(Es gilt das gesprochene Wort.)
1. Es ist noch nicht sehr lange her, da meinten viele durchaus kluge Köpfe in Europa, dass es mit der Religion unaufhaltsam bergab gehe. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt, die immer bessere Bildung, die einem immer größeren Teil der Menschen zuteil wird, die zunehmende Verbesserung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse – all dies würde, so meinten diese Experten, zu einer Marginalisierung der Religion führen. Manche glaubten, sie würde gänzlich verschwinden; andere waren vorsichtiger – aber die allgemeine Ansicht war, dass die öffentliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung der Religion wie im 20. auch im 21. Jahrhundert immer mehr zurückgehen werde und ihr zunehmend nur noch eine private Bedeutung für das individuelle Leben einzelner Menschen zukomme.
Diese Erwartung hat sich als falsch erwiesen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist Religion weltweit zu einem Thema geworden, das viele Menschen zutiefst bewegt und im Zentrum wichtiger gesellschaftlicher und politischer Debatten steht. Soziale und politische Bewegungen in vielen Ländern sind religiös motiviert; für eine wachsende Zahl von Menschen bilden religiöse Erwägungen den Hintergrund ihrer wichtigsten privaten und öffentlichen Entscheidungen und bestimmen so politische Entwicklungen mit. Für die Politik stellt diese Situation eine Herausforderung dar.
2. Zunächst einmal hat diese Entwicklung positive und ermutigende Aspekte. Religion ist eine wichtige und reichhaltige Quelle individueller und gemeinschaftlicher Werte. Aus religiösem Glauben haben sich in der Vergangenheit die meisten Ideen gespeist, auf denen große Zivilisationen beruhten – das trifft auf die Zeit des arabischen Kalifats ebenso zu wie auf die westliche Moderne. Auch heute motiviert religiöser Glaube viele Menschen zum Handeln im Interesse der Gemeinschaft. Aus islamischer, jüdischer oder christlicher Überzeugung engagieren Individuen und Gruppen sich gegen Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, für die Würde der Schwächsten in der Gesellschaft, für Menschenrechte und für karitative Zwecke. Religionen verbinden Menschen. In einer Zeit, in der ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen zunehmend zur Individualisierung führen, ist das ein wichtiges Gegengewicht.
Die Welt im 21. Jahrhundert steht vor großen Herausforderungen: weltweit gibt es dramatische ökonomische Ungleichgewichte, die zu einer ungerechten Verteilung von Reichtum und Wohlstand führen; die dynamische Entwicklung in vielen Teilen der Welt führt unweigerlich zu Spannungen und verstärkt bereits existierende Konflikte. Gleichzeitig führt unser wirtschaftliches Wachstum zu einer immer stärkeren Belastung der Umwelt, nicht zuletzt zum „Global Warming“. Diesen Herausforderungen können wir nur begegnen, wenn Menschen überall auf der Welt bereit sind, sich im Interesse der Gemeinschaft einzubringen und zu engagieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass religiöses Engagement dabei eine große Rolle spielen wird.
Dabei ist es nicht nur die Religion der Mehrheitsgesellschaft, die Menschen verbindet und bleibende Werte schafft. Auch religiöse Minderheiten leisten einen wichtigen Beitrag für das Gemeinwesen. Als Christ, der in
Ihrem Land zu Gast ist, denke ich an die koptischen Christen. Ich denke auch an die Schwestern des Heiligen Karl Borromäus, die im Jahr 1884 eine deutsche Mädchenschule in Alexandria gründeten. Deren 125-jähriges Jubiläum haben wir gestern gemeinsam gefeiert – Muslime wie Christen. Diese Schule wird nicht nur von Mädchen aus christlichen Familien besucht, sondern auch von vielen muslimischen Mädchen.
Der Grundimpuls, der die Schulgründung damals motivierte, ist unverändert aktuell geblieben. Eine Grundregel der Borromäerinnen lautet, dass ihr Wirken sich auf alle, ohne Unterschied der Rasse, Klasse und Religion, erstrecken soll. Hier liegt ein großes Potenzial im Dialog der Religionen: die Bereitschaft, sich allen zu öffnen, ein Miteinander zuzulassen, Begegnungen zu ermöglichen, die zu einem besseren gegenseitigen Verständnis führen können.
Dennoch wäre es zu einfach, nur davon zu sprechen, dass Religion Menschen verbindet. Religion trennt Menschen auch. In fast allen Ländern der Welt leben Menschen, die verschiedenen Religionen angehören. Oft leben sie schon seit langer Zeit zusammen. In vielen Fällen geht das ohne Probleme. Auf ein berühmtes Beispiel für das friedliche Zusammenleben hat vor wenigen Wochen der amerikanische Präsident Obama hier an diesem Ort hingewiesen: In Al-Andalus, dem heutigen Spanien, lebten für mehrere Jahrhunderte im Mittelalter Juden, Muslime und Christen im Großen und Ganzen friedlich miteinander, und dieses Miteinander war ein wichtiger Grund für die kulturelle Blüte dieser Region während jener Zeit.
Religiöser Pluralismus muss also nicht von vornherein zu Spannungen und Konflikten führen. Aber wir sehen, dass dies häufig geschieht. In unserer eigenen europäischen und deutschen Geschichte haben wir die massiven Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken in der Zeit nach der Reformation, die im 17. Jahrhundert zu jahrzehntelangen, blutigen Religionskriegen führten. In Nordirland hat sich dieser Konflikt bis in die Gegenwart gehalten und spaltet immer noch die Gesellschaft.
Wenn heute Kommentatoren von einem „Krieg der Kulturen“ sprechen, dann meinen sie in der Regel Spannungen zwischen der jüdisch-christlichen und der islamischen Tradition. Hier hat sich in den vergangenen Jahren viel gegenseitiges Misstrauen aufgebaut, das die Verständigung oft schwer macht. Deshalb besteht eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahrzehnte darin, im Verhältnis zwischen dem Westen und der islamischen Welt eine Kultur des gegenseitigen Respekts im Geist des Miteinanders, der Toleranz und des Dialogs an die Stelle einer Unkultur des Misstrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen zu setzen. Diese Aufgabe ist nicht leicht. Alte und tief verwurzelte Vorurteile müssen überwunden werden. Es bringt uns nicht weiter, einander die Kreuzzüge, die Eroberung der iberischen Halbinsel, die Kolonialzeit oder andere Konflikte der Vergangenheit vorzuhalten. Es muss darum gehen, unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten.
Zur Kultur des gegenseitigen Respekts gehört, dass wir zugunsten der Gemeinsamkeiten auf einseitige Darstellungen verzichten. Sowohl im Westen als auch im arabischen Raum gibt es einflussreiche Stimmen, die den Westen mit Moderne und den Islam mit Tradition gleichsetzen und beide unversöhnlich einander gegenüberstellen. Ich halte das für ein Missverständnis und eine gefährliche Verkürzung der tatsächlichen Verhältnisse.
In jedem Land, in jeder Kultur, in jeder Gemeinschaft gibt es Anhänger moderner Vorstellungen und Anhänger traditioneller Vorstellungen. Seit jeher gibt es Spannungen zwischen ihnen, manchmal auch offene Konflikte. Die Konfliktlinien verlaufen aber im Wesentlichen innerhalb der einzelnen Kulturen und nicht zwischen verschiedenen Kulturen. Es kommt darauf an, eine gute Balance zwischen Tradition und Moderne, zwischen Gemeinschaft und Individuum, zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu finden. Daran arbeiten die Menschen in Kairo. Daran arbeiten die Menschen in New York und daran arbeiten die Menschen in Berlin, jeder auf seine Art, jeder mit seinen Erfahrungen, seiner jeweiligen religiösen Prägung, jeder mit seinen Wertvorstellungen.
Diese Einsicht kann uns helfen, konstruktiv und kreativ nach Lösungen für tatsächlich existierende Probleme suchen, die das Zusammenleben der Religionen in der Welt des 21. Jahrhunderts erschweren.
3. In unserer globalisierten Welt hat diese Herausforderung zwei Dimensionen, die nicht voneinander getrennt werden können. Auf der einen Seite steht die Verständigung zwischen Ländern und Kulturen – also etwa zwischen dem Westen insgesamt und der arabischen Welt. Zu dieser Frage hat der amerikanische Präsident kürzlich hier in Kairo wichtige und wegweisende Worte gefunden. Diese außenpolitische Seite des Problems ist unmittelbar verbunden mit einer innenpolitischen, die sich auf das Zusammenleben der Religionen in den einzelnen Ländern bezieht. Ich werde mich als Innenminister zu dieser Dimension unserer Frage äußern. Lassen sie mich jedoch auch sagen, dass sich die beiden Aspekte heute weniger denn je voneinander trennen lassen. In der gegenwärtigen Welt sind die Menschen durch Fernsehen und Internet so eng miteinander verbunden, dass, was sich im Nahen Osten abspielt, unmittelbar in Europa fühlbar ist und umgekehrt. Für die Frage nach dem Miteinander der Religionen in Europa kann daher das Verhältnis der Religionen in der arabischen Welt ebenso wenig gleichgültig sein wie das Verhältnis zwischen unseren Weltteilen. Jeder Versuch, das Zusammenleben der Religionen in Deutschland und Europa zu verbessern, ist darauf angewiesen, dass wir alle gemeinsam auch an der Verbesserung des globalen Miteinanders der Religionen arbeiten.
4. Wie stellt sich die Situation im Inneren Europas und besonders in Deutschland dar? Was haben wir bereits erreicht und was müssen wir noch erreichen, um ein gutes Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen zu erreichen? Natürlich steht es nicht in der Macht der Politik und der Politiker, das tatsächliche Miteinander und Zusammenleben der Religionen zu gestalten. Das müssen die Menschen selbst tun. Die Aufgabe und Verantwortung der Regierung besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es allen religiösen Gruppen optimal ermöglichen, sich in das gesellschaftliche und politische Leben einzubringen. Traditionelle, verdeckte oder offene Diskriminierung muss benannt and überwunden werden. Institutionen müssen so gestaltet sein, dass sie weder direkt noch indirekt die Angehörigen einzelner Religionsgemeinschaften bevorzugen oder benachteiligen. Gleichzeitig muss allen Beteiligten deutlich sein, wo die Grenzen religiöser Toleranz erreicht sind: die eigene Religionsfreiheit darf nicht auf Kosten der Religionsfreiheit anderer gehen. Es kann sich also bei diesem Prozess nur um ein sensibles Aufeinanderzugehen handeln, bei dem beide Seiten lernen müssen.
5. Um über eine möglichst umfassende Beteiligung von Muslimen am gesellschaftlichen und öffentlichen Leben in Deutschland zu diskutieren, habe ich im Jahr 2006 die Deutsche Islam Konferenz einberufen. Dabei handelt es sich nicht um ein einmaliges Ereignis, sondern um einen Prozess, in dessen Verlauf der deutsche Staat und die muslimische Gemeinschaft in Deutschland gemeinsam nach Wegen einer besseren Integration suchen.
In Deutschland gibt es eine von der Verfassung garantierte Trennung von Kirche und Staat. Es gibt keine direkte Verbindung des Staates mit einer bestimmten Religion und kann diese auch nicht geben. Dennoch hat es in Deutschland nie eine vollkommen säkulare Trennung der beiden Bereiche gegeben, wie das etwa in Frankreich der Fall ist. Die Ordnung des deutschen Grundgesetzes beruht von vornherein auf der Anerkennung der bedeutenden Rolle des religiösen Engagements von Einzelnen und von Gemeinschaften für das gesellschaftliche Zusammenleben. Sie lässt deshalb ausdrücklich Möglichkeiten einer Kooperation zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zu und ermutigt diese. Allerdings dürfen diese Privilegien nicht nur einer einzelnen Kirche oder einer einzigen Religionsgemeinschaft zukommen, sondern es ist Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass allen religiösen Gemeinschaften gemäß ihrer gesellschaftlichen Bedeutung hierfür die notwendigen Bedingungen geboten werden.
Dabei sind die deutschen Erfahrungen im Wesentlichen durch die christlichen Kirchen geprägt. Inzwischen leben auch mehr als 3 Millionen Muslime bei uns, und sie haben Anspruch auf gleiche Rechte, weil unser Staat weltanschaulich neutral ist und Religionsfreiheit garantiert. Aber der Islam hat eine andere Struktur als die christlichen Kirchen, und deshalb ist es für alle Beteiligten nicht einfach, mit dieser neuen Wirklichkeit umzugehen.
Es ist in Deutschland üblich, dass Religionsunterricht an öffentlichen Schulen angeboten wird, den die Religionsgemeinschaften in Kooperation mit dem Staat gestalten. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung von Religionskunde, sondern um religiöse Anleitung. Das ist kein allgemeiner Unterricht für alle, sondern es steht den Schülern frei, sich für den Unterricht in ihrer eigenen Religion anzumelden oder auch einen säkularen Ethikunterricht zu besuchen. Bislang wird diese Möglichkeit in Deutschland von mehreren christlichen Kirchen sowie der jüdischen Gemeinschaft wahrgenommen. Wir sind uns in der Islamkonferenz einig, dass es wichtig ist, eine analoge Möglichkeit für islamischen Religionsunterricht zu entwickeln.
Für Religionsunterricht an staatlichen Schulen brauchen wir Einrichtungen, die Lehrer für diesen Unterricht ausbilden. Dazu müssen Staat und Religionsgemeinschaften einvernehmlich zusammenwirken. Also müssen wir uns für die Ausbildung von islamischen Religionslehrern zum Beispiel über die Inhalte der Ausbildung, über die Prüfungsordnung oder über das Lehrpersonal genauso wie mit den christlichen Kirchen verständigen. Klar ist, dass der Unterricht in den Schulen und auch die Ausbildung der Lehrer auf Deutsch stattfinden müssen.
Die konkrete Umsetzung ist kompliziert, und deshalb wird es wohl noch etwas dauern, bis diese Möglichkeit tatsächlich jedem muslimischen Schulkind in Deutschland zur Verfügung steht, aber daran arbeiten wir gemeinsam.
An deutschen Hochschulen sollten nicht nur Schullehrer, sondern auch muslimische Geistliche theologisch ausgebildet werden. Gegenwärtig stammen die Imame in deutschen Moscheen häufig aus dem Ausland. Sie sind nur für wenige Jahre in Deutschland tätig und kehren dann in ihr Heimatland zurück. Das ist eine Übergangslösung, solange in Deutschland nicht genug Imame ausgebildet werden. Oft fehlt diesen Personen eine echte Vertrautheit mit unserem Land, die nötig ist, damit Muslime an den gesellschaftlichen Diskussionen unseres Landes voll teilhaben können. Mittel- und langfristig streben wir deshalb an, dass muslimische Geistliche, die in Deutschland aktiv sein wollen, auch bei uns ausgebildet werden. Das geschieht in enger Absprache mit den wichtigsten Herkunftsländern der deutschen Muslime, beispielsweise mit der türkischen Regierung.
6. Die Grundlage dieser Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften ist, wie gesagt, die Einsicht, dass die Religionen einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben leisten können, und der Staat hat ein Interesse daran, dass die Religionsgemeinschaften dies auch tatsächlich tun. Es ist daher allgemein anerkannt, dass die Möglichkeiten, die der Staat den Religionen im Bereich des Bildungssystems und anderswo einräumt, auf der Voraussetzung beruhen, dass die Religionsgemeinschaften ihrerseits die demokratische Ordnung bejahen und unterstützen. Auch das ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit in unserer Islamkonferenz. Ob es uns passt oder nicht: es gibt viele Leute, die der Ansicht sind, Islam und Demokratie passen nicht zusammen. Das sind oft Menschen, die gegenüber dem Islam Vorbehalte haben. Wir dürfen aber auch nicht ignorieren, dass einige Muslime dieselbe Ansicht vertreten. Auch wenn es eine Minderheit ist, dann sorgt diese Minderheit doch dafür, dass ihre Ansicht weltweit deutlich vernommen wird.
Nun weiß ich als deutscher Protestant sehr wohl, dass die Akzeptanz der Demokratie lange auch vielen christlichen Gläubigen nicht leicht gefallen ist; manche Protestanten in Deutschland haben erst nach dem 2. Weltkrieg zu einer voraussetzungslosen Bejahung der demokratischen Ordnung gefunden. Wir haben also wenig Grund, andere von oben herab zu belehren. Dennoch ist klar, dass die Integration des Islam in die heutigen europäischen Gesellschaften nur funktionieren kann, wenn die Anerkennung der existierenden demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung bedingungslos gegeben ist. Aus diesem Grund ist es von so großer Bedeutung, dass die Deutsche Islam Konferenz dieses Bekenntnis ohne irgendwelche Abstriche ausgesprochen hat. Von allen Teilnehmern wurde ausdrücklich anerkannt, dass sich Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und als freiheitlich verfasster demokratischer Rechtsstaat versteht. Und dass ein gedeihliches, friedliches und respektvolles Zusammenleben aller Menschen – gleich welchen Glaubens – in unserem Land die Integration aller Menschen in diese Gesellschaftsordnung voraussetzt. Alle in der Islamkonferenz sind sich einig, dass die in der Ordnung des deutschen Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden Rechte und Pflichten der Einzelnen wie auch ihrer Zusammenschlüsse für jeden, der in Deutschland lebt oder leben will, verbindlich sind.
7. Es wäre jedoch zu wenig, würden wir hier nur an die Akzeptanz von Gesetzen und rechtlichen Prinzipien denken. Das Zusammenleben der Religionen im heutigen Deutschland und Europa ist auch eine kulturelle Herausforderung. Die meisten Muslime, die bei uns in Europa leben, sind Einwanderer aus dem arabischen Raum oder aus den Maghrebstaaten oder – vor allem in Deutschland – aus der Türkei. Oftmals verschwimmen in der öffentlichen Diskussion die Fragen, die unmittelbar mit der Religion zu tun haben, mit der weiteren Problematik kultureller Integration. Es wäre sehr akademisch, das zu kritisieren. Religiöse Fragen lassen sich oft nicht trennen von Fragen der kulturellen Tradition, von Brauchtum, von ethischen Lebensformen, von Werten und Sitten. Die Deutsche Islam Konferenz beschäftigt sich deshalb auch mit diesen Problemen, die die Teilnahme von Muslimen am gesellschaftlichen Leben oft erschweren. Es ist von großer Bedeutung, dass Einigkeit besteht, dass es sich hier um einen wechselseitigen Prozess handelt. Integration verlangt von in Deutschland lebenden Muslimen die aktive Bereitschaft zu einem Teil der deutschen Gesellschaft zu werden, wozu nicht zuletzt der Erwerb und Gebrauch der deutschen Sprache und auch die Akzeptanz sozialer Konventionen des Miteinanders gehören. Gleichzeitig ist die Mehrheitsgesellschaft gefordert, in Deutschland lebende Muslime als gleichberechtigten Teil der deutschen Gesellschaft anzuerkennen und zu respektieren.
8. Das Zusammenleben der Religionen ist für Deutschland und Europa heute eine große innenpolitische Aufgabe. Eine größere Pluralität als wir sie in der Vergangenheit hatten, muss in einer Weise integriert werden, die ein friedliches und konstruktives Miteinander ermöglicht. Bei allen Schwierigkeiten, die dabei noch vor uns liegen, bin ich überzeugt, dass unsere modernen Demokratien dieser Aufgabe gewachsen sind; die Rahmenbedingungen sind in den europäischen Ländern unterschiedlich, aber diese Diversität erlaubt uns, auch voneinander zu lernen. Oft führen verschiedene Wege zum selben Ziel. Letztlich ist in unserer globalisierten Welt die innenpolitische Aufgabe, ein friedliches Miteinander der Religionen zu gewährleisten, nicht von der außenpolitischen Herausforderung durch die Pluralität der Religionen zu trennen. Beide Aufgaben hängen eng miteinander zusammen. Ihre Bewältigung ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Menschheit im Angesicht der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Lassen sie uns dafür der vielen Gemeinsamkeiten erinnern, die es zwischen uns gibt. In kaum einer Region herrschte über viele Jahrhunderte ein engerer Austausch zwischen den Kulturen und Religionen als im Mittelmeerraum. Dort, wo Afrika, Europa und der Nahe Osten aufeinander treffen, wo verschiedene Einflüsse sich gegenseitig bereichern, sind unvergessliche Hochkulturen entstanden, die der Geschichte der Menschheit ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Geschichte von Europa und dem Islam ist eben nicht – wie uns manche Glauben machen wollen – die eines Gegeneinanders.
Natürlich gab es in der Vergangenheit schwere Konflikte, zumal während der Zeit der Kreuzzüge. Aber es gab auch den Frieden von Jaffa, den Kaiser Friedrich II. und Sultan Al-Kamil im Jahr 1229 geschlossen haben – ein Frieden, der nicht auf Blutvergießen, Unterdrückung und Gewalt, sondern auf Respekt und Toleranz gründete.
Erst im Übergang zur Neuzeit hat der Mittelmeerraum seinen Charakter als Raum der Begegnung und des Austauschs allmählich verloren. Für die islamische Welt hat das Jahr 1492 mit dem Rückzug der Mauren aus Spanien eine Abkehr von Europa eingeläutet. Für das christliche Europa war die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 eine Zäsur, die eine Rückbesinnung auf sich selbst und eine Neuorientierung nach Westen in Gang setzte.
Die Kluft, die sich damals aufgetan hat, können und müssen wir überwinden. Heute wie damals wächst im Mittelmeerraum der Olivenbaum. Er ist Jahrtausende alt und kommt schon in der Bibel und im Koran vor. Er ist Symbol für ein friedliches, gewaltfreies Miteinander der Völker, Kulturen und Religionen. Von diesem Symbol der Hoffnung sollten wir uns leiten lassen und mit offenen Armen aufeinander zugehen. Die Gelegenheit ist günstig, wie schon lange nicht mehr.