(Es gilt das gesprochene Wort.)
Es gibt Menschen in unserem Land, die das Thema Vertreibung am liebsten totschweigen würden. Sie kommen mir vor wie der fehlgeleitete Mann, den der Kommunikationsexperte Paul Watzlawick in seinem Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschrieben hat. Dieser Mann klatscht alle zehn Sekunden in die Hände. Zur Frage, warum er das mache, erklärt er: „Um die Elefanten zu verscheuchen.“ Auf den Hinweis, es gebe hier doch gar keine Elefanten, antwortet der Mann: „Na, also! Sehen Sie?“ Was ich damit sagen will, ist: Verdrängen hilft nicht weiter, hier nicht und auch nicht anderswo.
Die Erinnerung an die Vertreibungen geht auf deutscher Seite nicht einher mit einer Relativierung eigener Schuld. Wir vergessen die Geschichte nicht, und wir haben aus ihr gelernt. Wir wissen um die Verantwortung unseres Landes, die aus den unvorstellbaren Verbrechen der Nationalsozialisten folgt. Aber wir vergessen und verschweigen auch nicht das Unrecht der Vertreibung und das Leid der Vertriebenen. Eine reflexartige Ablehnung des Themas würde die notwendige Auseinandersetzung damit verweigern. Wer sich dieser Auseinandersetzung nicht stellt, verweigert auch die Anerkennung der Lebensleistung der Vertriebenen in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR. Der enorme Beitrag der Vertriebenen für unser Land wird erst vor dem dunklen Hintergrund des Geschehenen, Erlittenen voll erfassbar. Die Vertriebenenverbände haben beharrlich dafür gekämpft, dass das erlittene Unrecht ebenso wie die späteren Leistungen der Vertriebenen respektiert und anerkannt werden. Diese Arbeit war und ist notwendig, sie ist segensreich und sie hat viele Früchte getragen.
Viele haben Bilder im Kopf, die man nicht vergessen kann und die nicht loslassen: Demütigungen und Beschimpfungen, Plünderungen, Verschleppungen und Zwangsarbeit, Racheorgien der Sieger, Vergewaltigungen, Erschießungen, überstürzte Flucht auf Pferdewagen, im Güterwaggon oder Hunderte von Kilometern zu Fuß. Bis zu 2 Millionen starben auf der Flucht. Unter den mehr als 14 Millionen Vertriebenen waren rund 3 Millionen Sudetendeutsche, die ihre Heimat verloren und die Lebensgrundlage, die sie sich dort aufgebaut hatten.
Die Ankunft der Vertriebenen in Deutschland war angesichts des großen Mangels an Nahrung und Wohnraum entbehrungsreich. In manchen Sammellagern betrug die Tagesration eines Erwachsenen nicht mehr als drei Scheiben Schwarzbrot, einen Viertelliter dünnen Kaffee, einen halben Liter Suppe und einem Viertelliter Kräutertee. Zweieinhalb Quadratmeter Wohnraum pro Person waren nicht selten. Auch wurden die Vertriebenen vielerorts nicht mit offenen Armen empfangen, sondern eher mit Misstrauen, zum Teil auch mit Missgunst. In dieser explosiven Situation hätten leicht Parallelgesellschaften oder auch offene Konflikte entstehen können. Aber es ist zum Glück nicht so gekommen, und das ist wesentlich den Vertriebenen, ihrer Leistungs- und Integrationsbereitschaft zu verdanken.
All das gehört zur Gesamtheit der Erfahrungen, die wir Deutsche im 20. Jahrhundert gemacht haben, sie sind Teil unserer heutigen Identität. Es ist in den letzten Jahrzehnten oft nicht einfach gewesen, sich mit dem Schicksal von Flucht und Vertreibung zu beschäftigen. Es gab und gibt Vorurteile und alte Wunden, die noch nicht verheilt sind, vielleicht nie ganz heilen können. Aber wir müssen die Erinnerung an Flucht und Vertreibung wach halten, nicht nur für uns selbst, sondern auch für eine wirkliche Versöhnung zwischen uns und den Menschen in den Ländern, in denen die Vertreibungen passiert sind.
Die Gründung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist Ausdruck einer zwar langsamen, oft mühsamen, aber im Ganzen doch gelingenden Annäherung. Sie schafft die Grundlage, um der Flucht und Vertreibung der heimatvertriebenen Deutschen an einer zentralen Stätte zu gedenken. Damit wird ein lang gehegter Wunsch der Vertriebenen Wirklichkeit. Die vorgesehene Ausstellungs- und Dokumentationsstelle wird einen bleibenden, würdigen Erinnerungsort für Flucht, Vertreibung und Versöhnung in unserer Hauptstadt schaffen. Er wird die junge Generation über das Jahrhundert der Vertreibungen informieren können und er wird dazu beitragen, das Bewusstsein für die Erlebnisse der Betroffenen lebendig zu halten. Das gibt Grund zur Freude.
Es ist nicht der einzige Grund zur Freude, den wir haben: Wir feiern dieses und nächstes Jahr die beiden großen Glücksfälle in der Geschichte der Bundesrepublik: 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre Friedliche Revolution. Das Grundgesetz hat unserer Ordnung eine stabile, konsensfähige freiheitliche Grundlage gegeben. Die Friedliche Revolution in der DDR hat die Einheit unseres Volkes in Freiheit bewirkt. Voraussetzung für dieses Gelingen war, dass wir diesen Weg über all die Jahre nicht gegen, sondern mit der internationalen Staatengemeinschaft gegangen sind.
Daran haben die Vertriebenen großen Anteil. Nach dem Krieg mussten sie Außerordentliches leisten. Sie haben Deutschland mit Kraft und Zuversicht wieder mit aufgebaut, und wir bräuchten auch heute wieder mehr von dieser Kraft und Zuversicht. Sie haben die Freiheitsordnung des Grundgesetzes schnell angenommen. Mit der „Charta der Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950 haben Sie einen Grundstein unserer Demokratie gelegt. Von Anfang an haben Sie am Zusammenwachsen Europas mitgewirkt. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Bundesregierung recht herzlich. Sie können stolz auf Ihren Beitrag sein, gerade heute, an dem Tag, an dem sich der erste Sudetendeutsche Tag zum 60. Mal jährt.
Das Grundgesetz hat sich in den letzten 60 Jahren bewährt, gerade im Prozess der deutschen Einigung. Am Ende war für die Deutsche Einheit die außenpolitische Dimension entscheidend: Die Sowjetunion musste zustimmen. Auch in Europa galt es, viele Länder erst davon zu überzeugen, dass ein größeres Deutschland keine Bedrohung sein würde. Dass diese Länder schließlich einwilligten, war nur möglich, weil die Versöhnungsarbeit in Europa weit genug fortgeschritten war und ein großes Maß an Vertrauen auf allen Seiten sich hatte festigen können. Dazu haben die Vertriebenen und die Vertriebenenverbände maßgeblich beigetragen. Dank der Versöhnungsbereitschaft auch der Sudetendeutschen, dank der vielen Kontakte, die Sie zu Ihrer alten Heimat geknüpft und über die Jahre aufrecht erhalten haben, leben wir heute in einem vereinten Deutschland und in einem zusammenwachsenden Europa. Das alles sind auch Ihre Verdienste.
Deutschland und Tschechien sind heute Partner in der Europäischen Union. Damit ist ein wichtiger Teil der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 Wirklichkeit geworden. Uns verbindet mehr als ein gemeinsamer Markt und Handelsbeziehungen. Uns verbinden unzählige menschliche Beziehungen, die gerade die Heimatvertriebenen geknüpft haben und pflegen. Als Nachbarn müssen wir das offene Gespräch über die Vergangenheit suchen, gleichzeitigmüssen wir beherzt nach vorne blicken und das Ziel, die Aussöhnung in Frieden, im Auge behalten.
Der 60. Sudetendeutsche Tag steht unter dem Motto: „Der Geschichte verpflichtet – die Zukunft gestalten“. Wir können Zukunft nur gestalten, wenn wir wissen, wo wir herkommen. Wir können Zukunft nur gemeinsam gestalten, wenn wir uns darüber verständigen, was uns in der Vergangenheit getrennt hat.
Wir alle wissen: Leid und Unrecht kann man nicht ungeschehen machen. Man kann sie auch nicht gegenseitig aufrechnen. Aber Leid und Unrecht sind besser erträglich, wenn sie als solche benannt werden. Die gemeinsame Geschichte des deutschen und des tschechischen Volkes ist reich an Tragödien. Umso eindrucksvoller ist die Versöhnungsleistung auf beiden Seiten. Diesen Weg müssen wir weiter gehen, auch wenn er an einzelnen Stellen steinig sein mag. Kardinal Miloslav Vlk sagte anlässlich der diesjährigen Verleihung der Versöhnungsmedaille der Ackermann-Gemeinde an ihn: „Der Hass ist ein Teufelskreis, der sich nur mit der Versöhnung durchbrechen lässt. Es gibt keinen anderen Weg.“
Die Sudetendeutschen haben einen wichtigen Beitrag geleistet, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein, dessen langjährigen Einsatz Sie heute würdigen, sagte auf seiner Rede beim letzten Sudetendeutschen Tag 2008 in Nürnberg völlig zu recht: „Alle sind aktiv und im Dialog mit ihren tschechischen Partnern. Das sind klare Zeichen: Wir wollen ins Gespräch kommen, wir wollen Brücken bauen, wir wollen Verständigung.“
Die 1946 gegründete Ackermann-Gemeinde hat sich schon während des Kalten Krieges für eine deutsch-tschechische Versöhnung auf christlicher Grundlage eingesetzt. Bereits seit zehn Jahren hat sie eine tschechische Schwestergesellschaft, die Sdružení-Ackermann-Gemeinde. Hervorheben möchte ich unter anderem auch das große Engagement der Seeliger-Gemeinde, des Sudetendeutschen Rates, der Sudetendeutschen Stiftung, der Landsmannschaft, des Adalbert-Stifter-Vereins, des Collegiums Carolinum, der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften. Auch das Sudetendeutsche Bildungswerk hat mit seinen Einrichtungen Der Heiligenhof in Bad Kissingen und Burg Hohenberg an der Eger sowie durch die Akademie Mitteleuropa wertvolle Verständigungsarbeit geleistet.
Neben der Verständigung mit anderen haben Sie sich immer auch der Bewahrung des Eigenen verschrieben: Sie erhalten Ihre Traditionen und Ihre Kultur für sich, Ihre Kinder und für uns alle. Sowohl in der Bundesrepublik, als auch in der Tschechischen Republik pflegen Sie Ihr Brauchtum. Die Sudetendeutschen haben über mehrere Jahrhunderte in Böhmen und Mähren unzählige Spuren hinterlassen. Viele dieser Spuren konnten durch Ihr ehrenamtliches Engagement und Ihre finanzielle Unterstützung wieder freigelegt werden.
Allen Angehörigen der sudetendeutschen Landsmannschaft und den unzähligen Helfern möchte ich an dieser Stelle für Ihren unermüdlichen Einsatz danken. Mit Ihrem Engagement, mit Ihrer Jugendarbeit, mit Ihren Begegnungsstätten erhalten Sie einen glanzvollen Teil deutscher Kultur lebendig.
Ich wünsche Ihnen und uns allen eine fruchtbare Zukunft in Frieden und Vielfalt, in der wir ebenso ehrlich wie umsichtig miteinander umgehen und so auf unserem Weg gemeinsam vorankommen.