„Das ist die faustische Wette“



In der Gesprächsreihe Neuropa blickt das Magazin „The European“ nach vorn und ergründet die Zukunft Europas mit Hilfe hochkarätiger Interviewpartner. Im Gespräch mit Sebastian Pfeffer und Alexander Görlach (The European) verteidigt Dr. Wolfgang Schäuble seine Politik der harten Hand. Schäuble mahnt die Europäer – jedes Gefühl von Stabilität und Sicherheit trügt.

The European: Herr Schäuble, gerade ist Europa durch seine wohl bislang größte Krise gegangen. Was sind für Sie die zentralen Lehren aus diesen Jahren?

Einzelne europäische Staaten können ihre Aufgaben in dieser global verflochtenen Welt nicht mehr erfüllen. Wir brauchen die europäische Integration. Früher haben wir sie mit „Nie wieder Krieg“ begründet, der Sicherung des Friedens und der Freiheit, heute ist die Globalisierung eine entscheidende Begründung. Sie bricht das Regelungsmonopol des Nationalstaates auf, und die Politik verliert teilweise ihren Regelungsanspruch.

Denn das Internet entzieht sich weitgehend staatlicher Regulierung, und globale Finanzmärkte sind auch nur sehr begrenzt durch den Nationalstaat zu beherrschen. Die Frage „Wer regiert wen?“ ist deshalb nicht nur eine für das Feuilleton.

The European: Sondern?

Diese großen Fragen sorgen dafür, dass wir neue Formen von Governance suchen müssen. Auch durch eine stärkere informelle Einbeziehung der Gesellschaften, wie wir das beispielsweise bei den großen UN Konferenzen erleben: Das sind nicht mehr alles nur Regierungen, nur klassisch verfasste Politik, sondern ganz neue Formen.

The European: In der Krise lautete der Vorwurf oft, Europa habe zwar seine wirtschaftliche Integration vorangetrieben, die politische aber versäumt.

Die Wahrheit ist doch, dass die Bevölkerung zu einer Abgabe von Entscheidungskompetenzen an die europäische Ebene nur begrenzt bereit ist. So lange die europäische Union so verfasst ist wie derzeit, sind die Mitgliedsstaaten die Herren der Verträge. Das heißt, sie können Vertragsänderungen auch nur einstimmig beschließen, und damit ist der Spielraum sehr begrenzt.

The European: Was gegen die Reformfähigkeit der EU spricht.

Ich bin da nicht so pessimistisch. Der Fortschritt ist manchmal eine Schnecke, aber auch eine Schnecke bewegt sich. Krisen sind immer Chancen. Europa hat sich in Krisen immer voran bewegt. Das wird auch weiter so sein.

The European: Sehen wir es richtig, dass die Bereitschaft zu Reformen, die in der Krise vorhanden war, bereits deutlich nachgelassen hat?

Ich hoffe nicht. Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht und das institutionelle Geflecht für eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik gestärkt. Die Währungsunion bringt aber ganz spezielle Probleme mit sich.

The European: Welche?

Der Euro ist ökonomisch zwingend. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer gemeinsamen Geldpolitik. Und dazu braucht es eigentlich auch eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die allerdings haben wir nicht, sonst hätten wir eine politische Union. Deshalb wurde der Stabilitätspakt vereinbart, an den man sich nur hätte halten müssen. Deutschland und Frankreich haben ihn vor zehn Jahren aber zerstört. Jetzt reparieren und stärken wir ihn.

The European: Die Stimmen, die den Stabilitätspakt kritisieren, sind wieder lauter geworden.

Das stimmt, aber keiner meiner Kollegen in der Eurogruppe möchte den Pakt ändern. Das würde das Vertrauen in den Euro schwächen. Demokratie, Reformprozesse sind mühsam. Die Alternativen sind allerdings noch viel schlechter.

Ich halte die These, dass sich beide Dinge ausschließen, für falsch. Sie bedingen sich gegenseitig. Dauerhaft kann es keine Konsolidierung ohne Wachstum geben und kein Wachstum ohne Konsolidierung. Bei allem Respekt: Wenn Sie sich die internationalen Zahlen anschauen, sehen Sie, dass genau dies eine der großen Fehleinschätzungen ist: Man kann seine Probleme nicht lösen, indem man Geld einsetzt, das man nicht hat. Ob man es nun durch die Notenpresse druckt oder Schulden macht, ist dabei zweitrangig.

The European: Diese Ansicht teilt nicht jeder.

Es gibt eine breite Übereinstimmung. Sie können in jeder Erklärung der europäischen Finanzminister, der G20 oder des IWF, immer wieder lesen, dass nachhaltiges Wachstum zwingend Strukturreformen und finanzpolitische Konsolidierung braucht.

The European: Warum ist in Deutschland beides vereinbar, in Ländern wie Italien oder Frankreich aber nicht?

Wenn der Sachverhalt nicht stimmt, können Sie die Frage drehen und wenden, wie Sie wollen. Die Zahlen sprechen dagegen. Deutschland hat besseres Wachstum und eine bessere Konsolidierung. Die Länder, die bessere Konsolidierung haben, haben bessere Wachstumszahlen. Die Länder, die schlechte finanzpolitische Kennziffern haben, haben auch schlechteres Wachstum. Der Zusammenhang ist so evident, dass sein Bestreiten nur mit einem anderen Problem zu erklären ist.

The European: Mit welchem?

Man will keine unangenehmen Entscheidungen treffen.

The European: Wo soll in einem Land wie Griechenland Wachstum entstehen, wenn Löhne und Renten halbiert werden?

Die griechische Wirtschaft erholt sich gerade. Der griechische Tourismus hat im letzten Jahr das beste Ergebnis seiner Geschichte erlebt, und in diesem Jahr wird es sicher noch besser werden. Die Griechen waren gezwungen, Löhne zu kürzen, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig waren.

The European: Es stört Sie merklich, dass behauptet wird, die Konsolidierung sei Teil des Problems.

Weil sie Teil der Lösung ist. Schulden hingegen sind Teil des Problems, genauso nicht nachhaltige öffentliche Haushalte und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit.

Deswegen sind die Strukturprogramme unter den Rettungsschirmen EFSF und ESM erfolgreich. Irland hat sich erholt, Portugal hat sich erholt, Spanien erholt sich sehr viel besser als gedacht, Griechenland ist auf einem guten Weg, und von Zypern wissen die meisten schon gar nicht mehr, dass es in solch einem Programm ist.

The European: Haben diese Anpassungsmaßnahmen denn dafür gesorgt, dass die Wahrscheinlichkeit einer vergleichbaren Krise heute geringer ist als vor fünf Jahren?

Wir sind nie sicher. In dem Moment, in dem man glaubt, es sei alles gut, geht alles schief. So ist die menschliche Gesellschaft, so ist der Mensch. Wenn Sie so wollen, ist das die faustische Wette: Wir dürfen nie stehen bleiben, es geht immer weiter.

The European: Ist das nicht ein Dilemma? Man will vermitteln, dass die Maßnahmen erfolgreich waren und gleichzeitig den Druck für weitere Anstrengungen aufrechterhalten.

Ich habe dieser Tage auf einer Konferenz über das Thema „Euro noch nicht über den Berg“ diskutiert und gesagt: Was machen wir eigentlich, wenn wir über den Berg sind? Dann gehtʼs bergab!

The European: Auch nicht schön.

Wenn wir glauben, jetzt könnten wir uns mal ein paar Jahre lang zurücklehnen, werden wir unsere relativ gute Wettbewerbsposition verlieren. Auch in Deutschland.

The European: Was genau muss getan werden?

Wir müssen Europa institutionell stärker machen. Damit es klarer wird, damit die Menschen wissen, wer was entscheidet und wer wofür zuständig ist. Das muss sich danach richten, was die Menschen bereit sind zu akzeptieren. Wenn man alles vor Ort entscheiden will, führt man eben wieder Stadtstaaten ein.

The European: Das Hin und Her zwischen nationalstaatlichem Anspruch und europäischer Integration hat bislang immer gebremst. Kann man diesen gordischen Knoten lösen?

Deswegen sind Krisen die Chance für Fortschritt. In Krisen wird die Notwendigkeit deutlicher. Einigermaßen saturierte Gesellschaften, was wir ja ohne Zweifel sind, sind per se nicht veränderungsfreundlich, sondern verteidigen ihre Besitzstände. Nur wenn sie gezwungen sind, akzeptieren sie Änderungen.

Das ist die menschliche Natur.

The European: Wir haben das Gefühl, dass diese Umbrüche damit einhergehen, dass die Eliten, die den europäischen Einigungsprozess stets getragen haben, ein Stück weit ihre Sprachfähigkeit verloren haben. Und gegen sie steht eine wachsende Zahl von Vereinfachern. Wie gehen Sie mit diesem Spannungsfeld um?

Man muss sich immer wieder bemühen, für den eigenen Standpunkt werben, und versuchen, zu überzeugen. Und ihn so begründen können, dass andere ihn verstehen. Damit hat Europa ein Problem: Durch die komplizierte Struktur des europäischen Einigungsprozesses haben eine Reihe von Regelungen in einem Maße kleinteilige Begründungen, dass man sie nicht mehr versteht.

The European: Ihr Ziel ist, dass Europa eine echte Mehrebenen-Demokratie wird.

Das ist meine Überlegung, ja. Ich glaube, es wäre ganz falsch, den alten Nationalstaat durch einen europäischen Superstaat zu ersetzen, das wollen die meisten Leute nicht und ich auch nicht. Aber man wird Teile dessen, was früher der Nationalstaat geregelt hat, in Zukunft nur noch europäisch machen können. Andere Teile werden weiterhin im Nationalstaat zu regeln sein oder auch, wie bei uns in Deutschland, in Ländern oder Kommunen.

Deswegen brauchen wir mehrere Ebenen. Aber die Entscheidungen auf jeder dieser Ebenen müssen in sich demokratisch legitimiert sein. Man kann demokratische Legitimation nicht nur ableiten, wie es heute oft noch gemacht wird.

The European: Ein Versuch, die europäische Ebene stärker demokratisch zu legitimieren, war die Einführung von Spitzenkandidaten bei der Europawahl. Hat sich dieses Konzept bewährt?

Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Die Aufstellung der Spitzenkandidaten hat ein gewisses Interesse am Parlament verstärkt. Der nächste Präsident der EU-Kommission hat eine größere demokratische Legitimation. Dass das hinterher nicht ohne einen gewissen Konflikt mit denjenigen ablief, die bisher glaubten, alles entscheiden zu können, zeigt nur, dass die Maßnahme wirkt.

The European: Und in Zukunft?

Der CDU-Parteitag hat schon vor zwei Jahren beschlossen, den Präsidenten der Kommission in einer direkten Volkswahl in ganz Europa bestimmen zu lassen. Dann hätte man einen europäischen Präsidenten mit einem echten Regierungsauftrag. Das gefällt aber nicht allen, insbesondere einigen Staats- und Regierungschefs nicht, die dann noch jemanden über sich hätten. Aber in diese Richtung müssen wir gehen.

The European: 2014 jähren sich mehrere Ereignisse, die uns schrecklich vor Augen geführt haben, wie es auch anders geht. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Zweite. Sie haben in einem Beitrag auf 1814 verwiesen. Warum?

Geschichte ist ja nicht auf hundert Jahre begrenzt. 1814 war eine Wegmarke nach einer aufregenden Entwicklung in der europäischen Geschichte, ausgelöst durch die Französische Revolution. Wie häufig nach Revolutionen herrschte zunächst Chaos. Dann kam Napoleon und hat eine gewisse Ordnung geschaffen, es dann aber auch überzogen, und Europa lehnte sich gegen ihn auf. Es folgten der Wiener Kongress und die Restauration. Europa war voller Zuversicht und Hoffnung – bis fast in diese Tage vor 100 Jahren.

Und dann kam die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg mit allen entsetzlichen Abgründen danach.

The European: Vor dem Ersten Weltkrieg ging man davon aus, dass so etwas unmöglich wäre.

Vor allem hatte man damals keine ausreichende Ordnungsvorstellung mehr, die das 20. Jahrhundert fassen konnte. Diese Erfahrung lehrt uns, dass Ordnungen immer neu gesucht werden müssen, denn Stabilität ist immer nur zeitweilig.

The European: Die Krise in der Ukraine hat die Gewissheit des „Nie wieder“ zuletzt erschüttert.

Sicherheit ist immer trügerisch. Das zeigt uns die Krim, aber auch der Nahe Osten. Das Mittelmeer ist nicht so groß. Nichts ist so stabil, dass man sich nicht stets neu darum bemühen müsste. Geschichte hat kein Ende. Deswegen muss man Strukturen schaffen, aber auch wissen, dass sie durch Entwicklungen wieder obsolet werden können oder verändert werden müssen. Das kann nur, wer anpassungsfähig ist. Deshalb: Europa muss in dieser dramatischen Entwicklung der Globalisierung in der Lage sein, sich auf Veränderungen einzulassen. Und nicht nur zu sagen: Jetzt geht es uns ja ganz gut, das wollen wir genießen.

The European: Sie haben geschrieben, Europa könne „der Welt ein Modell für globales Regieren im 21. Jahrhundert“ anbieten. Darin liegt einerseits eine große Hoffnung, anderseits eine große Herausforderung, oder?

Ja. Wir haben sehr spezifische Erfahrungen – auch im Scheitern. So viele grässliche Kriege wie Europa hat sonst kein Kontinent erlebt, erst recht, wenn man die hinzurechnet, die Europäer anderswo geführt haben. Wir haben aber auch spezielle Werte. Nimmt man das zusammen, haben wir eigentlich die Pflicht, dieser unglaublich konfliktreichen Entwicklungsdynamik in der Welt – den Modernisierungskonflikten in der islamischen Welt, von Nordafrika bis nach Indien, in China und in Russland – nicht tatenlos zuzusehen. Wir haben Verantwortung, aber auch Interessen – insgesamt eine große Mission.

Die Bundeskanzlerin hat das in ihrer ruhigen, klaren und unpathetischen Art in der Ukraine-Krise in mehreren Reden sehr schön beschrieben: Konflikte gibt es immer wieder. Aber wir wollen diese Konflikte doch nicht mehr mit Mitteln des 19. oder 20. Jahrhunderts austragen. Sondern – in Gottes Namen – mit mühsamen Gesprächen! Wir müssen sprechen, widersprechen, besser sprechen.

The European: Herr Minister Schäuble, bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: „Denk ich an Europa in der Nacht …“
… dann bin ich froh, dass wir die alten Konflikte doch ein ganzes Stück weit überwunden haben.