WELT AM SONNTAG: Herr Schäuble, Sie sind ein Mann mit Erfahrungen. Haben Sie in Ihrem politischen Leben schon einmal eine solche Zeit mit derart atemberaubenden Krisen wie diesen erlebt?
Wolfgang Schäuble: Nein, in der Fülle der Veränderungen, die ja alle für sich genommen schon grundlegend und disruptiv sind, habe ich eine solche Zeit noch nicht erlebt. Ich kann mich noch gut an die Kubakrise erinnern. Damals stand die Welt am Rande eines Atomkriegs. Wir hielten den Atem an. Hinzu kam der Bau der Mauer und damit die Zementierung der deutschen Spaltung. All das war belastend, aber in den Folgejahren brachte die Blockkonfrontation eine gewisse Übersichtlichkeit und auch Berechenbarkeit. Alle diese Krisen heute fallen zudem in eine Zeit, in der die Dominanz der westlichen Welt abnimmt, was die für uns ersichtlichen Gefahren nicht gerade kleiner macht.
Sehen Sie in dieser Lage Anzeichen, die Sie optimistisch stimmen?
Schäuble: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Selbst im Chinesischen ist das Schriftzeichen für Krise und Hoffnung dasselbe. Und wenn Krisen Chancen sind, dann haben wir im Moment große Chancen, denn wir haben große Krisen.
Zwar tut die Bundesregierung unter Verteidigungsminister Boris Pistorius einiges, um die Bundeswehr wehrtüchtig zu machen, doch genügt das? „Wieviel Divisionen hat der Papst“, fragte Stalin einmal höhnisch. Reichen unsere Divisionen oder sollten wir doch wieder über die Wehrpflicht aktivieren, damit die Bundeswehr über ein größeres Potential von Frauen und Männern verfügt?
Schäuble: Boris Pistorius hat nicht umsonst von Kriegstüchtigkeit gesprochen, die erreicht werden müsse. Klar ist jedenfalls: Wir werden uns mit Lichterketten allein nicht gegen Putins Angriff auf Europa wehren können. Und der russische Angriff auf die Ukraine ist eben auch ein Angriff auf Europa. Die Wehrfähigkeit muss also gestärkt werden; ob im Rahmen der Wehrpflicht oder eher eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres, das entsprechend auch der Bundeswehr dienen kann, muss man diskutieren. Ich habe dazu mit meiner Kollegin Serap Güler vor kurzem einen gemeinsamen Aufsatz veröffentlicht.
Die Wehrpflicht für Männer und Frauen?
Schäuble: Da ist eine Frage der Wehrgerechtigkeit, würde aber wohl eine Verfassungsänderung erforderlich machen. Aber das ist nicht das Hauptproblem. Nicht nur die junge Generation hat in der Breite noch nicht das Gefühl der Gefahren und der Notwendigkeit verinnerlicht, als Wehrdienstleistende das Land zu schützen. Die Polen sind in dieser Frage schon sehr viel weiter. Auch deswegen ist es so wichtig, das Weimarer Dreieck zwischen Frankreich, Deutschland und Polen jetzt wieder zu aktivieren und zu einer ganz neuen Kraft werden zu lassen.
In den kältesten Tagen des Kalten Krieges und selbst während der Entspannungsphasen gab die Bundesrepublik bis zu vier Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Verteidigung aus. Müssen wir zu ähnlichen Margen kommen?
Schäuble: Der Bundeskanzler selbst hat in seiner Rede zur Zeitenwende davon gesprochen, dass seine Regierung von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgeben will. Er strebt dies jetzt mithilfe des Sondervermögens an, obwohl er anfangs anderes vorhatte. Klar ist: Wir werden über kurz oder lang mehr für unsere Verteidigung ausgeben müssen. Europa braucht eine hinreichende Abschreckungskraft. Freiheit und Sicherheit haben Priorität – und ihren Preis. Abgesehen davon müssen wir die Vereinigten Staaten von Amerika entlasten. Wir dürfen uns nicht mehr darauf verlassen, dass die Hauptlast der Friedenssicherung in Europa durch die USA geleistet wird. Wollen wir als Europäer ernst genommen werden, müssen wir eine stärkere europäische Verteidigungsfähigkeit aufbauen, immer im Verbund mit der NATO. Und zwar jetzt.
Angesichts der Haushaltslage: Fürchten Sie, dass wir viel härtere Arten von Verteilungskämpfen erleben werden? Also Kämpfe zwischen Sozialpolitikern und Außen- und Sicherheitspolitikern?
Schäuble: Das glaube ich nicht. Auch in den Phasen des kältesten Kalten Krieges war die Bundesrepublik wirtschaftlich stark genug, ihren Sozialstaat auszubauen und dennoch einen überzeugenden Verteidigungsbeitrag zu leisten. Aber zu unserer Wehrfähigkeit gehört mehr als das Militärische.
Nämlich?
Schäuble: Die Verteidigungstauglichkeit fängt schon damit an, dass wir bei dem Zustand unserer Bahn offenbar Schwierigkeiten haben, die Panzer auch nur innerhalb unseres Landes zu transportieren. Nicht wenige Brücken lassen Zweifel zu, ob sie die Schwertransportzüge überhaupt tragen könnten. Auch deswegen ist es so dringlich, ein Bewusstsein für die Gefahren zu entwickeln. Neben der Infrastruktur ist aber vor allem der gesellschaftliche Zusammenhalt die Voraussetzung einer stabilen freiheitlichen Demokratie. Deswegen müssen wir endlich die richtigen Prioritäten setzen. Dazu gehört auch die bittere Wahrheit, dass wir zu wenig arbeiten. Wenn es einen massiven Arbeitskräftemangel gibt, dann können wir den nicht allein nur durch Einwanderung ausgleichen, sondern müssen auch selbst wieder mehr arbeiten. Deutschland ist das Land, das unter den führenden Industrieländern die wenigsten Arbeitsstunden pro Person im Jahr leistet. Ich habe noch die 48-Stunden-Woche erlebt. Keine Angst, da will ich nicht hin zurück. Aber heute gilt es schon als Menschenrechtsvergehen, wenn man bei der 38-Stunden-Woche bleiben möchte. Wollen wir unseren Wohlstand halten und damit letztlich auch die Stabilität und Verteidigungsfähigkeit des Landes, dann gehört auch dazu, auf diesen Missstand hinzuweisen und ihn zu beseitigen.
Sie haben eben davon gesprochen, das Weimarer Dreieck wiederzubeleben. Was schwebt Ihnen genau vor?
Schäuble: Die Idee des Weimarer Dreiecks kam schon in der Regierung Kohl/Genscher 1991 auf. Das Ziel war es, durch enge französisch-deutsch-polnische Konsultationen mehr Vertrauen zu schaffen und den deutsch-französischen Motor für Europa durch einen deutsch-polnisch-französischen zu ergänzen. Diese Idee sollte jetzt zu einer neuen engen Form der Zusammenarbeit zwischen Paris, Berlin und Warschau führen – und das auch militärisch. Polen hat die mit Abstand stärkste konventionelle Armee. Paris verfügt über die nukleare Komponente, und Berlin sollte die Bundeswehr ebenfalls ertüchtigen und zugleich als immer noch wirtschafts- und finanzstärkste Nation Europas einen überproportionalen finanziellen Anteil an der Force de frappe übernehmen, damit Frankreich seinen nuklearen Schirm über Europa spannt.
Lässt sich die Idee des Weimarer Dreiecks mit dem karolingischen Verständnis der Franzosen von Europa vereinbaren?
Schäuble: Der Traum vom karolingischen Europa ist in Frankreich längst ausgeträumt. Wer wie Macron bei seiner Wahl zum Präsidenten der Republik unter den Klängen der Europahymne auf das Podium zur Siegesfeier schreitet, der sagt damit: Ein starkes Frankreich geht heute nur noch durch ein starkes Europa. Seine Botschaft lautet: „Lasst uns diesen gemeinsamen europäischen Weg gehen.“ Nur gemeinsam kann Europa wirtschaftlich, militärisch und auch umweltpolitisch eine Rolle in der Welt spielen. Das Dreieck aus Paris, Berlin, Warschau wird funktionieren – aus ureigenen europäischen Interessen.
Sind haben die Force de frappe erwähnt. Sind Sie sicher, dass die Deutschen und die übrigen Europäer der Abschreckungskraft der Franzosen vertrauen werden und nicht selbst auf die Idee kommen, Atommacht zu werden?
Schäuble: Realistischer ist jedenfalls, dass derzeitige frz. Potential zu nutzen. Die größere Gefahr besteht doch darin, dass wir Europäer eines Tages ohne atomare Abschreckungsgarantie der Vereinigten Staaten dastehen, also ungeschützt – und das bei einem revisionistischen Russland.
Wie sollte die Verfügungsgewalt über die Atomraketen organisiert werden?
Schäuble: Natürlich wäre mir am liebsten, es gäbe irgendeine Form der europäischen Verfügungsgewalt. Doch das ist zum jetzigen Zeitpunkt utopisch. Hätten Adenauer und Schuman neben ihren unbestreitbaren Verdiensten um die europäische Einigung auch noch die EVG zustande gebracht, hätten wir heute wohl einen institutionellen Rahmen. Deshalb stelle ich mir zunächst vor, dass die Europäer im Allgemeinen, die Deutschen im Besonderen die französische nukleare Abschreckungskraft künftig finanziell so ausstatten, dass Paris dieses Abschreckungspotential glaubhaft für Europa nutzen kann. Die letzte Entscheidungsgewalt über den Einsatz von Atomwaffen würde bei aller europäischen Dimension und folglich auch einer gewissen Mitsprache aber in Paris liegen. Das ist heute mit den Amerikanern ähnlich geregelt. Im Übrigen sollten wir in der Frage der nuklearen Abschreckung auch Großbritannien nicht aus den Augen verlieren. Gerade in dieser Krise liegt auch eine Chance über gemeinsame Sicherheitsinteressen wieder stärker zusammenzuwachsen.
Über die engere Zusammenarbeit von Frankreich, Deutschland und Polen haben wir gesprochen. Wie sieht es mit den übrigen Europäern aus?
Schäuble: Jeder europäische Staat, der sich den dreien anschließen will, ist willkommen. Das werden nicht alle EU-Mitglieder tun. So wird es vermutlich mehrere Kreise einer unterschiedlichen Integration geben. Diese Kreise gibt es bereits: die Euro-Zone, den Schengenraum. Mit der Einführung des Euros war die Hoffnung verbunden, dass der Währungsunion eine Wirtschafts-, Finanz- und Sozialunion folgen sollte. Sie steht noch aus, muss aber auch irgendwann kommen.
Ihre und die Politikergeneration Helmut Schmidts und Helmut Kohls haben Deutschland immer als Motor der europäischen Einigung verstanden. Man hat den Eindruck, dass diese Lust an der Vision seit Schröder und Merkel einer zunehmenden Binnensicht gewichen ist. Teilen Sie diesen Befund und wenn ja, wie erklären Sie sich diesen Mentalitätswandel?
Schäuble: Ja, das ist so. Ich glaube, es liegt daran, dass nach dem Ende der deutschen Teilung die jüngeren Politiker mit Francis Fukuyama glaubten, dass sich nun die Demokratie durchsetze, der Weltfriede nahe und die europäische Einigung sich gleichsam von selbst ergeben würde. Schröder? Der war ein Sonderfall. Aber auch bei Angela Merkel bekam im Lauf der Zeit der Machtgewinn und Machterhalt einen gewissen Vorrang. Sie war 2005 mit einem starken Reformwillen in den Wahlkampf gezogen und gewann nach einem gehörigen Vorsprung zu Anfang dann nur ganz knapp. Aus diesem Erlebnis hat sie die Konsequenz gezogen, vorsichtiger zu sein und vor allem in Wahlkämpfen eine Strategie der asymmetrischen Demobilisierung zu betreiben. Damit gelang es ihr, Wahlen zu gewinnen. Eine dynamische Kraft hin zur europäischen Einigung – auch im Hinblick auf die Krisen in ihrer Amtszeit – lässt sich damit aber nicht entwickeln, ganz abgesehen davon, dass asymmetrische Demobilisierung bei dauerhafter Anwendung in eine Schwächung der Demokratie umschlagen kann. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ob Trump nun gewinnt oder nicht, die Kräfte, für die er steht, bleiben stark – in den USA wie in Europa. Wie erklären Sie sich das Phänomen: Ist das eine Reaktion auf die liberale Revolution, die wir in der Folge 1989 erlebten?
Schäuble: Nach 1989 haben wir unser System und unsere Ordnung für unübertrefflich gehalten. Das führte dazu, dass wir selbstgenügsam und vielleicht auch übermütig geworden sind.
Man könnte es auch als Dekadenz bezeichnen.
Schäuble: Selbstgenügsam und übermütig trifft es besser. Denken Sie an die Dominanz der Finanzmarktentwicklung. Der dem Menschen immanente Hang zur Übertreibung fand insbesondere dort seinen Ausdruck: Es wurde mit immer höheren und nicht mehr nachzuvollziehenden Zahlen und Methoden jongliert. Für den Philosophen Michael Sandel besteht im Übrigen in der Neigung zur Übertreibung mit ein Grund für das „Unbehagen in der Demokratie“, wie sein lesenswertes Buch heißt. Aber zurück: Dabei übersahen wir, dass die große Mehrheit der Bevölkerung darin keinen Fortschritt sah. Überdies haben wir das Bewusstsein verlernt, dass der Fortschritt kein Selbstläufer ist, sondern Ergebnis von harter Arbeit. Deswegen kann ich mich nur wiederholen: Wir müssen wieder länger arbeiten und das Bewusstsein von Anstrengung, Fleiß und Arbeit auch wieder stärker in Erziehung, Bildung und Ausbildung unserer Kinder verankern.
Ist Europa verloren, sollte Trump in den USA und 2027 Marine Le Pen in Frankreich gewinnen?
Schäuble: Verloren ist es nie. Es wird immer weiter gehen. Vielleicht hilft ein Präsident Trump Europa sogar, sich selbst auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren und die Einigung voranzutreiben. Vor Frankreich bangt mir nicht. Frankreich besaß in stärkerem Maß als wir die Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren, in der Geschichte der Gesellschaft. Die Vereinigten Staaten und Frankreich haben eine stolze demokratische Tradition. Es gibt keinen Grund an dieser zu zweifeln. Weder im Fall Amerikas noch bei unseren französischen Nachbarn.