„Das Managerverhalten ist ein Riesenproblem“



Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem General-Anzeiger

Hat die Politik genug getan, um eine Wiederholung des Amoklaufs von Erfurt zu vermeiden? Schäuble: Das ist schwer zu beantworten. Aber Sie sollten nicht immer zuerst nach der Politik fragen. Offensichtlich gibt es ja ein Bedürfnis in unserer Gesellschaft, bestimmte Formen körperlicher Gewalt zu sehen, denken Sie nur an die action thriller im Kino. Oder schauen Sie die Samstagabendsendungen von ARD und ZDF, immer Boxen. Das ist übrigens keine Frage an ARD und ZDF, sondern an uns als Gesellschaft.

Ihre Parteifreunde fordern ein Verbot von Killerspielen. Sie auch?

Schäuble: Verbote sind immer die ultima ratio. Sie sind aber schwer zu bewerkstelligen. Wir erleben das gerade beim Kampf gegen Kinderpornographie im Internet. Eine Schweinerei, die in unserer Gesellschaft aber offenbar eine Anhängerschaft findet. Deshalb möchten wir zunächst mit einer freiwilligen Vereinbarung zwischen den Providern und dem BKA den Zugriff auf solche Seiten sperren. Aber auch hiergegen sind nun Bedenken“ im politischen Raum laut geworden. Es ist doch absurd, dass noch nicht einmal bei diesem Thema Einigkeit besteht.

Kann man dem Werteverlust, der sich etwa in der Tat von Winnenden, aber auch bei der Kinderpornographie offenbart, womöglich gesetzgeberisch gegensteuern?

Schäuble: Nein, deshalb reagiere ich ja so zögerlich. Sie können Werte nicht gesetzlich vermitteln. Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen für Werte stärken. Deshalb setze ich mich für den Erhalt der Bedeutung von Religion ein. Ich setze mich deshalb auch für die Stärkung von Dingen ein, die Werte vermitteln, insbesondere Ehe und Familie. Die darf man dann aber auch nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Der Ruf nach dem Gesetzgeber hat immer auch die Gefahr in sich, dass der Einzelne sich von der Verantwortung freigesprochen fühlt. Also lautet die Frage nach Winnenden und Wendungen nicht zuerst: Was hat der Gesetzgeber versäumt? Sondern: Was haben wir freie Bürger versäumt? Wir sind immer auch selber schuld.

Ist unsere Gesellschaft zu individualistisch, zu sehr auf Leistung getrimmt?

Schäuble: Menschen sind immer in der Gefahr, durch Übertreibungen Fehler zu machen. Das sehen wir in der Finanzkrise. Jetzt hat sich das System ja ein Stück weit selbst zerstört. Aber der Leistungsgedanke ist heute nicht stärker als früher. Bei den letzten Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen ging es den Gewerkschaften darum, mit aller Kraft zu verhindern, dass pro Woche eine halbe Stunde mehr gearbeitet wird. Sechs Minuten am Tag! So arg kann es mit der Leistungsgesellschaft also nicht sein.

Sehen Sie auch positive Beispiele?

Schäuble: Ja, wenn ich verfolge, wie sich unsere Kinder um ihre Kinder kümmern, habe ich hohen Respekt. Das haben wir nicht so intensiv gemacht. Denken Sie an das überaus positive Echo auf das Elterngeld, das Ursula von der Leyen auch auf die Väter ausgedehnt hat. Man kann also nicht sagen, alles sei nur kälter, härter, egoistischer geworden.

Eine Kassiererin verliert ihren Job, weil sie 1,30 Euro gestohlen hat. Ist das nicht kalt?

Schäuble: Vielleicht sollte man mal betonen: Man stiehlt auch keinen geringen Betrag, erst recht nicht als Kassierer.

Aber dagegen stehen die Millionen, die am anderen Ende der Einkommenskala veruntreut wurden.

Schäuble: Selbstverständlich. Aber ich weigere mich zu sagen: Weil Manager Fehler gemacht oder gar Straftaten begangen haben, ist es nicht mehr schlimm, wenn gestohlen wird. Jeder kehre vor seiner Tür. Man kann sich nicht dadurch entlasten, dass es noch größere Schurken gibt. Aber Sie haben Recht. Politisch ist dieses Managerverhalten ein Riesenproblem. Eliten haben eine besondere Verantwortung. Und deshalb ist unsere Gesellschaft auch eher gefährdet durch das Verhalten der Eliten. Die, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren, können nicht verstehen, wenn andere in dieser Lage ihre Boni einklagen.

Stichwort Krise. Sie haben, bemerkenswert bescheiden, gesagt, wir fahren in der Krise auf Sicht. Wie weit reicht die Sicht? Schäuble: Bis zur nächsten Agenturmeldung. Im Ernst: Ich glaube nicht, dass wir die Krise schon hinter uns haben. Wir wissen es einfach nicht. Wir brauchen Zuversicht.

Welche Rolle spielt Optimismus im Wahlkampf?

Schäuble: Wichtig ist, dass die Leute wissen, dass wir bis zur Wahl unsere Regierungsarbeit tun. Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass wir nicht nur noch an die Bundestagswahl denken. Ein solcher Eindruck wäre verheerend.

Gilt das auch für die immer unruhiger werdende CDU-Basis? Schäuble: Auch sie erwartet, dass wir gut und erfolgreich regieren. Und man muss vermitteln und erklären.

Wie funktionsfähig ist der Kompass der Union tatsächlich? Schäuble: Die Wirkungskraft ist ausbaufähig. Wir haben folgendes Problem: Die große Koalition macht uns mürbe; je länger sie dauert, umso mehr. Wir stehen unter Kompromisszwang. Und jeder Kompromiss steht unter dem Verdacht, er gehe zu Lasten der eigenen Partei. Das geht unserem Koalitionspartner nicht anders.

Auch die SPD-Anhängerschaft ist unzufrieden mit dem eigenen Profil in der Merkel-Regierung.

Welche Rolle spielt die Finanzkrise?

Schäuble: Sie zwingt uns zu außerordentlichen Maßnahmen, aber wir geben deswegen unsere ordnungspolitischen Prinzipien nicht auf. Außergewöhnliche Ereignisse erfordern außergewöhnliche Reaktionen. Wenn nichts anderes funktioniert, muss der Staat die Funktionsfähigkeit des Bankensystems erhalten. Wer denn sonst?

Muss der Staat Opel helfen? Schäuble: Die Frage ist doch, ob die Direkthilfe das richtige Instrument ist. Ob ein Unternehmen zu sanieren ist, geht nicht nach dem Prinzip Holzmann. Das war Schröders Politik, die der SPD-Kanzlerkandidat jetzt zu kopieren versucht. Geholfen hat sie schon damals nicht.

Hat die CDU kein Orientierungsproblem?

Schäuble: Bei weitem nicht. Aber es gibt ein institutionelles Problem: Jeder glaubt, dass er seine Wahlerfolge aus eigener politischer Kraft errungen hat. Seine Probleme und Niederlagen schiebt er hingegen anderen zu. Strich drunter: Die Führungskraft der Kanzlerin ist stark gefordert. Und Angela Merkel hat diese Kraft.

Muss sie nicht mehr zur Vermittlung der Politik unter dramatischen Umständen beitragen?

Schäuble: Das tut sie: Sie führt, sie entscheidet, sie vermittelt, sie erklärt Inhalte.

Erwarten Sie im Verlauf der Krise eine Stärkung der extremistischen Ränder?

Schäuble: Bis jetzt spricht nichts dafür: Die Reaktion der Deutschen ist reif und gelassen. Die Menschen haben beispielsweise nicht mit Angstsparen reagiert.

Berlin ist nicht Weimar?

Schäuble: Bonn war nicht Weimar; Berlin ist es auch nicht. Wir sind keine Schönwetter-Demokratie.

Keine rechtsextremistische Gefahr?

Schäuble: Wenn nicht irgendwelche irregeleiteten Politiker aus opportunistischen Gründen das Thema des Verbots ständig hochziehen würden, hätte sich die NPD schon lange selbst zerlegt.

Die Debatte, die Berlins Innensenator Körting zum NPD-Verbot angestoßen hat. . .

Schäuble: . . .ist nur schädlich.

Kleiner Exkurs: Gibt es gemäßigte Taliban?

Schäuble: Mir haben kluge Leute aus dem islamischen Raum gesagt, der Westen mache einen Fehler, weil wir eins übersehen: Wir werfen die Gemäßigten, die mit der Invasion nicht einverstanden waren, aber die unbestreitbaren Erfolge trotzdem genießen, in einen Topf mit den Gewaltbereiten, die gemeinsame Sache mit El Kaida machen. Das müsse man trennen, das könne man trennen. Es ist eine kluge Politik, stärker zu differenzieren.

Wie hoch ist die islamistische Terrorgefahr in Deutschland? Schäuble: Wir sind im Fokus wie andere europäische Staaten auch. Die Bedrohung ist unverändert.

Kommen wir zum öffentlichen Dienst. Können sich die Beamten darauf einstellen, dass nach der schrittweisen Einführung der Pension mit 67 keine weiteren Einschnitte kommen?

Schäuble: Angesichts der aktuellen Finanzkrise will ich etwas vorsichtig sein. Die Auffassung der Bundesregierung ist: Wir wollen an dem bewährten System nichts ändern. Also lautet die Antwort ja. Aber wir müssen natürlich immer prüfen, ob Änderungen im Rentenrecht Änderungen bei der Versorgung der Beamten erforderlich machen.

Was ist mit der Mitnahme von Versorgungsansprüchen, wenn Beamte in die freie Wirtschaft wechseln?

Schäuble: Meine Meinung: Mit dem Prinzip des Berufsbeamtentums, also der lebenslangen Verpflichtung, ist diese Mitnahme nicht zu vereinbaren.

Bei der Tarifeinigung für die Länder ist die leistungsbezogene Vergütung miteingegliedert worden..,

Schäuble: Das ist arg euphemistisch. Die haben sie abgeschafft. Das Interesse der Gewerkschaften daran ist ganz gering geworden.

Was hat es gebracht, dass die Länder nun über die Bezahlung im öffentlichen Dienst selbst entscheiden?

Schäuble: Nun, ein gewisser Wettbewerb kann nicht schaden. Aber wenn Sie die aktuelle Einigung der Länder – in einer ganz anderen Lage als damals beim Bund – mit dem Bundesabschluss vergleichen, werden Sie sehen: Das unterscheidet sich nur hinter dem Komma.

Wie sehen Sie das Berufsbeamtentum im 21. Jahrhundert?

Schäuble: Ich bin ein Anhänger des dualen Systems aus Tarifbeschäftigten und Beamten. Ich glaube, große zentrale einheitliche Systeme bringen nur scheinbar Effizienz, sind aber viel anfälliger.

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