„Unsere Probleme werden kleiner“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit dem Focus

Focus: Herr Minister, war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Euro-Rettungsschirm ESM für Sie so etwas wie ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk?

Schäuble: Es war jedenfalls keine Überraschung für mich. Ich war sehr zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht so und nicht anders entscheiden würde.

Focus: Einige Auflagen müssen Sie aber doch noch erfüllen.

Schäuble: Da gibt es noch ein bisschen Verwirrung in der öffentlichen Debatte. Der Wortlaut des Vertrags und der entsprechenden Gesetze ist eindeutig, und das wurde vom Gericht bestätigt: Die mögliche Haftungshöchstgrenze des ESM liegt für Deutschland bei 190 Milliarden Euro. Das stellen wir jetzt noch einmal durch eine zusätzliche Erklärung gegenüber den anderen Euro-Staaten eindeutig klar, ebenso wie die Tatsache, dass die ESM-Mitarbeiter gegenüber dem Bundestag rechenschafts und auskunftspflichtig sind.

Focus: Der Bundespräsident hat schon unterschrieben. Wann kann der ESM starten?

Schäuble: So schnell wie möglich. Spätestens Anfang Oktober wird es so weit sein.

Focus: Erwarten Sie im Karlsruher Hauptsacheverfahren noch weitere Einschränkungen?

Schäuble: Nein, im Gegenteil. Ich bin den Klägern sogar dankbar. Denn nun hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass die Hoheit über den Haushalt eindeutig beim Bundestag liegt und dieser die mögliche Haftung sogar erhohen dürfte. Aber damit Sie mich jetzt nicht missverstehen: Ich habe nicht die Absicht, beim Bundestag eine höhere Summe zu beantragen.

Focus: Wir halten fest: Niemand hat die Absicht, den ESM aufzustocken.

Schäuble: Wenn Sie das in Anspielung an das berühmte Ulbricht-Zitat so formulieren, weiß ich, dass Sie eine böse Absicht haben. Deshalb ignoriere ich das mal.

Focus: Direkt gefragt: Reicht das Geld des ESM?

Schäuble: Der ESM kann bis zu 500 Milliarden Euro ausleihen. Diese Summe ist im Übrigen seit Mai 2010 unverändert. Sinn und Zweck der Rettungsschirme ist ja gerade, das Geld nicht wirklich zu brauchen. Ich gehe mal davon aus, dass unsere Probleme eher kleiner als größer werden.

Focus: Worauf gründet sich Ihr Optimismus?

Schäuble: Irland und Portugal sind auf gutem Weg. Spanien und Italien haben große Fortschritte gemacht. Die spanischen Banken müssen wir jetzt noch kapitalisieren. Das ist eingeleitet. Nur Griechenland ist ein Sonderfall. Aber wir gehen davon aus, dass wir das Vertrauen der Märkte Schritt für Schritt zurückgewinnen. Ich weiß, den Finanzmärkten geht das alles noch nicht schnell genug. Aber dann müssen sie eben warten.

Focus: Bis zum Sankt Nimmerleinstag beim aktuellen Zustand der Euro-Zone.

Schäuble: Diesen Eindruck teile ich überhaupt nicht. Wir haben unsere Entscheidungsstrukturen seit dem Ausbruch der Krise erheblich verbessert. Die Kommunikation könnte manchmal klarer sein. Widersprüchliche Debatten sind für Märkte schädlich. Aber sie sind unvermeidlich. Denn die Demokratie in Europa braucht eine breite Debatte, bevor entschieden wird. Diese Zeit, bis das Vertrauen in die Märkte wieder zurückkehrt, überbrücken wir mit dem Einsatz von Rettungsschirmen.

Focus: Das Ist weitweit einmalig. Eine Besonderheit der Euro-Zone.

Schäuble: Der Euro hat viele Vorteile – vor allem für Deutschland. Aber die gemeinsame Währung fordert auch mehr von den Mitgliedsstaaten. Fehlentwicklungen können nicht mehr durch Abwertungen korrigiert werden. Darauf müssen wir reagieren. Schließlich haben auch enorme Unterschiede im Zinsniveau ganz andere Auswirkungen als früher.

Focus: Früher mussten die Krisenländer bei steigenden Zinsen Reformen einleiten. Heute bekommen sie Hilfe.

Schäuble: Heute müssen sie Reformen durchführen und nicht nur einleiten, wenn sie Geld vom Rettungsschirm wollen. Diese werden zudem streng überwacht. Das Argument, dass auch früher hohe Zinsen gezahlt wurden, höre ich oft. Aber es zieht nicht.

Focus: Warum nicht?

Schäuble: Wenn ein Investor früher beispielsweise eine italienische Staatsanleihe über eine Million Lire erworben hat, gab es die zu einem Zinssatz von acht Prozent. Denn die Anleger haben gewusst, dass die Lire bei der Rückzahlung in zehn Jahren deutlich weniger wert sein wird. Deshalb haben sie den höheren Zins stets für das größere Abwertungsrisiko bekommen. Das gibt es aber nicht mehr. Deshalb belastet der Zinsdruck die wirtschaftliche Entwicklung in Italien oder Spanien heute wesentlich stärker als früher.

Focus: Das soll rechtfertigen, dass die EZB mit Anleihenkäufen den Zins drückt?

Schäuble: Die Geldpolitik darf nicht dazu missbraucht werden, Staatsfinanzierung zu betreiben. Auch nicht durch die Hintertür. Das wäre vom Mandat nicht gedeckt, und das musste dann der Europäische Gerichtshof klären. Dieser Fall ist aber eindeutig nicht gegeben. Die EZB hat immer und wird auch in Zukunft ihr Mandat strikt einhalten. Da bin ich mir sicher.

Focus: Wieso die Anleihenkäufe der EZB für Sie keine Staatsfinanzierung sind, müssen Sie uns bitte noch mal erklären.

Schäuble: Hier geht es um Anleienen, die schon auf dem Markt gehandelt werden. Diese sind kräftig unter Druck, weil über ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone spekuliert wird. Das drückt ihre Bewertung auf ein Niveau, das niedriger ist, als es der realen Situation entspricht. Dadurch werden die Bilanzen der Banken belastet, die diese Anleihen halten. Eine solche Entwicklung hat in Ländern wie Spanien und Italien unmittelbare Folgen für die Geldversorgung. Kredite werden knapp und teurer. Das bebindert das Wachstum in den Mitgliedsstaaten.

Die EZB hat die Verantwortung, das Finanzsystem mit genügend Liquidität auszustatten und dabei die Preisstabilität zu gewährleisten.

Focus: Anleihenkäufe können eine Inflation auslösen.

Schäuble: Aktuell gibt es aber keinerlei Anzeichen für Inflation. Da achtet die EZB peinlich drauf. Wenn etwa die Kreditversorgung der spanischen Wirtschaft auf Grund von Übertreibungen zu teuer ist, kann es ein legitimes Mittel der EZB sein, dafür kurzfristig am Sekundärmarkt zu intervenieren. Das ist ohne jeden Zweifel vom Mandat der EZB gedeckt.

Ob es klug ist, dass die EZB dafür Bedingungen formuliert, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.

Focus: An den Märkten ist der Eindruck entstanden, dass die EZB die Rettungsmittel grenzenlos aufstocken wird und so die Haftungsbeschränkung der deutschen Steuerzahler aushebeln kann.

Schäuble: Da wird jetzt aber sehr viel vermischt. Die Euro-Rettungsmittel gehören zum Thema Fiskalpolitik, also Staatsfinanzen. Die Instrumente der EZB dienen der Geldpolitik, also der Stabilität der Währung und der angemessenen Versorgung mit Geld. Natürlich ist die Bundesbank an der EZB und damit ihren Geschäften zu 27,1 Prozent beteiligt. Sie hat dafür auch höhere Rückstellungen gebildet, was übrigens die Gewinnabführungen an den Bundeshaushalt spürbar schmälert. Aber die EZB erwirbt mit den Staatsanleihen ja Vermögenswerte, mit denen sie Geld verdienen kann. Ich glaube nicht, dass die EZB schlechte Geschäfte macht. Sie hat natürlich das Risiko, aber im Zweifel verdient sie Geld.

Schäuble: Sie hat ja noch nicht einmal beim Schuldenschnitt in Griechenland Geld verloren.

Focus: Was macht Sie so sicher, dass die neuen Regeln des Fiskalpakts eingehalten werden?

Schäuble: Das europäische Regelwerk ist viel stringenter und durchsetzungsstärker geworden. Da haben wir große Fortschritte erzielt. Wir wollen jetzt, dass der Währungskommissar künftig die gleichen Eingriffsrechte haben soll wie der Wettbewerbskommissar, den die Unternehmen in Europa so fürchten. Das heißt, der Währungskommissar soll allein entscheiden können und nicht auf die Kommission der 27 warten müssen. Wenn ein Mitgliedsland, das im Defizitverfahren ist, einen mangelhaften Haushalt vorlegt, soll der Währungskommissar den Etatentwurf zurückweisen und Nachbesserungen verlangen können.

Focus: Aber die Staaten sträuben sich doch gegen Eingriffe aus Brüssel, wo sie nur können.

Schäuble: Die Dinge entwickeln sich doch unter dem Druck der Krise in die richtige Richtung. Wenn ich Ihnen vor zwei Jahren gesagt hätte, dass die Euro-Staaten eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbüd einführen würden, hätten Sie das nie geglaubt. Aber heute steht es genau so im Fiskal vertrag. Es ist unverkennbar:. Die Einstellung zum Schuldenmachen hat sich in ganz Europa nachhaltig verändert. Selbst Griechenland hat enorme Einsparmaßnahmen umgesetzt, auch wenn immer noch Verbesserungsbedarf besteht. Aber Irland und Portugal sind auf dem richtigen Weg, ebenso wie Spanien und Italien.

Focus: Drängen die Südeuropäer nicht letztlich auf eine Gemeinschaftshaftung für alle Schulden?

Schäuble: Solange in Europa nicht gemeinschaftlich über die Haushalte der Staaten entschieden wird, solange können wir auch keine Schulden vergemeinschaften. Wie Fehlanreize wirken, kann man in Deutschland am Länderfinanzausgleich studieren. Seit das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass ein Bundesland von den anderen Ländern und vom Bund vor einer Pleite bewahrt werden muss, fehlt der Zwang zur Konsolidierung. Das verändert sich erst jetzt durch die Schuldenbremse. In Europa dagegen gibt es Geld aus den Rettungsschirmen nur gegen strikte Bedingungen. Und wir werden auf die strenge Einhaltung der Auflagen achten.

Focus: Was sind die nächsten Schritte? Eine Volksabstimmung über die weitere Vertiefung Europas und ein europäischer Konvent?

Schäuble: Das sind zwei Ebenen, die man auseinanderhalten muss. Zunächst müssen die Regierungen alles tun, um die Vertrauenskrise zu überwinden. Wenn wir das geschafft haben, kann man weitere Schritte angehen. Das wird nicht heute oder morgen sein. Aber dazu gehört, erhebliche Teile der Haushaltspolitik auf europäische Institutionen zu übertragen. Dann würden eine europäische Regierung und ein europäisches Parlament entscheiden. Ein solcher Souveränitätstransfer wäre allerdings durch das Grundgesetz nicht mehr gedeckt. Deshalb gibt es den Artikel 146 in unserem Grundgesetz, der vorsieht, dass das deutsche Volk in freier Entscheidung eine andere Verfassung beschließen kann, wenn der Rahmen des Grundgesetzes überschritten wird. Aber eine solche Verfassungsänderung steht derzeit nicht an.

Focus: Können Sie sich In Deutschland eine Mehrheit für mehr Europa vorstellen?

Schäuble: Ohne Mehrheit verlieren Sie in einer Demokratie die Legitimation. Eine Garantie gibt es nicht. Aber wenn wir – was ich hoffe – zu einer substanziellen Veränderung der staatlichen Qualität Europas kommen wollen, bin ich zuversichtlich, dass wir mit den besseren Argumenten die Mehrheit überzeugen.

Focus: Sie werden an diesem Dienstag 70 Jahre alt. Warum wollen Sie angesichts der Strapazen Ihres Amtes In der Politik bleiben?

Schäuble: Zunächst einmal entscheiden die Parteifreunde in meinem Wahlkreis. Wenn die mich noch einmal wollen, bin ich bereit, wieder für den nächsten Bundestag 2013 zu kandidieren. Ob ich dann ein Mandat erhalte, liegt in der Hand der Wähler. Natürlich möchte ich gerne sehen, dass die Arbeit dieser erfolgreichen Bundesregierung fortgesetzt wird. Zugegeben: Der Anfang lief ein wenig unrund. Aber die Ergebnisse sprechen für sich.

Die Menschen vertrauen der Kanzlerin in dieser Krise, und darauf setze ich.

Focus: Was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie nicht mal mit 70 an die Rente denken?

Schäuble: Sie sagt, dass ich immer einen Grund finde weiterzumachen.

Focus: Was war die größte Herausforderung in Ihrem politischen Leben?

Schäuble: Ich glaube schon, dass das die Situation am 9. November 1989 war. Man hatte etwas geahnt, aber als die Mauer dann über Nacht wirklich fiel, wusste zunächst niemand, wie es weitergeht. Mir wurde dann schnell klar, dass diese Entwicklung zur Wiedervereinigung führt. Helmut Kohl hat diese historische Chance ergriffen. Aber wir haben uns auch immer voller Sorge gefragt, ob eine solche Revolution und Umwälzung ohne Blutvergießen geht. Das war eine riesige Herausforderung.

Focus: Größer als die Euro-Krise heute?

Schäuble: Sehen Sie doch einmal, wo unser Land 1945 gestanden hat und was die Menschen daraus gemacht haben und wie gut es uns heute geht. Man darf bei allen Schwierigkeiten die Maßstäbe nicht verlieren. Das Wichtigste ist es, den Mut zu behalten und dann auch zu entscheiden – gegebenenfalls muss man dann aus Fehlern lernen.

Focus: Der Euro könnte sich zum teuersten Fehler in der Geschichte entwickeln.

Schäuble: Unser wichtigstes Ziel muss es sein, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten zu verbessern. Zu große Unterschiede kann eine gemeinsame Währung auf Dauer nicht ertragen. Auch dieses kennen wir in Deutschland mit den Erfahrungen nach dem Fall der Mauer. Deswegen ist das für mich gar nicht so ganz neu. Ich kann hier auf mehr Erfahrungen zurückgreifen als manche Fmanzmarktexperten, weil ich ein bisschen Erfahrung darin habe, wie man zwei unterschiedliche Volkswirtschaften mit einer gemeinsamen Währung zusammenbringt.

Focus: Mit West-Ost-Transfers von 1,5 Billionen . . .

Schäuble: Na, wenn Sie sich die deutsche Teilung und Wiedervereinigung genau ansehen, müssen Sie doch zugeben: Es ist schon eher eine Erfolgsgeschichte als eine Katastrophe. Katastrophen in der deutschen Geschichte sehen anders aus. So ist das in der Politik. Sie müssen Entscheidungen treffen und diese konsequent umsetzen.

INTERVIEW: DANIEL GOFFAKT/FRANK THEWES

Alle Rechte: Focus