Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble stellt in einem Interview mit der Fachzeitschrift „Versicherungswirtschaft“ vom 13. März 2013 die Robustheit der deutschen Versicherer heraus und plädiert zugleich für weitere Reformen auf den Finanzmärkten. Die langfristigen Risiken des Niedrigzinses für die Lebensversicherer müssten grundlegend untersucht werden, so sei auch die Frage der Bewertungsreserven nicht vom Tisch.
Versicherungswirtschaft: Herr Dr. Schäuble, wie fühlt sich der Bundesfinanzminister in diesem März 2013? Frühlingserwachen auf den Finanzmärkten und rund um den Euro? Oder ein trügerischer Frühling?
Schäuble: Ich glaube nicht, dass Märkte den Launen der Natur folgen. Wir haben in der Eurozone entscheidende Fortschritte erzielt. Besonders auch in den einzelnen Mitgliedstaaten. Die öffentlichen Haushaltsdefizite sinken und die Länder gewinnen durch entschlossene Reformen wieder an Wettbewerbsfähigkeit. Außerdem haben wir die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion entscheidend verstärkt durch strengere Wirtschafts- und Fiskalregeln, bessere Überwachungs- und Sanktionsmechanismen und für Notfälle ein Sicherheitsnetz in Form des ESM geschaffen. Die Finanzmärkte beginnen dies durch sinkende Refinanzierungskosten für die Länder zu honorieren, die zuvor noch unter besonderem Druck der Märkte standen. Wir sollten uns aber alle im Klaren darüber sein, dass diese Dividende ein Vorschuss auf die künftige Fortsetzung der Konsolidierungs- und Reformanstrengungen ist. Dieser Vorschuss wäre sehr schnell verspielt, wenn von diesem Pfad wieder abgewichen würde.
Versicherungswirtschaft: In kaum einer anderen Branche erschallt lauteres Wehklagen über eine die Substanz gefährdende finanzpolitische Situation wie in der Versicherungswirtschaft. Als für diese Branche zuständiger Ressortminister: Wie soll das Leck gedichtet werden, das die deutsche Lebensversicherung als wichtigster Tanker der privaten Vorsorge infolge der Niedrigzinsfalle aufweist?
Schäuble: Zunächst einmal scheint mir die Ausgangslage der Versicherer vergleichsweise robust zu sein. Die anhaltende Niedrigzinsphase stellt die Branche aber auch vor Herausforderungen. Wir wissen das und versuchen dem entgegenzusteuern, wo dies sinnvoll und vertretbar ist. Für die Kunden am sichtbarsten war die Herabsetzung des Garantiezinses auf 1,75 Prozent, die bereits 2011 erfolgte. Außerdem haben wir die Unternehmen verpflichtet, eine Zinszusatzreserve aufzubauen. Auch wenn wir aktuell im Bundesrat keine Einigung zu den Bewertungsreserven erreichen konnten, ist das Thema nicht vom Tisch. Die langfristigen Risiken für die deutschen Lebensversicherer sollen einer grundlegenden Untersuchung unterzogen werden. Diese soll aber nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den laufenden Prüfungen zu Solvency II erfolgen.
Versicherungswirtschaft: Was die Niedrigzinsgeschädigten beklagen, muss den Bundesfinanzminister für seinen Haushalt freuen. Nur die bloße Rückkehr zu Normalzinsen würde einen erheblichen Rückschlag für die Schuldenbremse bedeuten. Wie stabil sind die Berechnungen, die auf einen ausgeglichenen Haushalt zielen?
Schäuble: Die aktuell niedrige Verzinsung deutscher Staatsanleihen zeigt, dass die Anleger uns nach wie vor großes Vertrauen entgegenbringen. Das ist auch das Ergebnis unserer auf Solidität und Nachhaltigkeit angelegten Finanzpolitik. Auch wenn sich das Zinsniveau wieder normalisiert, halten wir die grundgesetzliche Schuldenregel ein. Bereits 2014 streben wir einen solide finanzierten Bundeshaushalt mit struktureller Null- Verschuldung an.
Versicherungswirtschaft: Wichtiger noch als das pure Branchenwohl ist das Gemeinwohl, das sich dahinter verbirgt. Das Altersvorsorgevermögen in Deutschland generell hat Schwindsucht. Die finanzielle Lebens- und Vorsorgeplanung für Millionen geht weithin nicht mehr auf. Über die finanzpolitische Betrachtung hinaus muss dies doch den Ordnungs- und Sozialpolitiker Schäuble zutiefst beunruhigen. Mit welchen Weichenstellungen können sichere soziale Leitplanken errichtet werden?
Schäuble: Zunächst einmal: Das Altersvorsorgevermögen in Deutschland hat keine Schwindsucht. Bei aller verständlichen Sorge der Versicherungswirtschaft und vieler Versicherter rate ich daher von Panikmache ab. Der aktuelle Alterssicherungsbericht der Bundesregierung zeigt deutlich, dass Seniorinnen und Senioren heute in der Regel gut versorgt sind. Wichtig ist jedoch, dass die heutige Erwerbsgeneration ergänzend privat oder betrieblich vorsorgt. Hierfür hat die Bundesregierung in den letzten Jahren bereits die richtigen Weichenstellungen vorgenommen. Mit 15,6 Millionen privaten Riester-Verträgen Ende Juni 2012 und 19,6 Millionen aktiven Anwartschaften in der betrieblichen Altersversorgung Ende 2011 ist die Zusatzvorsorge in Deutschland insgesamt auf einem guten Weg.
Versicherungswirtschaft: Wird das Thema „Altersarmut und damit verbunden die Reform von Rentenversicherung und Altersvorsorge zu einem zentralen Thema? Wie wird Ihr Haus dabei punkten?
Schäuble: Die Rentenreformen des letzten Jahrzehnts haben das deutsche Alterssicherungssystem nachhaltig gestärkt und auf den demografischen Wandel vorbereitet. Die materielle Absicherung der heutigen Rentnergeneration ist überwiegend gut. Am Jahresende 2011 bezogen nur rund 2,6 Prozent der Bevölkerung der Altersgruppe 65 Jahre und älter Grundsicherung. Seit 2007 hat sich dieser Anteil lediglich minimal erhöht. Das macht deutlich, dass Hilfebedürftigkeit im Alter heute kein Problem ist. Durch Einführung der Schuldenregel ist der Bund nach einer Übergangsfrist ab dem Jahr 2016 sowie die Länder ab dem Jahr 2020 verpflichtet, ihre Haushalte grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Dadurch wird auch der intergenerationalen Gerechtigkeit genüge getan. Ebenso wird sichergestellt, dass genügend Spielräume für notwendige Aufgaben und Ausgaben nicht nur gegenwärtig, sondern auch in der Zukunft zur Verfügung stehen.
Versicherungswirtschaft: Wie positionieren Sie die volkswirtschaftliche und sozialpolitische Rolle der Versicherungswirtschaft – auch unter dem Aspekt, dass Leistung und Ansehen der Banken stark desavouiert ist?
Schäuble: Versicherungen sind keine Banken, Der Versicherungswirtschaft kommt zweifelsohne eine besondere volkswirtschaftliche und sozialpolitische Rolle zu. Die öffentlichen Diskussionen der vergangenen Wochen und Monate haben aber viele Verbraucher verunsichert. Zu Unrecht, denn wir haben in der Regulierung viel erreicht. Und wir arbeiten weiter gemeinsam mit unseren europäischen und internationalen Partnern daran, die Regeln für Banken und wo nötig auch für Versicherungen so zu gestalten, dass Wirtschaft und Verbraucher die Finanzdienstleistungen bekommen, die sie brauchen.
Versicherungswirtschaft: Für wie fortgeschritten oder sogar schon tragfähig halten sie die Regulierungsvorhaben, die zur Vermeidung künftiger Finanzkrisen national, europäisch und global angegangen wurden? Was steht für Sie derzeit ganz oben auf der Dringlichkeitsliste?
Schäuble: Wir haben große Fortschritte gemacht – international und national. Wir haben die Lehren aus der Finanzkrise gezogen und Schritt für Schritt einen neuen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte geschaffen. Jetzt müssen wichtige Vorhaben wie die Verhandlungen zum CRD IV-Paket und die europäischen Rechtstexte zur Errichtung der einheitlichen Bankenaufsicht zügig abgeschlossen werden. Klar ist aber auch, dass wir mit unseren Bemühungen noch nicht am Ende sind. Im Kern müssen wir dafür sorgen, dass das Haftungsprinzip auch im Finanzsektor greift und nicht der Steuerzahler einspringen muss. Wir setzen uns daher für einen schnellen Abschluss der europäischen Verhandlungen ein. Und wir haben das Trennbankengesetz auf den Weg gebracht, das riskante Geschäfte abschirmt und von Banken die Vorlage von Bankentestamenten verlangt. International müssen wir aufpassen, dass mit der zunehmenden Erholung der politische Wille, die Lehren aus der Krise umzusetzen, nicht nachlässt. Wir dürfen nicht die Kraft zu weiteren Reformen verlieren.
Versicherungswirtschaft: Was ist in diesem Jahr noch an finanzpolitisch relevanten Entscheidungen zu erwarten? Mit welchen Tatarennachrichten aus dem Euroraum ist zu rechnen?
Schäuble: Wir arbeiten daran, dass 2013 ein erfolgreiches Jahr wird und erwarten wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene, die uns dem Abschluss bedeutender Vorhaben ein gutes Stück näher bringen. Dies gilt insbesondere für die Vorhaben zu CRD IV und des künftigen Regimes zur Bankenabwicklung. Um das zurückkehrende Marktvertrauen zu stärken und die Krise hinter uns zu lassen, müssen wir den von uns beschrittenen Pfad wachstumsorientierter Konsolidierung verbunden mit Strukturreformen nun konsequent weiter fortsetzen.
Das Interview führte Heinz Klaus Mertes.
Alle Rechte: Versicherungswirtschaft.