollziehen können? Ich sehe nicht, wie, und auch in der seither erschienenen Literatur ist kein realistischer Weg dieser Art aufgezeigt worden.

Zunächst muss man rekapitulieren, was gelegentlich vergessen oder auch in polemischer Absicht falsch dargestellt wird: Lage der Wirtschaft in der DDR war miserabel. Sie war das Ergebnis von 40 Jahren realem Sozialismus. Die meisten DDR-Betriebe waren Ende der 80er Jahre in einem desolaten Zustand, die Maschinenparks veraltet oder verschlissen. Das gleiche gilt für Bauten, Verkehrsinfrastruktur, Kommunikation. Die Produktivität der Betriebe lag bei 25 – 30 Prozent  des westdeutschen Niveaus. Viele Produkte waren nur in der DDR selbst oder im RGW-Handel absetzbar und wurden unverkäuflich, wenn sie sich, im Binnenhandel wie im Export, der Konkurrenz auf dem freien Markt stellen mussten.

Die systembedingten Mängel der Zentralverwaltungswirtschaft wurden in den 80er Jahren noch durch aktuelle Zuspitzungen verschärft: Die Sowjetunion, unter denselben Systemmängeln leidend und durch einen riesigen Verwaltungs-, Partei- und Sicherheitsapparat sowie durch hohe Militärausgaben belastet, konnte sich die Subventionierung ihrer Klientelstaaten durch relativ billige Rohstofflieferungen nicht länger leisten und reduzierte auch die preisbegünstigten Erdöllieferungen in die DDR. Die aber war hoch verschuldet und war auf die Devisenerlöse aus Erdölprodukten angewiesen. In der Folge erhöhte sich die Verschuldung; gleichzeitig unterblieben notwendige Investitionen und Modernisierungen erst recht. Als Planungschef Schürer dem neuen Generalsekretär Krenz im Oktober 1989 eine Bilanz der wirtschaftlichen Situation vorlegte, stellte er fest, dass die DDRam Rande der Zahlungsunfähigkeit stehe und dass ein bloßes Anhalten – nicht Zurückführen – der Westverschuldung eine Reduzierung des Lebensstandards um 25 Prozent  bedeuten und die DDR unregierbar machen würde.

Das war die Ausgangslage. Sie hat in dieser Dramatik auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit überrascht. In den Jahren zuvor hatten viele – nicht alle[2]  – Forschungsinstitute ein weniger katastrophales Bild gezeichnet. Auch manche Journalisten kehrten von DDR-Reisen mit freundlichen Eindrücken zurück und berichteten etwa über die „stille Verehrung“, die die DDR-Einwohner ihrem Staatsratsvorsitzenden entgegenbrächten.[3] Die DDR galt als der zehntgrößte Industriestaat. Auch wenn man dafür wissenschaftlich belastbare Quellen kaum findet, war die Aussage bei Journalisten wie Wissenschaftlern kaum bestritten. Dabei konnte, wer mit offenen Augen in der DDR reiste, durchaus sehen, dass öffentliche Infrastrukturen wie viele industrielle Anlagen eher auf Vorkriegsstand verharrten.

Auch die Bilanz der Treuhand macht deutlich, dass die Vorstellungen, die Politik und Öffentlichkeit in beiden Teilen Deutschlands 1990 über den Zustand der DDR-Wirtschaft hatten, unrealistisch gewesen waren. Im Mai 1990 hatte das DDR-Wirtschaftsministerium eine Rentabilitätsprognose erstellt, nach der von bisher 2200 zentral geleiteten DDR-Betrieben rund ein Drittel als rentabel galten, rund 40 Prozent  als sanierungswürdig und gut ein Viertel als konkursgefährdet. Demnach werde sich der Arbeitskräfteabbau bis Ende 1990 auf knapp 100.000 Stellen beziffern. Noch im Oktober 1990 rechnete man mit Privatisierungserlösen der Treuhand in Höhe von rund 600 Milliarden DM. Auch bei der Diskussion über das Umtauschverhältnis von Mark der DDR in D-Mark gingen die Beteiligten davon aus, dass ein Positivsaldo am Ende der Abwicklung der Treuhand stehen würde. Das tatsächliche Ergebnis der Treuhand war am Ende ein Defizit von 230 Milliarden DM.[4]

Die Währungsunion an das Ende, nicht an den Anfang eines wirtschaftlichen Angleichungsprozesses zu stellen, wäre theoretisch sicherlich ein richtiger Weg gewesen, aber er war nicht gangbar. In der Situation des Frühjahres und Sommers 1990 war es notwendig, den Menschen eine glaubhafte Perspektive und das Vertrauen zu geben, dass sich auch ihr Lebensstandard in der DDR und dann in den neuen Bundesländern bessern würde. „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr“ – dieser Sprechchor gab wieder, was die Menschen in der DDR damals erhofften und erwarteten und auch, womit zu rechnen war, wenn ihre Erwartungen enttäuscht wurden. Der Strom der Übersiedler, man muss daran erinnern, war die Triebkraft, die die Entwicklung vorantrieb und beschleunigte. Das überzeugte auch die Verantwortlichen in der europäischen Familie wie in der Sowjetunion. Der Kanzlerkandidat der SPD, Lafontaine, hatte die Forderung nach Abschaffung des Aufnahmeverfahrens schon im November 1989 erhoben, und viele hatten erwartet, dass nach dem 18. März 1990, dem Tag der Volkskammerwahl, das Aufnahmeverfahren abgeschafft würde, was rechtlich eine Einschränkung der Freizügigkeit bedeutet hätte. Tatsächlich ging der Übersiedlerstrom zurück, sobald die Bundesregierung – genauer die Koalitionsführung am 20. März – die Einführung der Währungsunion zum 1. Juli 1990 beschlossen hatte.

Der Widerspruch zwischen Wirtschaftsstatistiken und der Realität in der Wahrnehmung der betroffenen Menschen zeigt sich – ganz ähnlich wie in der Frage der ökonomischen Leistungsfähigkeit der DDR – auch in der Diskussion  um das Umtauschverhältnis. Ein Umtauschkurs von generell zwei zu eins, wie er damals in der Diskussion war, hätte unter anderem bedeutet, dass in der DDR der Durchschnittslohn (854 Ostmark monatlich) auf knapp über 400 D-Mark gesunken wäre, also weniger als 20 Prozent des durchschnittlichen Westlohns – eine Vorstellung, die die politische Unrealisierbarkeit offenkundig werden lässt. Umgekehrt sei daran erinnert, dass der Umtauschkurs von Mark der DDR in D-Mark in Zeiten der Teilung irgendwo zwischen 1 zu 4 oder 1 zu 10 lag – der DDR-Kurs 1 zu 1 war jedenfalls so unrealistisch und marktfern, dass man die Institution des Zwangsumtausches für Reisen in die DDR erfunden hatte.

Im Übrigen war ohnedies klar, dass für Renten und Löhne unabhängig vom Umtauschverhältnis ein Weg einer allmählichen Annäherung an westdeutsche Größenordnungen gefunden werden musste, weshalb es auch ein Vertrag über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion war, der er am 1.7.1990 in Kraft trat. In ihm wurde als Umtauschverhältnis 1 zu 1 für laufende Zahlen, 2 zu 1 für alle Schulden und abgestuft 1 zu 1, 2 zu 1 und 3 zu 1 für alle Guthaben je nach ihrer Höhe und dem Alter des Eigentümers, alles in allem rund 1,8 zu 1, festgelegt.[5]

Die Umstellung, der zufolge die Betriebe Löhne und Gehälter in bisheriger Höhe in D-Mark auszuzahlen hatten, offenbarte nun allerdings, dass weit mehr Betriebe als zunächst erwartet nicht in der Lage waren, diese Mittel durch konkurrenzfähige Produkte zu erwirtschaften. Die Produktion des Trabi – das hatte schon symbolische Bedeutung – wurde entsprechend zum 1. Juli 1990 eingestellt. Der Modernisierungsschock und dazu das Wegbrechen des bisher funktionierenden Inner-RGW-Marktes einschließlich der Sowjetunion führten dazu, dass die industrielle Produktion bis 1991 auf knapp ein Drittel und das Bruttoinlandsprodukt auf unter 60 Prozent der Ausgangslage sank; die Zahl der Beschäftigten ging um mehr als ein Drittel zurück. Vom zweiten Halbjahr 1991 an nahm dann die Entwicklung einen positiven Verlauf.

Aber dieser Modernisierungsschock war unvermeidlich. Er war begründet durch die Rückständigkeit und Ineffizienz der DDR-Wirtschaft, und es gab ihn ähnlich in allen Transformationsstaaten der ehemaligen Ostblocks. In Deutschland wurde er, anders als in anderen Transformationsstaaten, abgefedert durch die Sozialunion, also durch Transferleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik, und vor allem durch eine gezielte Förderung des Aufbaus Ost.

Der Aufbau Ost ist eine gesamtdeutsche Aufgabe – man kann sagen, er ist indirekt eine Fortführung der gesamtdeutschen Kriegsfolgenbeseitigung. Die Solidarität der Deutschen im Westen ist notwendig, nachdem – ich habe es eingangs gesagt – die Deutschen im Osten über vier Jahrzehnte den schwereren Teil unserer Nachkriegsgeschichte zu tragen hatten. Das wissen im Grunde auch alle, und darum wird diese Solidarität auch ohne nennenswerten Widerspruch ausgeübt. Und man darf auch nicht übersehen: Die Transformation in den neuen Ländern erfordert von den Menschen, die dort leben, hohe Anpassungsleistungen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Alltag hat sich in diesem ganzen Teil Deutschlands komplett verändert; Kompetenzen, die man im alten System brauchte, wurden über Nacht wertlos, die meisten Berufsbiographien wurden unterbrochen und gerieten auf neue Gleise. Die erheblichen Anpassungsleistungen, die die Deutschen in den östlichen Ländern erbracht haben und noch erbringen, wiegen immer noch schwerer als die Solidarleistungen der Landsleute im Westen. Beide zusammen aber bilden ein Aufbauwerk, auf das wir gemeinsam stolz sein können.

Der Strukturwandel in den neuen Ländern ist in den 90er Jahren, wenn auch unter hohen Aufwendungen, schnell vorangekommen; innerhalb weniger Jahre gab es einen massiven Modernisierungsschub. Die Treuhand hat von den mehr als 12.000 Unternehmen, die aus den ehemaligen DDR-Kombinaten hervorgegangen waren, rund 30 Prozent  stillgelegt, 54 Prozent  privatisiert, 13 Prozent  an Alteigentümer zurückgegeben und knapp 3 Prozent  in kommunale Trägerschaft überführt. Die Privatisierung war häufig erst nach vorheriger Sanierung möglich, mit der Folge des erheblichen Defizits der Treuhand, das aus öffentlichen Mitteln ausgeglichen werden musste. Die Förderung des Aufbaus Ost, unter anderem mit Investitionshilfen, Innovationsförderung, Förderung der Infrastruktur, flankiert durch hohe Sozialaufwendungen, wird in der Literatur auf insgesamt rund 1,4 Billionen € netto von 1990 bis 2006 veranschlagt.[6]  Seit 1990 gab es mehr als 250 Mrd. € direkte Aufbauhilfe; weitere 156 Mrd. € hat die Bundesregierung mit dem Solidarpakt II für den Zeitraum 2005 bis 2019 zugesagt.

In den Jahren nach 1990 vollzog sich zunächst ein schneller Aufholprozess mit Wachstumsraten von jährlich rund 8 Prozent. Ab Mitte der 90er Jahre verlangsamte er sich und eine Zeitlang stagnierte er. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner wuchs dabei von rund 40 Prozent  des westdeutschen Standards auf zwei Drittel 1996, danach bis 2005 noch langsam auf drei Viertel. Per Saldo – Anmeldungen minus Abmeldungen – wurden in den neuen Ländern von 1990 bis 2005 über 850.000 neue Unternehmen gegründet. Die Haushaltsnettoeinkommen stiegen auf rund 80 Prozent  des westdeutschen Niveaus. Und nicht nur am Rande ist dabei auch an die Verbesserung der Situation der Rentner zu denken. In der DDR gehörten sie zu den Verlierern der Gesellschaft; die Grundversorgung lag 1988 bei 37 Prozent  der ohnehin niedrigen Bruttoeinkommen; knapp die Hälfte der Rentnerhaushalte lebten an oder unter der Armutsgrenze. Für sie wurde im vereinten Deutschland das Eckrentenniveau auf 70 Prozent  des durchschnittlichen Nettoverdienstes angehoben. Wegen der in der DDR üblichen Vollerwerbstätigkeit beider Ehepartner hatten Rentnerehepaare Mitte der 90er Jahre in den neuen Ländern teilweise höhere Rentenbezüge als solche in den alten.

Betrachtet man als besonders guten Indikator für den subjektiven Lebensstandard die Versorgung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern wie PKW, Telefone – in der DDRnoch ein seltener Luxusartikel – Farbfernseher, Waschmaschinen, Videorekorder etc., so sieht man hier inzwischen kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West. Und wenn man mit offenen Augen durch die Straßen in den neuen Ländern geht oder dort mit Bahn oder Auto unterwegs ist, dann hat man den Forschritt unmittelbar vor Augen. Man muss sich daran erinnern, wie es vor 20 Jahren aussah: die maroden Häuserfassaden, die zum Teil zerfallenden Innenstädte etwa von Halberstadt oder Greifswald, die holprigen Autobahnen und die Bahnlinien mit ihren vielen Langsamfahrstrecken, die Haufen von Braunkohlenbriketts oder gar Rohbraunkohle, die bei Winterbeginn vor den Häusern lagen und in den Folgemonaten die Luft mit dem typischen Braunkohlerauch verdickten! Man kann es gar nicht bestreiten: An vielen Orten sind die vielbespöttelten „blühenden Landschaften“ tatsächlich zu sehen. Am Eindrucksvollsten lassen sich die Veränderungen vielleicht in der Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung zusammenfassen. Sie stieg von 1991 bis 2007 in den neuen Bundesländern von 69,75 auf 75,80 Jahre bei männlichen und von 75,81 auf 82,02 Jahre bei weiblichen Personen. Rückläufige Umweltbelastungen, eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung und viele andere Elemente wirken dabei zusammen und darin drückt sich gewiss auch Lebensqualität aus.

Man muss allerdings auch sagen: Die selbsttragende Wirtschaftsstruktur in den neuen Ländern haben wir noch nicht erreicht. In den letzten Jahren bis 2008 hat der Angleichungsprozess wieder an Fahrt gewonnen. Seit 2000 ist die industrielle Wertschöpfung in den neuen Ländern um insgesamt 44  Prozent  gestiegen. Es beginnen sich regionale Wachstumskerne und neue industrielle Schwerpunkte zu bilden, ich nenne als Stichworte die Mikroelektronik in Dresden „Silicon Saxony“, „Solar Valley“ im Dreieck Thüringen / Sachsen / Sachsen-Anhalt; jede sechste weltweit produzierte Solarzelle kommt von dort. Im industriellen Bereich insgesamt lag 2007 der Aufschwung mit 9,9 Prozent  gegenüber dem Vorjahr wieder höher als in den alten Ländern, und die Wirtschaft wuchs insgesamt um 2,2 Prozent. Dies schlug sich auch in einem Rückgang der Arbeitslosigkeit nieder: Sie lag 2007 bei 1 Million und erreichte 2008 den niedrigsten Stand seit 1991, war damit allerdings prozentual immer noch doppelt so hoch wie in Westdeutschland.

Die Gefahren, die aus der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise erwachsen, betreffen naturgemäß auch die neuen Länder, gefährden die letzten Aufbauerfolge und führen wieder zu einem Anstieg der in den letzten Jahren erfolgreich bekämpften Arbeitslosigkeit. Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland ist 2008 nur noch um real 1,3 Prozent  gewachsen und für 2009 verschlechtern sich die Prognosen von Monat zu Monat. Die Bundesregierung hat mit Finanzmarktstabilisierungsgesetzen und  konjunkturgerechter Wachstumspolitik auf die Krise reagiert. Das ist ein eigenes Thema. Ich will nur erwähnen, dass wir neben den Bemühungen um die Rückgewinnung der Leistungsfähigkeit des Geld- und Kreditsystems als notwendiger öffentlicher Infrastruktur mit den beiden Konjunkturprogrammen von Dezember und Januar in einer Größenordnung von 4 Prozent BIP Mittel für langfristig wirksame, kurzfristig umsetzbare und schnell wirkende Maßnahmen bereitstellen. Der unvermeidbare Anstieg der Staatsverschuldung soll baldmöglichst wieder zurückgeführt werden, und dafür soll die neue Schuldenbremse im Grundgesetz verankert werden, die sich konsequent an den Vorgaben des EU-Stabilitätspakts orientiert.

Für die neuen Länder könnte es sich als Vorteil erweisen, dass sich dort überwiegend keine großen, sondern mittelständische Strukturen entwickeln. Großbanken und Großkonzerne haben oft spektakulärere Erfolge. Sie führen aber auch zu tieferen Krisen. Denn jeder Fehler birgt das Risiko, dass er sich breiter auswirkt. Die Vielfalt kleinerer Einheiten könnte dazu führen, dass der in diesem Jahr unvermeidliche Rückschlag hier weniger hart spürbar wird als in großen industriellen Monokulturen.

Der Blick auf die aktuelle Finanzkrise bringt mich zu einer Feststellung, die in der Diskussion über den Stand der inneren Einheit oft übersehen wird, weil sie scheinbar selbstverständlich ist. Sie ist es aber wert, erwähnt zu werden: Wir haben schon seit Jahren im wiedervereinten Deutschland weit mehr gemeinsame Probleme als Probleme miteinander. Wenn ich an die wichtigsten Bereiche meines eigenen Zuständigkeitsbereiches, der Innenpolitik, denke, dann sehe ich in der Gewährleistung der inneren Sicherheit, etwa in der erfolgreichen Prävention gegen islamistischen Terrorismus, ein besonders gewichtiges Problemfeld. Wir hatten bisher in Deutschland noch keine Anschläge mit Todesopfern zu beklagen. Dabei spielte auch Glück eine Rolle, vor allem aber haben unsere Sicherheitsbehörden gute Arbeit geleistet. Die Bundesregierung hat auf die terroristische Bedrohung mit einem breiten Spektrum von Maßnahmen zur Verbesserung der nationalen Sicherheitsarchitektur reagiert. Auch künftig müssen wir die Arbeit der Sicherheitsbehörden weiter optimieren, insbesondere im Bereich des Einsatzes moderner Informationstechnik, weil auch die Gegenseite ihre Strategien fortentwickelt.

Auch in diesem Zusammenhang hatten die Menschen in den neuen Bundesländern die größeren Veränderungslasten zu tragen. Dazu zählen die ganz anderen Probleme der Verbürgung von Freiheit, Recht und Sicherheit in einem freiheitlichen Verfassungsstaat, genauso wie die unendliche Mühsal eines als gerecht zu akzeptierenden Ausgleichs für all die unterschiedlichen Opfer, Benachteiligungen und Privilegien im totalitären Unrechtssystem. Dazu zählt auch die Erfahrung des Zusammenlebens mit Menschen aus allen Erdteilen und Kulturkreisen, die der Bevölkerung der DDR im Alltag weitgehend vorenthalten war.

Die Integration von Menschen, die aus anderen Ländern und Kulturkreisen nach Deutschland gekommen sind, ist ein vordringliches Problem, das uns in ganz Deutschland – vielleicht im Westen noch etwas stärker –  angeht. Die meisten dieser Menschen haben ihren Platz in unserer Gesellschaft schnell und gut gefunden. Es gibt viele Migranten, die erfolgreich in Schule, Studium und Beruf sind und führende Positionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft einnehmen. Es gibt aber auch Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich in Deutschland zurechtzufinden, wobei nicht nur die ethnische, sondern auch die soziale Herkunft eine große Rolle spielt. Die Bundesregierung misst auch dem Dialog mit dem Islam große Bedeutung bei. Wir haben diesen Dialog mit der 2006 von mir eröffneten Deutschen Islam Konferenz institutionalisiert und werden ihn, zur Festigung der inneren Stabilität unserer Gesellschaft, konstruktiv fortsetzen. Religion bleibt im freiheitlichen Verfassungsstaat, der von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht zu garantieren vermag, wichtig. Auch das ist für die Menschen in der ehemaligen DDR nicht mehr so selbstverständlich. Man darf sich durch die wichtige Rolle insbesondere der evangelischen Kirche in den Zeiten der wachsenden Protestbewegung nicht darüber täuschen lassen, dass viele Menschen in der DDR nach Jahrzehnten atheistischer Indoktrination mit der christlichen Alphabetisierung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr viel anzufangen wissen. Und gleichzeitig müssen wir uns überall in Deutschland und Europa auf eine größere Vielfalt von Religionen in unserer weltanschaulich neutralen Ordnung einlassen.

Das innere Zusammenwachsen des über vier Jahrzehnte geteilten Deutschland ist nicht nur eine Frage der Angleichung wirtschaftlicher und sozialer Lebensverhältnisse, so wichtig diese natürlich sind. Es ist auch eine Frage, wie weit wir uns dessen, was uns verbindet und gemeinsam ist, bewusst sind. Der Zusammenhalt, das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit ist auch in 45 Jahren der Trennung, von 1945 bis 1990, nicht verlorengegangen. In der Zeit der Teilung war dies an der Dichte des Reise- und Besuchsverkehrs, soweit die DDR-Führung ihn zuließ, des Post- und Telefonverkehrs, der Orientierung auch der DDR-Einwohner an westdeutschen Medien abzulesen; allabendlich fand die Wiedervereinigung vor dem Fernseher statt. Das Bewusstsein der Einheit der Nation auch in der Abfolge der Generationen zu erhalten war auch ein zentrales Anliegen der Gestaltung der Deutsch-Deutschen Beziehungen durch die Bundesregierung in den 1980er Jahren. Die Folgen der Teilung für die Menschen weniger belastend zu machen, solange die Teilung durch die Deutschen nicht zu überwinden war – über alle politischen Meinungsunterschiede hinweg –, war in Westdeutschland insofern Konsens einer nationalen Gemeinsamkeit. So war die Wiederherstellung der Deutschen Einheit die natürliche Lösung, als die SED-Herrschaft zusammenbrach und damit der Existenzgrund der DDR entfiel. Gewiss gab es auch Kräfte, die die Wiedervereinigung nicht unterstützten und eine fortbestehende Zweistaatlichkeit vorgezogen hätten. Aber die große Mehrheit dachte anders, und sie entschied. Man hat in der Zeit der Teilung die Unterhaltung staatlicher Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik oft als „Normalisierung“ bezeichnet, aber das war eine diplomatische Kompromissfloskel. In Wirklichkeit war an dem erzwungenen Nebeneinander zweier Staaten in Deutschland nichts Normales; die tatsächliche Normalisierung hat 1989/90 stattgefunden.

Aber wir haben in den zurückliegenden 19 Jahren auch lernen müssen, dass ein Zeitraum von zwei Generationen gedrosselter Kommunikation und ganz unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Alltagserfahrungen unterschiedliche und nachwirkende Prägungen hinterlassen hat. Beispielsweise scheint  die Neigung, in allen Schwierigkeiten die Lösung vom Staat zu erwarten, in den neuen Ländern, nach 40 Jahren staatlicher Bevormundung, stärker ausgeprägt zu sein scheint als im Westen. Dies könnte die Folge haben, dass krisenhafte Entwicklungen leichter das Vertrauen in die demokratischen Institutionen schwächen. In den alten Ländern ging die Wiedererrichtung der Demokratie nach zwölf Jahren Diktatur mit dem Wirtschaftswunder einher, während die Wiedererrichtung der Demokratie im Osten Deutschlands nach 56 Jahren Diktaturen auch mit den Erfahrungen eines kompletten Umbruchs mit vielen Unsicherheiten und Belastungen verbunden war.

Insgesamt ist das innere Zusammenwachsen der Deutschen trotz alledem auf gutem Wege. In den Umfragen des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung antworten auf die Frage, ob die Wiedervereinigung für sie eher Grund zur Freude oder zur Sorge sei, seit Jahren die Befragen in den neuen Ländern ziemlich konstant mit 60 Prozent  „Freude“, 20 Prozent  „Sorge“. Im Westen ist die Relation ähnlich. Ich glaube, was wir vor allem brauchen, sind drei Dinge: Erstens Zeit; inzwischen ist eine Generation herangewachsen, für die nicht mehr die Teilung, sondern die Einheit Deutschlands der Normalfall ist. Zweitens Geduld, auch Geduld miteinander. Niemand zwingt uns ja dazu, die dümmlichen Ossi-Wessi-Klischees weiterzupflegen und weiterzutragen. Und drittens brauchen wir die Erfahrung gemeinsamer Problembewältigungen und Erfolge, wie wir sie zum Beispiel vor 12 Jahren beim Oderhochwasser oder vor drei Jahren bei der Fußball-WM im eigenen Lande hatten.

Richard Schröder hat vor einigen Jahren einen Aufsatz veröffentlicht unter dem Titel „Ich bin gern Deutscher“[7]  – ein Bekenntnis, das manchen unserer überkommenen öffentlichen Meinungsbildner nicht so leicht von den Lippen geht. Darin fragt er: Wann ist die deutsche Einheit vollendet? und nennt zwei Bedingungen:

„1. Wenn wir mit den Ost-West-Unterschieden so gelassen umgehen können wie mit den Nord-Süd-Unterschieden;

2. Wenn wir uns so aneinander gewöhnt haben, dass wir wenigstens in Umrissen eine gemeinsame Geschichte erzählen können, auch von den zurückliegenden 50 Jahren. Das wird dauern, aber wir müssen es als Aufgabe sehen und jedenfalls damit anfangen. Weimar als Kulturstadt ist ja so eine Gelegenheit zur Wiedervereinigung unserer Geschichte“.[8]

Ich denke, bei der ersten Bedingung sind wir auf einem guten Wege. Die zweite scheint mir schwieriger zu sein, jedenfalls wird ihre Erfüllung längere Zeit brauchen. Denn unsere Geschichte seit 1945 war in beiden Teilen Deutschlands keine gemeinsam erlebte, konnte es nicht sein. Dass sie auf vielfältige Weise zusammenhing, war aus der Perspektive des erlebten Alltags nicht unmittelbar erfahrbar; es kann erst aus der Rückschau einsichtig gemacht werden. Dabei sind natürlich auch Betroffenheiten und Empfindlichkeiten im Spiel. Marianne Birthler hat vor kurzem wieder darauf hingewiesen, dass manche Gegensätze, die dabei auftreten, im Grunde keine Ost-West-Gegensätze sind; die sogenannte Mauer in den Köpfen, so sagte sie sinngemäß, verlaufe nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen den Menschen, die die Freiheit hochschätzten, und denen, die sie fürchten.[9]

Es geht aber nicht nur um die Geschichte der letzten 60 Jahre. Es geht auch darum, uns bewusst zu machen, dass unsere Gemeinsamkeit viel tiefer fundiert ist als manchmal aus der Tagesperspektive erkennbar. Vor wenigen Wochen haben wir im Rahmen unserer Jubiläumsfeierlichkeiten mit dem Bundespräsidenten einen Festakt in der Frankfurter Paulskirche begangen, in dem wir an eine der historischen Grundlagen unserer freiheitlichen Ordnung erinnert haben: die erste gesamtdeutsche Verfassung, die die Nationalversammlung in der Paulskirche vor 160 Jahren beschlossen hat. Ihr Grundrechtekatalog ist bis heute für die deutsche Verfassungsentwicklung fundamental geblieben. Die Menschen erstrebten damals ein freiheitliches – manche wollten auch ein demokratisches – und geeintes Deutschland, das friedlich in die internationale Staatenwelt einbezogen war. Unser Land hat dieses Ziel in den folgenden 140 Jahren immer nur zeit- oder teilweise verwirklicht; in der Katastrophe des Nationalsozialismus und im anschließenden Ost-West-Konflikt schien es ganz unerreichbar. Heute haben wir dieses Ziel erreicht. Erstmals in unserer Geschichte sind freiheitliche Demokratie, nationale Einheit und eine kooperative internationale Einbindung stabil miteinander verbunden. Das ist Grund zur Freude und zur Zuversicht. Und das ist, wie Fritz Stern in seinen „Erinnerungen“ schrieb, Deutschlands „zweite Chance“.[10]

[1] Aus Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17.6. 2009, zitiert nach: Materialien der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band 1, Baden-Baden und Frankfurt/M. 1995, S. 781 f.

[2] Eine Ausnahme war z.B. die Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen in Berlin, institutioneller Zuwendungsempfänger des BMB, hervorgegangen aus dem 1975 aufgelösten Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands.

[3] So Theo Sommers Bericht über seine Rundreise durch die DDR 1986.

[4] Zahlen nach Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland, die Geschichte der Wiedervereinigung, München (Beck) 2009, S.300-314.

[5] Vgl. Erik Gawel, Die deutsch-deutsche Währungsunion, Baden-Baden 1994, hier zitiert nach Rödder, a.a.O., S.303. – Klaus Schröder errechnet einen Gesamtumtauschkurs von etwa 1,6:1 (aus 200 Mrd. Ostmark wurden ca. 130 Mrd DM).

[6] Klaus Schröder, Die veränderte Republik, Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006, S. 228f. – Die Bundesregierung veröffentlicht seit dem Bericht zum Stand der deutschen Einheit 1999 keine Gesamtzahlen zu den Transfers mehr, u.a. wegen der schwierigen Abgrenzbarkeit zwischen spezifisch auf die Ostländer bezogenen Förderungen und (in ganz D geltenden) Sozialleistungen.

[7] In der Reihe „Weimarer Reden“ am 7. März 1999, abgedruckt in R. Schröder, Einsprüche und Zusprüche, Kommentare zum Zeitgeschehen, Stuttgart und Leipzig 2001; S.11 ff.

[8] a.a.O., S.20

[9] Podiumsgespräch beim Festakt in der Paulskirche Frankfurt/M. am 27.3.2009

[10] Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007, S. 583; hier zitiert nach Rödder (siehe Anmerkung 4), S. 365.