20 Jahre Deutsche Einheit – ein erfolgreicher, nicht abgeschlossener Prozess



Beitrag von Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble im Handelsblatt

Als ich am 31. August 1990 gegen 12.30 Uhr das Kronprinzenpalais in Ost-Berlin zur Unterzeichnung des Einigungsvertrages betrat, musste ich daran denken, dass ich zwei Jahre zuvor das letzte Mal in diesem Gebäude war; anlässlich eines Treffens mit dem damaligen DDR-Außenminister Oskar Fischer.

Mit ihm hatte ich verabredet, dass DDR und Bundesrepublik Verhandlungen über den Abbau der Elbverschmutzung aufnehmen, ohne uns in der jahrzehntelangen Streitfrage des Grenzverlaufs an der Elbe einigen zu können. Nun, gerade einmal zwei Jahre später, betrat ich eben dieses Gebäude und hatte in meiner Tasche den fertig ausgehandelten und zur Unterschrift reifen Einigungsvertrag. Die Frage des Grenzverlaufs war nun obsolet. Mir wurde in diesem Moment – wie immer wieder in den Monaten zuvor –bewusst, dass wir den größten Glücksfall der Deutschen Geschichte erleben durften: Die Einheit der Deutschen in Frieden und Freiheit.

Dies alles ist nun über 20 Jahre her, und es ist wichtig, dass wir dieser historischen Ereignisse gedenken. Der Blick in die Vergangenheit hilft uns bei der Verortung der eigenen Gegenwart, er bietet Orientierung, lässt uns einen Moment innehalten und Abstand zum Betrieb des Alltags gewinnen. Dies alles sind unabdingbare Voraussetzungen für eine besonnene und tragfähige Gestaltung der Zukunft – sowohl mit Blick auf die Deutschen Einheit als auch auf die Europäische Integration. Beide sind nie vollendet, sie sind fortwährende Prozesse.

Es waren schwierige und komplizierte Verhandlungen, die wir als Bundesregierung und ich als Mitglied dieser Bundesregierung zu führen hatten, um das Ziel der Einheit zur erreichen. Wir konnten auf kein Strategiepapier, auf kein Patentrezept zurückgreifen, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Gewiss sind auch Fehler passiert, daran gibt es keinen Zweifel. Dennoch gebietet es die intellektuelle Redlichkeit, die Entscheidungen aus der Zeit heraus zu bewerten. Wir haben das große Ziel erreicht, und wir können stolz darauf sein.

Zu den Besonderheiten damals gehörte, dass die Politik mindestens so sehr von den aktuellen Ereignissen getrieben war wie sie sie gestaltete. Zum einen legte die Entwicklung in der Sowjetunion nahe, dass sich für eine friedliche Einheit nur ein kurzes Zeitfenster bot. Hätten wir damals gezögert, hätten wir die Chance der Einheit verspielt. Zeitgleich riss der Strom der Übersiedler nicht ab. Wir wussten, immer mehr Menschen würden „mit den Füßen“ abstimmen, wenn wir Ihnen nicht ermöglichten, im vereinigten Deutschland zu leben, ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu führen.

Was die wirtschaftliche Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung und den Aufbau Ost betrifft, so wurde oft diskutiert, ob man nicht wenigstens den wirtschaftlichen Anpassungsprozess langsam und schrittweise hätte vollziehen können. Um es vorwegzunehmen: Ich habe dies nie für eine realistische Alternative gehalten. Nach über 40 Jahren zentraler Verwaltungswirtschaft befand sich die Volkswirtschaft Ostdeutschlands im Herbst 1990 in einem desaströsen Zustand.

Sie war geprägt von strukturellen Verwerfungen sowie dem Fehlen eines leistungsfähigen Mittelstandes. Ein stark überalterter Kapitalstock, der Mangel an international marktfähigen Produkten sowie eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit waren wesentliche Ursachen für eine insgesamt niedrige gesamtwirtschaftliche Produktivität. Nicht zuletzt belastete eine desolate, seit Jahren vernachlässigte Infrastruktur sowie exorbitant hohe Umweltschäden die volkswirtschaftliche Entwicklung. Angesichts dieser Ausgangslage und dem Wegbrechen der Absatzmöglichkeiten in den übrigen RGW-Staaten war ein Modernisierungsschock unvermeidlich.

Natürlich rührte die anfängliche Unzufriedenheit einiger mit dem Aufbau Ost auch daher, dass die Probleme der Zusammenführung beider Staaten und beider Volkswirtschaften zu Beginn des Prozesses unterschätzt wurden. Allein die Bilanz der Treuhand verdeutlicht, dass die Vorstellungen, die 1990 in Politik und Öffentlichkeit in beiden Teilen Deutschlands über den Zustand der DDR-Wirtschaft herrschten, unrealistisch waren. Noch im Oktober 1990 rechnete man mit Privatisierungserlösen der Treuhand in Höhe von rund 600 Milliarden DM. Tatsächliche wies die Treuhand am Ende ein Defizit [Glossar] von 230 Milliarden DM aus.

Erst wenn man sich diese durch und durch desolate wirtschaftliche Ausgangslage klar macht, wird deutlich, was in den letzten beiden Jahrzehnten bereits erreicht wurde. Mit aktiver Unterstützung von Bund, Ländern, der EU, dank der auch finanziellen Solidarität aller Deutschen und durch die konsequente Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt [Glossar] ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen, eine eindrucksvolle Transformation hin zu einem modernen, leistungsstarken, marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem zu vollziehen.

Die Zahlen sprechen für sich: Das in den ostdeutschen Ländern je Einwohner erzeugteBruttoinlandsprodukt [Glossar] ist seit 1991 bis 2009 von 43 auf 73 Prozent des westdeutschen Niveaus gestiegen. Von 2005 bis 2009 ist die Zahl der Arbeitslosen in Ostdeutschland um rund eine halbe Million zurückgegangen. Dabei nimmt die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern stärker ab als in den alten Bundesländern.

Parallel dazu ist die Erwerbstätigenquote bis 2008 auf 68 Prozent gestiegen und liegt damit über dem Durchschnittsniveau der Europäischen Union. Sichtbar wird der Konvergenzprozess auch an verschiedenen anderen Indikatoren, wie am Zuwachs der Produktivität und dem wachsenden Anteil des Verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung. Mittlerweile gibt es in den Neuen Ländern fast ebenso viele Unternehmensgründungen pro 1.000 Einwohner wie in den alten Ländern.

Nicht zuletzt hat die schnelle Integration der ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger in die Sozialsysteme der Bundesrepublik einen wichtigen Beitrag zur inneren Einheit geleistet, denn damit wurden die Lebensleistungen der DDR-Bürger anerkannt. Durch die Übertragung des Rentenrechts stieg die monatlich verfügbare Eckrente eines Durchschnittsverdieners mit 45 Versicherungsjahren von 40,3 Prozent des Westniveaus am 1.Juli 1990 auf aktuell 88,7 Prozent.

All dies zeigt: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sind wir weiter vorangekommen, als viele Mitte der 90er Jahre erwartet hatten. Wie Marianne Birthler letztes Jahr bei einem Podiumsgespräch in der Paulskirche in Frankfurt a. M. anmerkte, sind viele auftretende Gegensätze im Grunde keine Ost-West-Gegensätze mehr. Die so genannte Mauer in den Köpfen verläuft demnach nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Menschen, die die Freiheit schätzen, und denen, die sie fürchten.

Hinzu tritt ein weiterer Effekt, der beim Blick auf den Stand der Deutschen Einheit gerne  übersehen wird: Wir leben in einer Zeit immer schnellerer und komplexerer Veränderungen – Veränderungen, die vielen Angst machen und für die man gerne einen Schuldigen bzw. eine möglichst monokausale Erklärung findet. Allzu oft muss hierfür die Wiedervereinigung herhalten, obwohl diese Veränderungen gar nichts mit West- und Ostdeutschland zu tun haben, sondern mit den rasanten Fortschritten in Wissenschaft und Technik, die unsere Gesellschaft im Zuge der Globalisierung [Glossar] verändern.

Ziel der Bundesregierung bleibt die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Mit dem bis 2019 laufenden Solidarpakt verfügen wir nicht nur über die finanziellen Mittel, um die verbleibenden strukturellen Herausforderungen zu bewältigen. Die Bereitschaft der bundesdeutschen Gesellschaft über einen langen Zeitraum – es sind dann 30 Jahre – große Anstrengungen für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu machen, zeigt, wie ernst es den Menschen in unserem Land ist, die Wunden von 40 Jahren Teilung und Diktatur zu heilen. Diese Bereitschaft ist entscheidend. Der innere, gesellschaftliche Zusammenhalt, das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit ist für das innere Zusammenwachsen Deutschlands mindestens genauso wichtig, wie die Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse. Beides sind Prozesse, die noch nicht abgeschlossen sind, vielleicht nie abgeschlossen sein werden, bei denen wir aber in zwanzig Jahren ein großes Stück vorangekommen sind.

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