„Deutschland ist keine Bananenrepublik“



Wirtschaftswoche vom 31.07.2020.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble über den Wirecard-Skandal, die Coronakrise, den eskalierenden Konflikt zwischen China und den USA – und eine Kutschenfahrt.

Herr Schäuble, wenn in Deutschland richtig was schiefläuft, sprechen Menschen gerne von einer Bananenrepublik. Sie auch? Wann zuletzt haben Sie sich in letzter Zeit so richtig aufgeregt?

Über Deutschland? Ich weiß, dass wir dazu neigen, Dinge etwas zu perfekt machen zu wollen. Sicher, der Berliner Flughafen hat etwas gedauert. Aber darüber muss ich mich nicht aufregen. Im Gegenteil, ich bin sehr beruhigt, wenn ich auf unser Land sehe: In der Coronakrise haben wir festgestellt, dass unser Gesundheitssystem, die kommunalen Gesundheitsämter eingeschlossen, gar nicht so schlecht ist, wie es viele vorher annahmen. Das Ausland beneidet uns heute darum.

Aber um den Wirecard-Skandal beneidet uns die Welt nicht. Ist das nicht ein Bananenrepublik-Moment, wenn eine Gruppe von Managern es mit gefälschten Umsätzen und Bilanzen bis zum Hoffnungsträger im Dax schafft?

Haben Sie noch den Enron-Skandal in Erinnerung?

Der war in Amerika. Wir haben jetzt ein deutsches Enron.

Wenn ich diesen Fall in einem Roman lesen würde, würde ich sagen: Da haben die Autoren etwas übertrieben. Das bringt mich zu der Frage, ob nicht unser angelsächsisch geprägtes Finanzsystem mitschuldig an solchen Exzessen sein könnte.

Sie meinen, die Börsen treiben Unternehmen schon mal zu Fake News?

Wir hatten vor bald 20 Jahren die Dotcom-Blase. Da wurden Unternehmen ohne Umsätze mit Milliarden bewertet. Gut, das war kein Betrug. Aber wenn jemand in einem solchen Umfeld mit betrügerischer Absicht die Zahlen manipuliert, dann hat er ein relativ leichtes Spiel.

Das entschuldigt aber nicht das Versagen der Finanzaufsicht, die Sie als ehemaliger Finanzminister bis 2017 kontrollierten.

Wenn, dann haben vor allem die Wirtschaftsprüfer versagt. Im Kern muss sich die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die BaFin, auf deren Berichte verlassen können.

Klingt nach einer hilflosen Behörde …

Ich habe meine Dissertation über das Berufsrecht von Wirtschaftsprüfern geschrieben – damals war der Wettbewerb für freie Berufe eng begrenzt. Heute sind das große Gesellschaften, die über hochspezialisiertes Fachwissen verfügen – in einem solchen Maße, wie es Behörden manchmal gar nicht haben können. Aber deswegen ist die Bundesrepublik keine Bananenrepublik.

Ist der Staat mit einem Fall wie Wirecard überfordert?

Das glaube ich nicht. Jetzt sind Sie aber bereits in der Aufarbeitung des Falls. Als Bundestagspräsident werde ich mich an der Debatte nicht öffentlich beteiligen. Und es ist nicht meine Art, meinem Nachfolger Ratschläge zu erteilen. Wie auch immer. Natürlich muss der Wirecard-Fall aufgearbeitet werden.

In einem Untersuchungsausschuss des Bundestages?

Darüber entscheidet der Bundestag, nicht der Bundestagspräsident.

Droht ein solcher Untersuchungsausschuss, ein Jahr vor der Bundestagswahl, nicht zu einer Schlammschlacht gegen den möglichen SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz auszuarten?

Es ist eine Aufgabe des Parlaments, neben den Strafverfolgungsbehörden und der BaFin den Fall aufzuklären. Das größte Interesse daran muss übrigens die Regierung selbst haben. Sie haben eben gesagt, in etwas mehr als einem Jahr sind Bundestagswahlen? Das stimmt. Das schränkt jedoch nicht die parlamentarische Demokratie ein.

Also doch Schlammschlacht.

Es geht um Aufklärung, unter den Bedingungen der politischen Wettbewerbs. Warum auch nicht? So funktionieren parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Die Erfahrung zeigt, sie befördern immer wieder Dinge ans Licht, die sonst nicht bekannt geworden wären.

Womöglich auch über die CDU. Kritik gibt es an Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in China für Wirecard eingetreten ist. Und natürlich auch an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier.

Dass Regierungsvertreter für die Angelegenheiten der deutschen Unternehmen eintreten, ist doch eine Selbstverständlichkeit und gehört mit zu den Aufgaben einer Kanzlerin bei Auslandreisen.

Aber dass ausgerechnet der frühere Wirtschaftsminister Karl Theodor zu Guttenberg der Kanzlerin Wirecard schmackhaft gemacht hat …

Herr zu Guttenberg hat nach seinem Ausscheiden aus der Politik in den USA eine Beratungsfirma gegründet. Das ist sein gutes Recht.

Für manche Bürger ist es nicht mehr nachvollziehbar, wenn Lobbyisten direkten Zugang ins Kanzleramt haben. Unterhöhlt das nicht das Vertrauen in die politischen Institutionen?

Zum Wesen der Demokratie gehört, dass die Menschen nicht nur unterschiedliche Meinungen haben, sondern auch unterschiedliche Interessen und Kenntnisse. Angesichts der Komplexität der Themen verschwimmen die Grenzen zwischen Expertise und Interessenvertretung. Auch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft besteht heute schon fast ein osmotisches Verhältnis. Deshalb ist es richtig, wenn im aktuellen Fall alles aufgeklärt wird. Erst recht, wenn es sich womöglich um kriminelle Machenschaften handelt.

Sie haben viele Jahre gesagt, Wirtschaft und Politik müssten durchlässiger werden. Schlägt jetzt das Pendel um? Muss eine stärkere Trennung her?

Wir haben immer noch viel zu wenig Durchlässigkeit zwischen Wirtschaft und Politik. Auch wenn das jetzt vielleicht etwas seltsam klingt aus dem Mund eines Politikers, der seit 48 Jahren im Bundestag sitzt.

Sie haben keine Angst vor Interessenkonflikten?

Nein, dagegen helfen Transparenz und klare Regeln. Wir haben beispielsweise Thomas Sattelberger mit einer erfolgreichen Karriere in der deutschen Industrie in der FDP-Fraktion …

… im früheren Leben Vorstand bei Conti in Hannover und der Deutschen Telekom in Bonn.

Oder umgekehrt Friedrich Merz. Unabhängig davon, dass ich mit ihm persönlich befreundet bin, war er als CDU CSU-Fraktionsvorsitzender ein ungewöhnlich begabter Politiker. Er hat sich ein paar Jahre hinreichend mit Frau Merkel gerieben und dann anständig aus der Politik verabschiedet, um erfolgreich einer anwaltlichen Tätigkeit nachzugehen.

Die Tätigkeit als Anwalt und für einen großen Investmentkonzern ist für Merz ein Handicap beim Wiedereinstieg in die Politik.

Das finde ich nicht akzeptabel. Man kann ja gegen Friedrich Merz sein, dann aber bitte mit besseren Argumenten.

Sie stehen noch zu Ihrer Empfehlung für Merz als CDU-Parteivorsitzenden?

Ich habe vor dem Parteitag Ende 2018, als die ganze Partei darüber diskutierte, meine Meinung gesagt.

Und heute?

Heute haben wir andere Sorgen, wir müssen die Pandemie bewältigen. Im Übrigen treffen wir uns in vier Monaten, Anfang Dezember, in Stuttgart zum CDU-Parteitag.

Corona hat die Kandidatur von Merz ausgebremst, ganz im Gegensatz zu der von Jens Spahn. Er nutzt als Bundesgesundheitsminister die Stunde der Exekutive. Was hat das Doppelinterview mit Ihnen und Jens Spahn vor ein paar Wochen hinsichtlich Ihrer Präferenz für einen Parteichef zu tun?

Nichts. Die Tatsache, dass ich 2018 für Friedrich Merz geworben habe, hindert mich nicht daran, zu sagen, dass Jens Spahn ein guter Politiker und Gesundheitsminister ist, der sich jetzt nicht um den CDU-Vorsitz beworben hat.

Sähen Sie lieber Jens Spahn als CSU-Chef Markus Söder im Bundeskanzleramt?

Ich werde jetzt keine öffentlichen Äußerungen zum Thema CDU-Vorsitz oder zur Kanzlerkandidatur der Union machen. Und auch nicht über Markus Söder, der ebenfalls ein guter Politiker ist …

… und dessen Kutschenfahrt mit der Kanzlerin auf Herrenchiemsee wirklich großes Kino war.

Man muss in der Sommerpause ein wenig Unterhaltung haben. Und warum soll man nicht bei schönem Wetter eine Kutschenfahrt unternehmen?

Jetzt haben wir fast alle Namen durch.

Sie haben Norbert Röttgen noch nicht erwähnt, übrigens auch ein guter Politiker.

Und Angela Merkel. Können Sie verstehen, dass sich viele Deutsche wünschen, sie würde verlängern?

Die Mimik der Bundeskanzlerin auf diese Frage bei einem Fernsehauftritt vor einigen Wochen war eindeutig. Nach den 16 Jahren freut es mich für Frau Merkel, dass Sie selbstbestimmt aus dem Amt gehen kann. Es ist doch schön für sie, wenn die Leute sagen: Wie schade, dass sie jetzt geht.

In der Krise greift man gern auf Bewährtes zurück.

So ist es.

Erst recht, wenn die Welt aus den Fugen zu geraten scheint. Der Konflikt zwischen den USA und China eskaliert. Die USA setzen Europa unter Druck. Europa und China haben Probleme miteinander. Bereitet Ihnen die neue Unordnung in der Welt Angst?

Wir glauben ja immer, dass wir gerade in Zeiten der größten Schwierigkeiten leben, das ist wohl menschlich. Dabei hat es noch keine Generation so gut gehabt wie wir.

Trotzdem löst sich die alte Ordnung auf, ohne dass eine neue in Sicht wäre.

Ich habe noch eine Erinnerung an den 17. Juni 1953 und sehe die sowjetischen Panzer in Ost-Berlin. Da hing man am Radio. Ich habe noch Erinnerung an den Ungarn-Aufstand 1956 und die gleichzeitige Suez-Krise. Oder an den Bau der Mauer 1961, die Kuba-Krise 1962. Und da sagen Sie, es waren so schön geordnete Zeiten.

Man wusste aber, wer zu welcher Seite gehörte. Soll Deutschland immer noch auf der Seite der USA stehen?

Wir haben noch immer eine westliche Wertegemeinschaft, auch wenn manch einer in Amerika sich damit zurzeit etwas schwer tut. Aber das Grundprinzip von der Würde des einzelnen Menschen – und daraus resultieren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – verbindet uns. Außerdem müssen wir feststellen, dass sich Deutschland allein nicht in dieser Welt behaupten kann, also brauchen wir Europa. Europa allein schafft es auf absehbare Zeit auch nicht. Also sind unsere wichtigsten Partner in der Welt weiterhin die Vereinigten Staaten.

Wie gefährlich ist die Konfrontation mit China?

China ist viel zu groß, als dass wir uns eine Konfrontation leisten könnten. China umgekehrt allerdings auch nicht.

Was wäre die Lösung?

Wir sollten möglichst eng mit den Vereinigten Staaten darauf einwirken, dass China seiner neuen Bedeutung in der Welt positiv gerecht wird.

Suchen nicht die Amerikaner die Eskalation? Der Fall Huawei gilt als Blaupause für das sogenannte Decoupling, also ein Entkoppeln des Westens aus chinesischer Abhängigkeit.

Die Amerikaner haben in vielen Dingen recht. Wir dürfen uns ebenfalls nicht zu abhängig von Lieferketten machen. Das zeigt uns die Coronakrise. Wir müssen wieder mehr diversifizieren und schauen, welche Produktion wir in Europa halten oder zurückführen müssen.

Kann es gelingen, mit China einen operativen Weg zu finden, der funktioniert? Muss Europa härter auftreten?

Wir werden wieder beides machen. Diese Balance stand übrigens schon im Harmel-Bericht der Nato von 1967. Wir wollen Zusammenarbeit, aber wir wollen auch Verteidigungsfähigkeit. Diese Balance schafft man nie perfekt, aber das muss die Linie sein, an der wir uns orientieren.

Was heißt das angesichts der massiven Eingriffe Pekings in die Rechte Hongkongs?

Wir dürfen Chinas Vorgehen in Hongkong nicht akzeptieren. Da sollten wir Europäer tun, was die Briten, Australier, Neuseeländer und Amerikaner tun. Wir sollten den Chinesen sagen, dass es auch nicht in ihrem Interesse ist, was gerade passiert. Denn nicht nur wirtschaftlich brauchen wir alle am Ende die Zusammenarbeit.

Die Investitionshürden für europäische Firmen in China sind deutlich höher als andersherum. Müsste Europa nicht den eigenen Binnenmarkt als Druckmittel einsetzen?

Die Bundeskanzlerin wird nicht müde, das zu tun. Wenn die Europäer das gemeinsam machen, wird es noch besser. Ich habe als Finanzminister aber erlebt, dass der enge Zusammenhalt unter den größeren Europäern nicht immer gegeben war, wenn es bei den Verhandlungen mit China um große Investitionen ging.

Die Italiener sind Mitglied der Seidenstraßeninitiative, die Griechen auch. Wie will man da hart auftreten?

Wir alle haben den Griechen Privatisierungen empfohlen. Und wer wollte dann den Hafen von Piräus kaufen? Deshalb sollten wir sie jetzt nicht dafür kritisieren.

Sie meinen, die Chinesen greifen dort zu, wo Europa sich Blößen gibt?

Wir müssen darauf achten, dass Europa überall möglichst rasch wettbewerbsfähiger wird. Ich finde es unerträglich, was für Armutsgebiete wir etwa in Bulgarien und Rumänien haben, also innerhalb der EU. Mich hat an der ganzen Debatte um das 750-Milliarden-Euro-Hilfsprogramm der EU weniger die Höhe gestört, als dass so wenig darüber gesprochen wurde, was denn eigentlich mit dem Geld unternommen werden soll.

Sie vermissen einen konkreten Plan?

Schon bisher rufen die Mitgliedstaaten längst nicht alle Mittel aus Brüssel ab, vor allem ärmere Länder nicht. Wir brauchen Vorschläge, wie die Hilfen zielgerichtet investiert werden.

Heißt das, dass das riesige Coronapaket nicht viel hilft?

Das Hilfspaket hat einen Vorteil: Es schafft ein Stück weit Optimismus. Wirtschaftspolitik ist, wie wir seit Ludwig Erhard wissen, zum großen Teil Psychologie. Das Paket ist notwendig. Aber noch wichtiger wird sein, was mit dem Geld angefangen wird.

Die selbst ernannten sparsamen Fünf – die Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland – wurden beim EU-Gipfel heftig für ihren Widerstand gegen die vielen Milliarden Wiederaufbauhilfe kritisiert. Teilen Sie die Kritik?

Diesen Ländern geht es doch am Ende vor allem darum, dass etwas Sinnvolles mit dem Geld geschieht. Da ist die Frage, ob es Kredite oder Zuschüsse sind, relativ egal.

Was halten Sie von dem Plan der EU, für dieses Paket eigene Steuern zu erheben?

Wer mich kennt, weiß, dass ich ein engagierter Europäer bin. Für mich ist klar, dass Europa eigene Einnahmen braucht.

Glauben Sie, dass die Mehrheit der Deutschen bereit ist, mehr Souveränität nach Brüssel zu transferieren?

Die Deutschen sind sich sehr wohl bewusst, dass wir in Europa alle zusammen handeln müssen. Wenn Sie beispielsweise fragen, ob sie eine europäische Armee wollen, dürfte die Antwort Ja lauten, das schließt die gemeinsame Finanzierung ein. Sie sehen: Politik ist ein komplizierter Prozess. Politische Führung bedeutet nicht, einfach etwas vorzugeben, sondern es so zu entscheiden, dass die anderen folgen.

Würde Ihnen jemand folgen bei Ihrem Langzeitprojekt einer Wirtschaftsunion?

Die europäische Integration hat immer nach dem Muster funktioniert: Was wir jetzt nicht schaffen, kriegen wir vielleicht später hin. Es ging immer schrittweise voran. Und die jetzige Krise schafft neue Chancen. Schließlich kann eine Währungsunion ohne Wirtschaftsunion auf Dauer nicht funktionieren.

Kaum jemand verkörpert die politische Geschichte der Bundesrepublik so sehr wie Wolfgang Schäuble, 77. Er ist seit 1972 Mitglied des Bundestages, führte die CDU CSU-Fraktion, verhandelte als Innenminister die deutsche Einheit und schaffte als Finanzminister die schwarze Null. Aktuell ist der Jurist mit badischem Akzent und prostetantischem Ethos Bundestagspräsident.

INTERVIEW BEAT BALZLI, CHRISTIAN RAMTHUN