Dan­kre­de an­läss­lich der Ver­lei­hung des Eu­ro­päi­schen St.-Ul­richs-Prei­ses



Datum 15.07.2016
Ort Dillingen a. d. Donau

Ein paar Worte zu Europa als Wertegemeinschaft: Zunächst – und das sage ich nicht nur wegen der Preisstifter und wegen des Ortes, an dem wir uns hier befinden: Ohne seine christlichen Wurzeln wäre Europa nicht die Wertegemeinschaft, die wir kennen. Ohne diese christlichen Wurzeln wäre Europa nicht das geworden, was es ist: Vom Rhythmus unseres Lebens in der Zeit, in Wochen und Feiertagen, bis zur gleichen Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen in unseren Verfassungen und in unserem gesellschaftlichen Leben ist dieses Europa von im Ursprung christlichen Vorstellungen geprägt.

Die Werte, die uns, dem Westen insgesamt, die wichtigsten sind, entstammen im Wesentlichen dem Gedanken „Vor Gott sind alle Menschen gleich“: Sie sind alle gleich von ihm geschaffen.

Trotzdem, die Frage stellt sich ja: „Europa als Wertegemeinschaft“ – klingt das nicht ein wenig hohl in unseren Zeiten? Ein großes Land, das den Parlamentarismus erfunden hat, will nicht mehr dabei sein. In der Flüchtlingsfrage gibt die Europäische Union kein gutes Bild ab. Einzelne Mitgliedstaaten beschließen rechtsstaatlich zweifelhafte Gesetze. Man könnte noch eine ganze Reihe solcher Einwände hinzufügen.

Und dennoch: Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Dass wir uns in Europa streiten, dass wir oft, möglicherweise meist, verschiedene Wege zur Lösung von Problemen befürworten, dass der eine mehr ausgeben will als der andere, und auch für Verschiedenes – all das steht dazu nicht im Widerspruch.

Dass die Europäische Kommission die Rechtsstaatlichkeit mancher zweifelhafter einzelstaatlicher Gesetzgebung untersuchen muss, steht dazu nicht im Widerspruch – sondern ist eher praktisch-tätiger Beweis für die europäische wertegemeinschaftliche Sensibilität.

Dass jenes große Land die Gemeinschaft verlässt, steht zur Wertegemeinschaft Europa auch nicht im Widerspruch. Denn dieses eine Land wird – wie die verbleibenden 27 Länder und wie die europäischen Länder, die noch gar nicht dabei sind – von den europäischen Werten weiter geprägt und geleitet sein. Daran besteht kein Zweifel. Die Briten haben auch nicht diese Werte abgewählt, sondern – weil eine Mehrheit dafür Gründe zu haben glaubte – bestimmte institutionelle Wege zu ihrer Verwirklichung.

Schon eher scheint der immer noch unbefriedigende Umgang von EU und Mitgliedstaaten mit der Flüchtlingssituation gegen die These von der Wertegemeinschaft zu sprechen. Aber es gibt gleich ein ganzes Arsenal schon klassisch gewordener Gedanken, mit denen wir uns die politisch-moralischen Dilemmata deutlich machen können, vor denen wir in dieser Frage stehen.

Lessings Nathan fragt im ersten Akt, zweiter Auftritt, seine Tochter: „Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen leichter, als gut handeln ist?“ Die Frage möchte ich heute vielen stellen.

Fast anderthalb Jahrhunderte nach Lessing haben wir ganz ähnlich die berühmte und heute wieder so hilfreiche Unterscheidung des Soziologen Max Weber: zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in der Politik. Zwischen Gesinnungsethik, die nur auf die eigenen hehren Motive und auf moralische Sauberkeit blickt und sich um die Folgen nicht schert, und Verantwortungsethik, die ihren moralischen Anspruch auch an die Folgen des eigenen Tuns richtet, die Verantwortung übernimmt für eine moralisch vertretbare Gesamtbilanz einer Politik oder einer Handlungskette.

Und schon die alten Römer kannten die Grenze der moralischen Selbst-Beanspruchung: „Ultra posse nemo obligatur“: Über sein Können hinaus ist niemand verpflichtet. Das Unmögliche muss niemand leisten.

Diese Gedanken sagen alle mehr oder weniger dasselbe. Sie fordern uns auf, mit Demut zu erkennen: Moralische Eindeutigkeit lässt sich nicht umstandslos in Politik übersetzen. Politik ist nicht mit Menschlichkeit identisch.

Dafür ist die gegenwärtige Flüchtlingssituation ein Paradebeispiel: Etwa die notwendige Zusammenarbeit mit einer Türkei, an der einem weiß Gott nicht alles gefällt. Oder durch Auswahl und auch Zurückweisung sich die Möglichkeit zu erhalten, denen zu helfen, die es heute und künftig wirklich dringend brauchen.

Richard Schröder, Theologe und SPD-Fraktionsvorsitzender in der im März 1990 frei gewählten DDR-Volkskammer, hat neulich daran erinnert: Der einzelne Bürger, der einzelne Christ zumal, kann und soll barmherzig gegenüber Flüchtlingen sein. Der Staat aber kann nicht barmherzig sein; sein Prinzip ist die Gerechtigkeit. Der Staat muss unterscheiden, zuteilen, begrenzen – eben um unsere Fähigkeit, zu helfen, zu erhalten.

Das ist in der Politik wie im Privaten meistens so: Das richtige Handeln liegt nicht auf der Hand. Für das richtige Handeln müssen wir Balancen suchen und halten, auch aushalten. Und um das zu schaffen, brauchen wir Werte, ein Wertegerüst.

Etwa, ein anderes Beispiel, für die richtige Balance im ständigen Gegensatz, im Dilemma, zwischen Freiheit und Regulierung, zwischen Freiheit und Sicherheit. Dieses Spannungsverhältnis muss immer wieder ausbalanciert werden. Das Pendel schwingt mal zu weit in die eine Richtung, dann wieder zu weit in die andere Richtung. Es geht hier wie so oft in der Politik und wie auch im eigenen Leben um das richtige Maß.

Es gab eine Phase, da haben wir in der Welt, auch in Deutschland, die Finanzmärkte zu sehr dereguliert. Seit 2008, seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers, versuchen wir wieder mehr und besser zu regulieren – dürfen es aber jetzt auch nicht übertreiben, damit es nicht wiederum zu unnötigen Schäden in der Wirtschaft kommt.

So ist es auch mit dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Ein Leben in Freiheit, aber ohne Sicherheit, würde uns sicherlich nicht gut tun. Allerdings auch umgekehrt nicht eines mit totaler Sicherheit, die wiederum unsere Freiheit zerstören würde. Aber davon sind wir ja auch ziemlich weit entfernt.

Damit die Freiheit unsere Freiheit bleiben kann, dafür braucht man die richtigen Rahmenbedingungen, Regeln und Grenzen, innerhalb derer sich das freie Leben des Einzelnen und der Gesellschaft entfalten kann.

Wir dürfen durchaus mit Selbstbewusstsein sehen, dass uns das gar nicht so schlecht gelingt. Gerade von außen ist Europa, ist der Westen schon attraktiv als Wertegemeinschaft. Man sieht in der Welt schon, dass wir Institutionen haben, mit denen wir Freiheit und Recht tatsächlich wahren. Demokratie, Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, sozialer Zusammenhalt und Fairness, ökologische Nachhaltigkeit – diese Werte erfreuen sich weltweit hoher Attraktivität. Wir müssen nur versuchen, ihnen selbst ein wenig gerecht zu werden.

Und wir müssen, um attraktiv zu bleiben, auch ökonomisch erfolgreich bleiben, zum Teil auch wieder erst werden. Damit meine ich nicht Wachstum um jeden Preis. Wir Europäer müssen zeigen, dass wir nachhaltig wachsen können, ohne die soziale Kohärenz in unseren Gesellschaften zu gefährden, und ohne Blasen, Krisen und Zerstörungen der Schöpfung heraufzubeschwören – und das gar noch auf dem Rücken der Schwächeren in der Welt.

Nein, die reicheren Länder müssen sich den benachteiligten Regionen viel mehr zuwenden. In der globalisierten Welt werden Wohlstand und Stabilität für die „beati possidentes“, die glücklichen Besitzenden, nur zu bewahren sein, wenn die Spaltungen und die daraus resultierenden Konflikte beherrschbar bleiben.

Teilung kann man nur durch Bereitschaft zum Teilen überwinden, haben wir nach dem Fall der Mauer gesagt. In Deutschland und in Osteuropa ist es gelungen, eine Revolution friedlich zum Erfolg zu bringen. Das war in der Geschichte meistens anders – von der Französischen Revolution bis zum Arabischen Frühling.

Deswegen sollten wir im Jahrhundert der Globalisierung an einer maßvollen Revolution arbeiten, um einen grundlegenden Wandel ohne zu viel Übertreibung zu schaffen. Deshalb müssen wir Wachstum, vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern fördern, während wir in den Industriestaaten stärker auf Nachhaltigkeit setzen müssen.

Also: Es reicht noch nicht aus, dass Europa als Wertegemeinschaft stark bleibt. Das ist nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für eine gute Zukunft Europas und des Westens insgesamt.

Ich bin zwar überzeugt, dass Marktwirtschaft auf Dauer nur in Demokratie, Rechtsstaat und mit sozialen Rechten funktioniert. Aber diese Systemfrage unserer Zeit ist noch nicht für alle abschließend beantwortet. In der globalisierten Welt aufstrebender Volkswirtschaften müssen Europa und der Westen auch ökonomisch eine Erfolgsgemeinschaft bleiben: Ohne wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wird die Besinnung auf Werte nicht reichen, werden wir andere nicht überzeugen.

Trotzdem: Auf unsere Werte müssen wir uns immer wieder besinnen. Wir müssen schon versuchen, unseren Ansprüchen auch selbst immer besser gerecht zu werden.

Der Historiker Heinrich August Winkler hat einmal gesagt: Die europäisch-westliche Wertegemeinschaft zeichne sich gerade durch das wache Bewusstsein dafür aus, den eigenen Werten und Ideen schmerzlich oft nicht völlig gerecht zu werden – und dadurch, darum zu ringen, sich zu korrigieren, den Anspruch an andere und an sich selbst immer stärker zur Deckung zu bringen.

Gerade wir Christen wissen, dass wir nicht immer so sind, nicht immer so handeln, wie wir es nach der Bergpredigt sollten. Aber im Grunde wissen wir meist ganz gut, was uns eigentlich zu tun gut anstünde. Auch ein schlechtes Gewissen ist ein Zeichen für eine Wertegemeinschaft.

Und vielleicht können wir Christen gerade deswegen, im Wissen um unsere eigene Fehlbarkeit und Unvollkommenheit, uns besonders gut der Unvollkommenheit der Welt stellen.

Wir Menschen sind hier nur für die vorletzten Dinge zuständig. Dieses christliche Wissen um die Begrenztheiten und Vorläufigkeiten des menschlichen Lebens ist eine gute Grundlage für realistisches Handeln, auch für eine unideologische, pragmatische, menschenwürdige Politik.

Im Grunde geht es um Demut und Respekt: um Haltungen, die Politik bescheidener, und gerade deshalb vielleicht tragfähiger und nachhaltiger machen. Politik, so verstanden, ob national oder in Europa, versucht, im notwendig Unvollkommenen doch etwas Gutes zu schaffen: Schritt für Schritt, Irrtümer begehend und korrigierend, vorsichtig tastend, ohne zu große Schneisen zu schlagen, ohne zu große Sprünge zu tun und ohne alles auf eine einzige Karte zu setzen.

Das hat auch mit Friedrich August von Hayeks Warnung vor der „Anmaßung von Wissen“ zu tun oder mit Karl Poppers Methode von „trial and error“, nach der sich freiheitliche, offene Gesellschaften bewegen.

So habe ich jedenfalls Politik immer verstanden. Herzlichen Dank!