BILD am SONNTAG (BamS): Herr Minister Schäuble, Ende des Monats steht die christlich-liberale Koalition vor ihrer bislang größten Bewährungsprobe, der Abstimmung über die Ausweitung des Euro [Glossar]-Rettungsschirms. Kann die Regierung daran zerbrechen?
SCHÄUBLE: Die Mehrheit im Bundestag für die Ausweitung des Rettungsschirms ist so eindeutig, dass die Abstimmung darüber völlig unspannend sein wird. Aber die paar Kollegen, die Schwierigkeiten haben, dem Rettungsschirm zuzustimmen, bekommen in den Medien gegenwärtig eine unangemessen hohe Aufmerksamkeit.
(BamS): Die Mehrheit ist ja schon deshalb nicht in Gefahr, weil SPD und Grüne auch zustimmen wollen. Wird die Koalition aber eine eigene, davon unabhängige Mehrheit stemmen?
SCHÄUBLE: Union und FDP verfügen über eine hinreichend große Mehrheit, um es auch ohne Stimmen aus der Opposition zu schaffen. Aber selbst wenn es anders kommt, wäre das nicht sonderlich aufregend. Denn bei Abstimmungen mit einer so großen Mehrheit ist die Disziplin nicht so stark ausgeprägt.
(BamS): Warum ist der Euro, von dem angeblich Frieden und Wohlstand in Europa abhängen, keine Gewissensfrage?
SCHÄUBLE: Was eine Gewissensfrage ist, bestimmt jeder Abgeordnete für sich selbst. Diese Entscheidung kann mir als Abgeordnetem niemand abnehmen. Ich begrüße es, dass die Abgeordneten sich ihre Entscheidung nicht leicht machen. Die Kolleginnen und Kollegen im Bundestag nehmen ihre Aufgaben sehr ernst und kümmern sich intensiv um die anstehenden Fragen.
(BamS): In der FDP werden derzeit Unterschriften gesammelt, um eine Zustimmung der Liberalen zu verhindern – ein einmaliger Vorgang. Beunruhigt Sie das gar nicht?
SCHÄUBLE: Die FDP ist eine Partei, die seit Langem ganz stark von europäischem Engagement geprägt ist. Aber nun gibt es in der Öffentlichkeit eine intensive Debatte, die niemanden, auch keine Regierungspartei, unbeeindruckt lässt. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die FDP sich durch einen Mitgliederentscheid auf einen euroskeptischen Kurs bringen ließe, selbst wenn einige dort das zu wollen scheinen. Genauso wenig wie ich mir vorstellen könnte, wie man mit einer grundsätzlich euroskeptischen Partei eine Koalition bilden könnte. Aber das ist eine ganz grundsätzliche Betrachtung, denn ich bin bei der FDP und ihrem Vorsitzenden Philipp Rösler ganz unbesorgt, denn sie ist eine durch und durch pro-europäische Partei.
(BamS): Was hat Ihr Kollege Rösler eigentlich so Schlimmes getan, dass alle über ihn schimpfen?
SCHÄUBLE: Ich erinnere mich nicht, über Philipp Rösler geschimpft zu haben. Richtig ist aber, dass angesichts der verrückten Nervosität an den Finanzmärkten [Glossar] jede Äußerung neue Unruhe schaffen kann. Deshalb rate ich uns allen zur Zurückhaltung bei öffentlichen Äußerungen, um die Unruhe nicht weiter zu schüren.
(BamS): Sie selbst haben im Bundestag erklärt, dass Griechenland keine weiteren Hilfszahlungen erhalten wird, wenn es die Sparauflagen nicht erfüllt Nach allem, was man weiß, sind die Griechen dann in wenigen Wochen zahlungsunfähig. Das wäre eine ungeordnete Insolvenz [Glossar] . . .
SCHÄUBLE: Ich habe im Bundestag nur die dem Kredit an die Griechen zugrunde liegende Rechtslage geschildert: Die Auszahlungen an Griechenland sind an klare Bedingungen geknüpft. Sie sollen sicherstellen, dass es sich um eine Hilfe zur Selbsthilfe handelt, dass Griechenland eines Tages seine Schuldenprobleme in den Griff bekommt. Niemand sollte sich Illusionen machen: Ohne eine positive Feststellung der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF), dass Griechenland seinen Verpflichtungen nachkommt, kann die nächste Tranche nicht ausgezahlt werden. Griechenland hat nun eine neue Steuer [Glossar] beschlossen, die als Sonderumlage auf alle Immobilienbesitzer noch in diesem Jahr erhoben werden soll. Wir werden sehen, ob das funktioniert.
(BamS): Was bedeutet es, wenn die Regierung in Athen im Oktober die Hände heben muss?
SCHÄUBLE: Zurückhaltung bedeutet auch, nicht immer auf alle Fragen zu antworten.
(BamS): Wenn ich der griechische Finanzminister wäre und Ihnen so zuhören könnte, dann würde ich mich entspannen und sagen: Die Drohung mit dem Zahlungsstopp meinen die Deutschen nicht ernst, es wird schon ein Weg für weitere Zahlungen gefunden . . .
SCHÄUBLE: Der griechische Finanzminister kennt den deutschen Finanzminister ganz gut und weiß, dass auf sein Wort Verlass ist. Und deswegen hat es bei allen Kollegen eine starke Wirkung gehabt, dass der deutsche Finanzminister ruhig und unaufgeregt erklärt hat: Solange die Troika-Mission nicht bestätigen kann, dass die Voraussetzungen für die nächste Tranche erfüllt sind, wird sie nicht ausbezahlt. Deshalb müssen die Griechen Zahlen vorweisen können, die belegen, dass sie im Plan sind.
(BamS): Die FDP-Führung begründet ihren Vorstoß in Sachen Griechenland-Pleite damit, dass die Diskussion endlich „ehrlich“ geführt werden müsse, und dass zu lange geschwiegen und weggesehen worden sei. Haben diese Regierung und ihre Vorgängerinnen den Bürgern systematisch Sand in die Augen gestreut, die Probleme mit dem Euro verharmlost?
SCHÄUBLE: Ach, Unfug! Richtig ist, dass die Griechen ihre Statistiken ein paar Mal korrigieren mussten. Zum Teil war dies den mangelnden Strukturen geschuldet, zum Teil müssen Statistiken grundsätzlich immer mal wieder korrigiert werden, ja, zum Teil nahm man es offensichtlich auch mit den Zahlen nicht so genau. Aber niemand in der Regierung hat den Bürgern Sand in die Augen gestreut oder diese gar bewusst getäuscht. Die gemeinsame Währung ist von immensem Vorteil für Deutschland. Und deshalb verschwenden wir nicht das Geld der Steuerzahler, sondern nehmen unsere Verantwortung für die Zukunft dieses Landes wahr.
(BamS): Ganz offenkundig setzt die neue FDP-Führung darauf, mit einem eurokritischen Kurs wieder mehr Zustimmung zu erhalten. Glauben Sie, dass sie damit Erfolg haben kann?
SCHÄUBLE: FDP-Chef Rösler hat gesagt, dass die FDP eine pro-europäische Partei war, ist und immer bleiben wird. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.
(BamS): Rösler hat aber auch offensiv eine Insolvenz Griechenlands ins Spiel gebracht und erklärt, es dürfe keine Denkverbote mehr geben.
SCHÄUBLE: Was Philipp Rösler fordert, gehört zu den Grundrechten: Wo Meinungsfreiheit herrscht, gibt es natürlich auch Denkfreiheit. Denkverbote sind zutiefst freiheitswidrig. Aber das Gegenteil von Denkverboten sind nicht unbedingt Redegebote.
(BamS): Die CSU bringt einen Ausstieg Griechenlands aus dem Euro offensiv ins Gespräch. Hat auch die Schwesterpartei nicht verstanden, wie ernst die Lage ist?
SCHÄUBLE: Die CSU hat gesagt, dass es für ein Mitgliedsland der Eurozone [Glossar] auch die Möglichkeit geben muss, wieder auszutreten. Das ist in den Verträgen bisher nicht vorgesehen. Die Mitgliedschaft in einer Währungsunion ist Chance, aber auch schwere Bürde. Die Anpassungsmaßnahmen sind sehr hart. Die Griechen müssen wissen, ob sie diese Last auf ihren Schultern tragen wollen.
(BamS): Angela Merkels Machtwort, mit dem sie die Debatte über eine Pleite Griechenlands beenden wollte, ist bei beiden Koalitionspartnern ungehört verhallt . . .
SCHÄUBLE: Das belustigt mich nun. Angela Merkel hat kein Machtwort gesprochen. Das würde sie auch nie tun, denn in der Demokratie geht es nicht nach Befehl und Gehorsam. Diese Zeiten sind in Deutschland Gott sei Dank vorbei.
(BamS): Dann lassen Sie uns sagen: Ihr Wunsch nach einem Ende der Debatte wurde von beiden Koalitionspartnern ignoriert. Zur Begründung hieß es in der FDP, man lasse sich keinen Maulkorb verpassen. Erleben wir eine Kanzlerinnen-Dämmerung?
SCHÄUBLE: Überhaupt nicht! Die ganz große Mehrheit in der Koalition denkt wie die Bundeskanzlerin. Es halten sich aber leider nicht alle daran. Das sorgt für Verunsicherung. Deshalb würde Angela Merkel den Satz unterschreiben, dass es zwischen Denkverboten und Redegeboten eine Grenze gibt, die alle berücksichtigen sollten.
(BamS): Deutschland hat für den Euro eine besondere Verantwortung. Wann wird die Bundesregierung beim Euro wieder mit einer Stimme sprechen und politische Führung in Europa glaubwürdig übernehmen?
SCHÄUBLE: Innerhalb der Richtlinien der Bundeskanzlerin ist der Finanzminister für den Euro zuständig. Zwischen mir und Angela Merkel gibt es in dieser Frage keinerlei Differenzen. Deshalb spricht die Regierung beim Thema Euro sehr mit einer Stimme. Das weiß ich genau, weil ich der Finanzminister bin. Dass viele andere auch reden, kann ich nicht ändern.
(BamS): Soll heißen: Der Rösler kann reden, was er will?
SCHÄUBLE: In der Demokratie besteht Redefreiheit. Aber zuständig für die Finanzpolitik[Glossar] ist innerhalb der Bundesregierung der Finanzminister.
(BamS): Trotzdem haben viele Bürger den Eindruck, die Politik wird zunehmend von den Finanzmärkten getrieben und nicht umgekehrt . . .
SCHÄUBLE: Es muss klar sein, dass die Politik die Rahmenbedingungen bestimmt und nicht die Finanzmärkte. Deshalb muss die Politik jetzt auch handeln und die Regulierung der Finanzmärkte schneller voranbringen: Das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen war erst der Anfang unserer Maßnahmen. Wir werden noch in diesem Herbst eine Finanztransaktionssteuer auf den Weg bringen. Nach meiner eigenen Überzeugung notfalls auch nur in der Eurozone. Und wir müssen überlegen, den Finanzsektor jenseits der Banken – also Hedgefonds und Private Equity [Glossar] – stärker und schneller zu regulieren und mehr Transparenz zu schaffen. Dies gilt auch für die Vielzahl der modernen hochspekulativen Finanzprodukte. Es muss jetzt schneller vorangehen. Wir dürfen nicht den Eindruck entstehen lassen, als ob wir von den Märkten getrieben wären. Denn eins ist klar: Die Politik ist Herr des Verfahrens und nicht die Märkte.
(BamS): Herr Schäuble, Sie feiern am heutigen Sonntag Ihren 69. Geburtstag. Was wünschen Sie sich?
SCHÄUBLE: Gesundheit. Ich habe 2010 ein schwieriges Jahr gehabt, dieses Jahr geht es mir sehr viel besser. Politisch wünsche ich mir, dass die Menschen daran glauben, dass es uns gelingt, die europäische Einigung so voranzubringen, dass sie der beste politische Anker für unsere Zukunft ist. Es schmerzt einen, wenn man das Gefühl hat, die Menschen verstehen nicht mehr, was wir in der Politik machen. Und bei allen Sorgen sollten wir wirklich nicht vergessen, dass es uns gemessen an früheren Zeiten – eigentlich ziemlich gut geht.
Von Michael Backhaus und Roman Eichinger.
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