Wir wollen nicht herrschen



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Gespräch mit dem Spiegel über die Euro-Rettung, seine Pläne für eine gemeinsame Wirtschaftsregierung und die ausländische Sorge vor einer deutschen Hegemonialmacht

SPIEGEL: Herr Schäuble, weltweit feiern Politiker und Wirtschaftsexperten den jüngsten EU-Gipfel als Erfolg. Ist der Euro [Glossar] jetzt gerettet?

Schäuble: Der Gipfel der vergangenen Woche hat uns ein gutes Stück vorangebracht. Es wird aber nicht das letzte Treffen zu diesem Thema gewesen sein. Es war ein weiterer wichtiger Schritt. Das scheint im Übrigen auch die erste Einschätzung der Märkte zu sein.

SPIEGEL: Wer deren Reaktion zum Maßstab macht, könnte auf die Idee kommen, alle Probleme seien gelöst.

Schäuble: Ich wiederhole, was die Kanzlerin dazu mehrfach gesagt hat. Es wird in diesem Prozess nicht die eine Lösung geben. Wir bauen an einer neuen institutionellen Architektur für die Euro-Zone, die mehr Europa und mehr Stabilität bedeutet. Wir müssen noch einen langen Weg gehen, bis alle Probleme gelöst sind. Aber die Chance, dass wir Erfolg haben werden, ist seit vergangener Woche größer geworden.

SPIEGEL: Da sind wir uns nicht so sicher. Wenn die Beschlüsse umgesetzt werden, sinkt die Schuldenquote Griechenlands gerade mal auf 120 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), genauso hoch wie im finanzschwachen Italien. Glauben Sie wirklich, dass die griechische Wirtschaft so wieder auf die Beine kommt?

Schäuble: Ja. Schuldentragfähigkeit ist dann gegeben, wenn Sie Zugang zum Markt haben. Und das hat Italien. Die Troika sagt uns, dass dies auch für Griechenland der Fall sein wird, wenn es diesen Schuldenstand erreicht und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert hat.

SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären.

Schäuble: Wenn Griechenland am Ende des Jahrzehnts eine Schuldenstandsquote von 120 Prozent des BIP erreicht hat, dann ist dies das Ergebnis einer umfangreichen Rückführung der Verschuldung. Durch Konsolidierung. Durch Wachstum. Durch Reformen. Das schafft Vertrauen. 120 Prozent sind aber nur eine Momentaufnahme, auch Griechenland darf dabei nicht stehen bleiben.

SPIEGEL: Das ist europäische Gipfel-Dialektik, aber keine Antwort auf unsere Frage. Glauben Sie im Ernst, dass Griechenland mit diesem Paket wieder wettbewerbsfähig werden kann?

Schäuble: Ja, denn das neue Programm wird auch umfassende Strukturreformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit enthalten.

SPIEGEL: Aber die Gipfel-Beschlüsse sorgen weder dafür, dass Athen seine Haushaltsprobleme in den Griff bekommt, noch stimulieren sie den Arbeitsmarkt [Glossar].

Schäuble: Warten Sie es ab! Sie vergessen die umfassenden Maßnahmen, die für und mit Griechenland ergriffen werden, angefangen bei der Unterstützung zur Umsetzung der Programme durch die Griechenland-Taskforce der Kommission und die Troika, die jetzt ja dauernd vor Ort sein wird, bis hin zu den EU-Mitteln, die für Griechenland bereitstehen. Klar ist aber auch: Die Probleme müssen in Griechenland bewältigt werden, nicht in Europa, aber mit der Hilfe Europas.

SPIEGEL: Möglicherweise erzeugen die Gipfel-Beschlüsse sogar neue Probleme. Länder wie Portugal oder Irland könnten versucht sein, ihre Probleme mit einem Schulden-Schnitt aus der Welt zu schaffen.

Schäuble: Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone – auch die von Portugal und Irland – haben einstimmig noch einmal klargemacht: Griechenland ist ein einzigartiger, ein besonderer Fall, der einer speziellen Lösung bedurfte. Griechenland wird im Gegenzug für die weitere und längere Hilfe durch die Mitglieder der Euro-Zone harte Maßnahmen ergreifen und sich auch eine sehr viel engere Aufsicht gefallen lassen müssen – man könnte auch sagen, dass es vorübergehend einen Teil seiner Souveränität abgeben wird. Ich glaube nicht, dass sich irgendein Land diese harten Maßnahmen wird antun wollen, es sei denn in der höchsten Not.

SPIEGEL: Nach den Gipfel-Beschlüssen sollen die privaten Gläubiger des Landes auf 50 Prozent ihrer Forderungen verzichten, und zwar freiwillig. Glauben Sie wirklich, dass das funktioniert?

Schäuble: Die Details müssen noch finalisiert werden, richtig. Aber die Pflöcke sind gesetzt. Dabei werden aber die privaten Gläubiger immer in Betracht ziehen, dass die Alternative zu einer Einigung die Nichteinigung ist, mit allen Konsequenzen, auch für die privaten Gläubiger.

SPIEGEL: Der Erfolg des Pakets hängt nun vom Wohlwollen der Banken ab. Was tun Sie, wenn die sich verweigern?

Schäuble: Wir haben immer erklärt, dass wir einen freiwilligen Schuldenschnitt vorziehen. Dazu gibt es eine feste Zusage des Weltbankenverbands IIF. Wir haben aber auch erklärt, dass ein weniger konsensualer Weg nicht ausgeschlossen ist.

SPIEGEL: Vor einigen Wochen haben Sie den Bundesbürgern versprochen, dass Deutschland bei der Euro-Rettung mit höchstens 211 Milliarden Euro dabei ist. Jetzt haben Sie dem Rettungsschirm einen so genannten Hebel hinzugefügt, der die Garantiesumme auf eine Billion Euro schraubt. Was stimmt denn nun?

Schäuble: Es stimmt, was ich gesagt habe. Erstens, Deutschlands Haftung ist auf 211, oder genauer 211,0459 Milliarden Euro begrenzt. Zweitens, wir verbessern die Wirksamkeit des EFSF-Rettungsschirms so, dass wir mit diesen Mitteln eine bessere Stabilisierungswirkung erreichen können.

SPIEGEL: Das klingt wie Zauberei.

Schäuble: Wenn wir Griechenland hundert Milliarden Euro zur Verfügung stellen wollen, garantieren die Euro-Staaten über die EFSF zum Beispiel 20 Milliarden Euro. Den Rest steuern private Gläubiger bei, die bei einem Ausfall der Griechenland-Schulden wiederum auf diese 20 Milliarden als eine Art Teilversicherung zurückgreifen können. So können wir mehr Hilfen ausreichen, ohne dass wir die EFSF-Haftung erhöhen.

SPIEGEL: Aber Sie unterschlagen, dass die Risiken für die Steuerzahler steigen. Die EFSF muss künftig immer als Erste zahlen, wenn etwas schief läuft.

Schäuble: Das Risiko steigt nicht notwendigerweise. Möglicherweise sinkt es sogar.

SPIEGEL: Klingt erst recht wie Zauberei . . .

Schäuble: … ist aber Ökonomie. Indem wir die Summe, die wir mit der EFSF abdecken können, mit Hilfe anderer Gläubiger auf bis zu eine Billion Euro erhöhen, steigern wir zugleich die Abwehrkraft der EFSF gegen mögliche Attacken von Spekulanten. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Haftungsfall überhaupt eintritt.

SPIEGEL: Ist der neue Billionenhebel denn groß genug, ein Land wie Italien zu retten, wenn es in Schieflage gerät?

Schäuble: Italien muss seine Hausaufgaben machen! Italien muss die Märkte davon überzeugen, dass es gewillt und entschlossen ist, die erforderlichen Reformen zügig anzugehen und umzusetzen. Die Frage des Rettungsschirms stellt sich für Italien nicht. Das weiß auch die italienische Regierung. Und Italien kann das auch bewältigen.

SPIEGEL: Das heißt im Umkehrschluss: Die Rettung des Euro hängt von der Vernunft der italienischen Regierung ab.

Schäuble: Die Rettung des Euro hängt davon ab, dass alle in Europa ihre Verantwortung wahrnehmen. Das heißt, wir helfen uns gegenseitig. Es heißt aber auch, die europäische Hilfe kann immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wir können die Probleme Italiens nicht in Deutschland lösen, sie müssen in Italien gelöst werden. Aber ich glaube, Sie stimmen mir zu, dass die Krise in ganz Europa dazu beigetragen hat, das Bewusstsein für eine Stabilitätskultur zu stärken.

SPIEGEL: Was muss Rom tun?

Schäuble: Es muss das tun, was die italienische Regierung gegenüber ihren europäischen Partnern zugesagt hat: das Haushaltsdefizit schnell und deutlich zurückführen, den Schuldenstand drücken und die Wachstumskräfte in der italienischen Wirtschaft stärken. Italien benötigt strukturelle Reformen am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen. Die europäischen Regierungen haben die Kollegen aus Italien sehr darin bestärkt, diesen Weg zu gehen.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Botschaft auch angekommen ist?

Schäuble: Italien hat seine Bereitschaft zu Reformen erklärt. Jetzt müssen sie umgesetzt werden. Das ist entscheidend. Ankündigungen allein helfen nicht.

SPIEGEL: Was passiert, wenn Italien seine Versprechen nicht einhält?

Schäuble: Dann werden die Märkte entsprechend reagieren. Italien hat einen hohen Finanzierungsbedarf. Das Land muss deshalb ein großes Interesse daran haben, dass seine Zinslast tragbar bleibt. Dazu muss es die Reformen umsetzen. Europa funktioniert durch Taten, nicht dadurch, dass sich alle gegenseitig versichern, dass sie gute Menschen sind.

SPIEGEL: Möglicherweise rechnet die Regierung in Rom eher damit, dass im Zweifelsfall dieEZB [Glossar] ihre Anleihen kauft.

Schäuble: In den Verträgen ist die unabhängige Rolle der EZB eindeutig festgelegt. Und die Regierungschefs haben genau deshalb in ihrem Gipfel-Kommunique bekräftigt, dass sie die Verträge kennen.

SPIEGEL: In Italien werden solche Hinweise von Ihnen und der Kanzlerin gern als teutonisches Diktat empfunden. Fürchten Sie nicht, dass Deutschland mit dieser Position in Europa zum Buhmann wird?

Schäuble: Nein. Wenn ich richtig informiert bin, kommen die gleichen Hinweise vom scheidenden französischen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, dem portugiesischen EU-Kommissionspräsidenten Jose Manuel Barroso und dem belgischen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy.

SPIEGEL: Sie können doch nicht bestreiten, dass die Beschlüsse der vergangenen Woche deutlich deutsche Züge tragen.

Schäuble: Es ist zwar schön, wenn auch der SPIEGEL mal anerkennt, dass die Bundesregierung gute Arbeit leistet …

SPIEGEL: … bitte sehr …

Schäuble: … aber wir kommen in Europa nicht weiter, wenn wir diese Debatte nach nationalen Gesichtspunkten führen. Es ist unstrittig, dass die Hauptursache der Krise die hohe Staatsverschuldung ist. Deshalb kann die Antwort auf die Krise nicht darin bestehen, die Verschuldung weiter zu erhöhen. Die Antwort auf die Krise kann nur in verstärkter Stabilitätspolitik bestehen.

Spiegel: Deutscher kann man es kaum ausdrücken. Ist die Bundesrepublik auf dem Weg zu einer europäischen Hegemonialmacht?

Schäuble: Unfug! Dass die europäische Einigung gelingt, liegt im existentiellen Interesse der Deutschen. Was gut ist für Europa, ist gut für Deutschland. Europa kann nicht nach dem Hegemonialprinzip gebaut werden. Wir wollen doch Europa nicht beherrschen, das ist doch Nonsens. Von uns als größtem Mitgliedstaat wird aber regelmäßig erwartet, dass wir im engen Schulterschluss mit Frankreich eine Führungsfunktion übernehmen. Denn nur wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, können oft schwierige Fragen gelöst werden.

SPIEGEL: Eine davon ist die Ausgestaltung der künftigen Wirtschaftsregierung, die in der Euro-Gruppe gebildet werden soll. Was schwebt Ihnen vor?

Schäuble: Bislang gibt es in der Euro-Zone nur eine gemeinsame Geld- und keine gemeinsame Finanzpolitik [Glossar]. Das ist das Problem, und das müssen wir Schritt für Schritt ändern. Wir müssen auf europäischer Ebene zu mehr Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit kommen. Dazu werden wir die europäischen Verträge ein Stück weit anpassen müssen.

SPIEGEL: Braucht die Euro-Zone denn einen Finanzminister, wie es der scheidende EZB-Präsident Trichet vorgeschlagen hat?

Schäuble: Nein. Ich folge da eher den Vorstellungen von Kommissionspräsident Barroso. Der Währungskommissar sollte künftig eine Stellung bekommen, die derjenigen des Wettbewerbskommissars entspricht. Danach würde der Währungskommissar künftig überwachen, ob die finanzpolitischen Vorgaben für die Euro-Zonen-Mitglieder auch eingehalten werden. Gibt es Verstöße, sollte er selbstverantwortlich Sanktionen verhängen dürfen, und zwar ohne dass ihm eine Mehrheit in der Kommission dabei widersprechen darf. Zugleich sollte der Europäische Gerichtshof die Möglichkeit erhalten, gegen Haushaltssünder vorzugehen.

SPIEGEL: Manche Euro-Mitglieder sehen die deutsch-französische Achse doch eher skeptisch. Können Sie das bestätigen?

Schäuble: Überhaupt nicht. Europa wartet oft geradezu auf gemeinsame Signale aus Berlin und Paris. Manchmal scheint das selbst mir übertrieben.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Schäuble: Bei manchen Ministerratssitzungen frage ich mich, weshalb soll ich immer als Erster reden. Es können ja auch mal die anderen anfangen, zumal mein Akzent im Englischen nicht der allerbeste ist.

SPIEGEL: Im Französischen fühlen Sie sich besser zu Hause, heißt es.

Schäuble: Das liegt vielleicht an der Nähe meiner badischen Heimat zu Frankreich. Aber Spaß beiseite, Deutschland hat als größte Volkswirtschaft des Kontinents eine besondere Verantwortung, dass wir in Europa zu gemeinsamen Ergebnissen kommen.

SPIEGEL: Herr Schäuble, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Christian Reiermann und Michael Sauga.

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