Der Bundesfinanzminister im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung



Das Interview führten Eckart Lohse und Markus Wehner

FAS: Viele Menschen in Deutschland stehen der Rettung überschuldeter Staaten der Euro-Zone ablehnend gegenüber. Warum sind die Straßen nicht voll von Demonstranten, Herr Minister Schäuble?

Schäuble: Vielleicht schauen die Menschen einfach genau hin. Die Bankenkrise in Folge der Lehman-Pleite hat Deutschland fünf Prozent seiner wirtschaftlichen Jahresleistung gekostet, etwa hundert Milliarden Euro. Geld, das einfach weg war. Bei der Schuldenkrise im Euroraum geht es bisher überwiegend um Garantien, nur zum sehr viel geringeren Teil um tatsächliche Zahlungen. Das ist der große Unterschied. Außerdem wissen die Menschen, Europa tut uns wirtschaftlich wie politisch gut. Anders als Sie nehme ich die Zustimmung der Menschen zu den getroffenen Maßnahmen positiver wahr als Sie.

FAS: Sie haben in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein aufsehenerregendes Papier veröffentlicht, das damals als Forderung nach einem Kerneuropa aufgefasst wurde. Die These hieß: Nicht alle Staaten Europas müssen jeden Schritt der Integration mitmachen. Gilt das heute noch?

Schäuble: Europa funktioniert auch heute nicht im Gleichschritt. Nicht alle sind zur gleichen Zeit zum gleichen Schritt in derselben Länge und in dieselbe Richtung bereit. Wäre ja auch noch schöner. Es gibt zwar immer wieder den Ruf nach dem einen großen Integrationsschritt, und ich erwische mich dabei, dass ich an solchen Debatten zuweilen gern teilhabe, weil sie ja oft intellektuell stimulierend sind. Aber das sind eben noch keine konkreten Entscheidungen. Die Wirklichkeit sieht so aus: Europa kommt in kleinen Schritten mühsam voran. Aber es kommt eben voran. Und wissen Sie was? Das ist besser als im Gleichschritt.

FAS: Kann eigentlich diese differenzierte Integration immer nur in eine Richtung gehen: Einige Mitglieder fangen in einer kleinen Gruppe an, andere kommen später hinzu? Oder kann es auch mal andersherum laufen: ein oder mehrere Länder scheiden aus der Gruppe wieder aus?

Schäuble: Wenn ein Land bei der Integration einen Schritt zurückginge, zum Beispiel aus dem Schengenraum ausschiede, so wäre das natürlich kein Fortschritt.

In Großbritannien spielt die Politik sogar schon mit dem Gedanken an ein Referendum über eine Neuausrichtung des Verhältnisses zur EU oder sogar über den Austritt abzuhalten.
Ja. So geht es seit mittlerweile 30 Jahren. Das macht der Sinn für Tradition. Es wäre aber die falsche Entscheidung für Großbritannien, und es wäre nicht gut für Europa. Wir wollen Großbritannien in der EU halten und es nicht hinaus drängen. Ich sage aber gleich dazu: Erpressen kann uns deswegen niemand.

FAS: Wie gefährlich ist die Lage?

Schäuble: Unsere britischen Freunde sind nicht gefährlich Aber ein Referendum würde für Verunsicherung sorgen.

FAS: Sind Sie manchmal sauer auf die Engländer?

Schäuble: Ja, beim Fußball. Aber im Ernst: Ich würde mir mehr britisches Engagement in Europa wünschen, nicht weniger.

FAS: Wenn Sie alleine bestimmen könnten: Wie sähe Ihr Ideal von Europa aus?

Schäuble: Mein Ideal von Europa ist, dass keiner alleine bestimmen kann. Das ist schon mal die Überschrift. Und dann wünsche ich mir, dass wir eines Tages eine europäische Regierung bekommen, die vom Parlament gewählt wird. So wie der Bundestag den Bundeskanzler wählt. Oder ein europäischer Präsident würde direkt vom Volk gewählt, so wie in Frankreich und Amerika. Wenn wir Europäer einen von uns direkt zum Präsidenten machen könnten, in einer demokratischen Wahl, das wäre doch was, meine ich! Und mit einer Direktwahl wäre auch schneller eine europäische Öffentlichkeit zu erzeugen. Wir wählen seit 1979 zwar das Europäische Parlament direkt, aber das hat noch nicht dazu geführt, dass wir eine europäische Öffentlichkeit haben, wie eine deutsche, eine französische oder eine niederländische.

FAS: Ein direkt gewählter europäischer Präsident hätte allein durch die Wahl enorme Autorität.

Schäuble: Zur Zeit haben wir zwei Präsidenten. Den Kommissionspräsidenten und den Ratspräsidenten. Ganz dominant sind in Brüssel weiterhin die Mitgliedstaaten. Aber das kann auf Dauer nicht der Weg sein. Wenn man einen Präsidenten der Europäischen Union direkt wählen würde, dann hätte dieser Mensch natürlich eine starke demokratische Legitimation. Und natürlich würde das in der Folge einen gewissen Machtverlust auf der Ebene der Mitgliedsstaaten bedeuten. Aber wer ein starkes Europa will, braucht auch starke Institutionen.

FAS: Die Bürger Europas könnten den Präsidenten doch nicht mal alle verstehen.

Schäuble: Solider Punkt. Aber Sie vergessen: Man kann einander verstehen, ohne die Sprache des anderen perfekt zu sprechen. Das habe ich in meinem Leben mehrfach erfahren, und es war immer ein eindringliches Erlebnis. Außerdem verstehen die meisten jüngeren Menschen in Europa Englisch. Und in global agierenden Unternehmen wird auch nur noch Englisch gesprochen. Also, das schaffen wir schon. Außerdem: wer versteht schon meinen allemannischen Dialekt?

FAS: Wie verständigen Sie sich in Brüssel untereinander?

Schäuble: Mit den anderen Ministern der EU-Staaten spreche ich meist Englisch. Um ehrlich zu sein: Mir tut jeder leid, der mein Englisch ertragen muss. Aber schlecht gesprochenes Englisch ist schließlich eine der am meisten gesprochenen Sprachen der Welt. Als Nicolas Sarkozy und ich noch Innenminister waren, hatte ich ihm mal vorgeschlagen, in den Ratssitzungen in Brüssel die Dolmetscher wegzulassen. Er hatte die Sorge, dass die Engländer dann einen großen Vorteil hätten. Ich habe ihm entgegnet, dass sie vielmehr einen großen Nachteil hätten, weil wir ihre Sprache zerstören würden.

FAS: Bringt die Krise in der Eurozone die EU in Gefahr?

Schäuble: Meine These ist, dass wir die Kehrseite von Krisen nicht genug beachten: Es ist ja kaum jemals so intensiv über Europa geredet worden wie in den letzten Jahren. Ohne Krise bewegt sich nichts.

FAS: In Ihrer Partei, der CDU, gibt es einige, die die Rettungspolitik von Merkel und Schäuble ablehnen. Haben Sie Sorge, dass diese Ablehnung in der Europapartei CDU zunimmt?

Schäuble: Vor zwei Jahren bin ich gefragt worden, ob ich die Sorge hätte, dass ich der letzte romantische Europäer in der CDU sei. Da habe ich gesagt: Wartet mal ab, wenn die CDU über Europa diskutiert, dann werdet ihr sehen, dass die große Mehrheit der Partei im Kern proeuropäisch ist.

FAS: Von den Grünen geht, anders als es in der Union ist, bei den europapolitischen Entscheidungen, fast nie jemand von der Fahne. Sind nicht die Grünen heute die eigentliche proeuropäische Partei?

Schäuble: Ich freue mich darüber, dass die europäische Haltung wachsende Zustimmung findet, egal wo. Seit Beginn der Eurokrise war ich immer wieder in der Fraktion der Grünen eingeladen, um über die Entscheidungen der Eurogruppe zu informieren. Letztlich haben die Grünen in der Europapolitik das übernommen, was in der Bundesrepublik Deutschland die originäre Leistung der Christlich-Demokratischen Union ist.

FAS: Dann wären die Grünen in der Europapolitik doch ein besserer Regierungspartner für die Union als die FDP.

Schäuble: Auch die FDP ist von Anfang an eine proeuropäische Partei gewesen. Sie hat sich um Europa große Verdienste erworben. Wir haben mit dieser Koalition aus Union und FDP viel erreicht. Jetzt müssen wir noch besser, als es uns bisher gelungen ist, zeigen, dass wir diese Erfolge gemeinsam erzielt haben. Die Grünen haben im Übrigen erklärt, dass sie eine Regierung mit der SPD anstreben. CDU, CSU und FDP werden dafür sorgen, dass daraus nichts wird. Dann können SPD und Grüne weiter miteinander Opposition machen und trotzdem die gute Politik der von Union und FDP geführten Regierung unterstützen.

FAS: Sind Sie sich immer einig mit Angela Merkel, was den Kurs in der Euro-Politik angeht?

Schäuble: Wenn ich mir den Rat als Älterer erlauben darf: Man sollte einem Minister nie die Frage stellen, ob er mit seinem Regierungschef immer einig ist. Er kann die Frage nur bejahen. Denn wenn er sie verneint, dann kann er ja gleich um seine Entlassung bitten. Minister haben ihre eigene Verantwortung innerhalb der Richtlinien, die der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin bestimmt. Ich genieße in hohem Maße das Vertrauen der Bundeskanzlerin, und dieses Vertrauen gewährt mir Freiheit und Unabhängigkeit. Die Bundeskanzlerin weiß auch, dass es so ist, wie ich es ihr gesagt habe, als sie mich gebeten hat, Finanzminister zu werden: Ich bin unabhängig, manchmal unbequem, aber ich bin loyal.

FAS: Deckt sich die Vorstellung, die Sie bei der Übernahme vom Amt des Finanzministers hatten, einigermaßen mit der Wirklichkeit?

Schäuble: Einigermaßen. Ich habe schon in meiner zweiten Amtszeit als Innenminister von 2005 bis 2009 erlebt, dass es ein ganz anderes Maß an Europäisierung und Internationalisierung gab, als zu meiner ersten Amtszeit als Innenminister von 1989 bis 1991. Deswegen war ich als Bundesfinanzminister nicht ganz so überrascht, wie viel Arbeitszeit in die europäischen und internationalen Verpflichtungen fließt. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass die Staatschuldenkrise so lange andauern würde. Und die Eigengesetzlichkeit der Finanzmärkte hatte ich wohl auch unterschätzt.

FAS: Fühlen Sie sich denen ausgeliefert?

Schäuble: Nein. Finanzmärkte klingt ja immer so nach einer negativen Macht. Ohne die Leistungskraft dieser innovativen Märkte hätten wir nicht annähernd die Wohlstandsentwicklung in der Welt, die wir haben. Es stimmt: Wir haben noch fast eine Milliarde Menschen auf der Welt, die hungern. Das ist eine Schande. Aber in der Zahl steckt auch die Tatsache, dass sechs Milliarden Menschen nicht hungern. Das wäre ohne das Schwungrad dieser dynamischen Märkte nicht zu schaffen gewesen. Aber es gibt eben auch die Kehrseiten. Und deshalb müssen wir uns fragen, wie wir diese Finanzmärkte regulieren können, ohne dass sie sich durch Übertreibungen selbst zerstören. Das sind spannende Herausforderungen, die mich in Schwung halten und mir immer noch Freude machen.

FAS: Sie haben kürzlich Ihren Siebzigsten gefeiert. Macht Ihnen die Politik noch Freude?

Schäuble: Ich bin seit vierzig Jahren Abgeordneter, und natürlich habe ich mich verändert. Aber ich erlebe den Beruf des Politikers in einer anderen Art als früher immer noch als faszinierend. Und deshalb empfinde ich es als ein Glück, dass ich in einer so zentralen Funktion dienen und gestalten kann.

FAS: Würden Sie das nach der Bundestagswahl noch eine Legislaturperiode machen?

Schäuble: Ich habe mich schon geprüft: Will ich noch, kann ich noch? Und ich habe natürlich auch meine Parteifreunde gefragt: Könnt ihr mich nach vierzig Jahren immer noch ertragen? Schließlich gibt es da Fünfzigjährige, die haben noch nie einen anderen Abgeordneten im Wahlkreis erlebt. Für mich ist klar: Wenn man sich um ein Mandat bewirbt und es bekommt, dann hat man damit auch eine Verantwortung übernommen.