Streitgespräch mit Otmar Issing



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Streitgespräch mit Otmar Issing

Sie gehören zur selben Generation. Und sie schätzen einander sehr: Umso mehr wurmt Finanzminister Wolfgang Schäuble, dass Otmar Issing den Griechen die Drachme empfiehlt. Issing ist nicht irgendwer: Bis 2006 war er Chefökonom der Europäischen Zentralbank. Zum Streitgespräch trafen sich Wolfgang Schäuble und Otmar Issing in Berlin.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Herr Schäuble, Herr Issing, Sie verstehen sich beide als leidenschaftliche Europäer, vertreten aber in der Frage der Rettung Griechenlands diametral unterschiedliche Ansichten.

Schäuble: Ich teile viele Ansichten von Herrn Issing, aber ich glaube, wir sollten die Probleme der Eurozone [Glossar] lösen, ohne dass ein Land die Eurozone verlassen muss. Der Euro [Glossar] muss sich darin bewähren, dass alle Mitglieder der gemeinsamen Währungszone ihre Probleme auch gemeinsam lösen. Das ist für Ansehen und Stabilität dieser Währung eine unerlässliche Voraussetzung.

Issing: Ich denke, dass der Euroraum wie ein Club funktionieren sollte. Wenn ein Mitglied permanent gegen die Regeln des Clubs verstößt, dann muss als letzte Möglichkeit ein solches Mitglied aus dem Club ausscheiden können. Ich bin nicht der Meinung, dass man Griechenland ausschließen sollte, was übrigens auch rechtlich gar nicht geht. Die Frage ist nur, wie lange man Griechenland trotz mehrfach gebrochener Versprechen Finanzhilfen gibt. Und ob Griechenland dann selbst die Konsequenz zieht.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Müssen die Griechen gleich aus der Eurozone austreten, wenn sie kein Geld mehr bekommen?

Issing: Natürlich muss Griechenland selbst entscheiden, was zu unternehmen ist, wenn es kein Geld mehr bekommt und der Staat de facto pleite ist. Welcher Schuldenschnitt dann kommt, ist die souveräne Entscheidung der Griechen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Griechenland wird im kommenden Jahr eine Schuldenquote von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Wird es diese Schulden je zurückzahlen können?

Schäuble: Wir haben klar verabredet, dass die vierteljährlichen Kredittranchen nur ausbezahlt werden, wenn Griechenland die verabredeten Auflagen erfüllt. Das zu beurteilen obliegt der sogenannten Troika. Die Troika muss dabei auch die Schuldentragfähigkeit der Griechen beurteilen. Wenn der aktuelle Bericht vorliegt, wissen wir mehr.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sie erwarten, dass die Griechen ihre Schulden bedienen können?

Schäuble: Wir haben klargemacht, dass Griechenland sich an die Abmachungen halten muss. Da kann es keinen Rabatt geben. Die Staats- und Regierungschefs haben bereits im Juli beschlossen, dass es ein zweites Griechenland-Programm geben muss. Dazu gehört – wie im Juli beschlossen – eine Verbesserung der Schuldentragfähigkeit, indem die griechische Gesamtverschuldung reduziert wird.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sagen Sie es klar: Es geht um Umschuldung und Haircut?

Schäuble: Ich spreche über eine Reduzierung der Gesamtverschuldung mit einer Beteiligung des Privatsektors – wie stark diese sein muss, werden wir sehen, wenn der Troikabericht vorliegt. Möglicherweise sind wir bisher von einem zu geringen Prozentsatz der Schuldenreduktion ausgegangen.

Issing: Die EZB [Glossar] hat in einem ihrer letzten Monatsberichte ein Szenario dargestellt, nach dem Griechenland im nächsten Jahr eine Gesamtverschuldung von 160 Prozent erreicht und nach zehn Jahren hartem Sparen schließlich bei 120 Prozent anlangt. Gleichzeitig wird unterstellt, dass das Land einen Pfad konstanten Wachstums erreicht. Die EZB nimmt das als Beleg für die Schuldentragfähigkeit Griechenlands. Dabei sagen die Zahlen nach meiner Einschätzung das Gegenteil. Ich halte es für ausgeschlossen, dass ein Land über zehn Jahre ein solches drakonisches Sparprogramm durchhält. Ich sehe auch nicht, wo der Optimismus für das Wachstum herkommen soll. Für mich heißt das: Griechenland kann seine Schulden nicht bedienen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Was folgt daraus?

Issing: Wir brauchen einen Schuldenschnitt von mindestens fünfzig Prozent. Was nicht geht, ist, dass Griechenland sich dann weiter bei der EZB refinanzieren kann. Denn das würde eine ganz neue Ansteckungsgefahr provozieren: Alle Reformbemühungen anderer Länder, beispielsweise in Irland, würden von einem Moment auf den anderen in sich zusammenbrechen. Denn man kann einer Bevölkerung schwer zumuten, Reformen und Einschnitte hinzunehmen, wenn es mit einem Schuldenschnitt auch einfacher geht.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Also muss Griechenland raus aus dem Euro?

Issing: Es wird wohl nicht anders gehen. Alles andere wäre ein Freibrief für die anderen Länder.

Schäuble: Das sehe ich anders. Alles hängt von den Bedingungen ab, wie man die privaten Gläubiger beteiligt, wie wir es ja schon im Juli verabredet haben – mit damals womöglich noch zu geringen Prozentsätzen der Schuldenreduktion. Klar ist aber immer, dass jede Schuldenreduktion mit unzweideutigen Auflagen verbunden sein muss. Nur wenn diese erfüllt werden, kann geholfen werden.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Warum, Herr Schäuble, fürchten Sie den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion?

Schäuble: Herr Issing und ich sind beide der Meinung, dass wir die Schulden Griechenlands reduzieren müssen. Aber für mich gilt: innerhalb der Eurozone. Ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone wäre die deutlich schlechtere Lösung. Gerade auch aus ökonomischen Gründen. Man müsste schwere Verwerfungen auf den Finanzmärkten [Glossar]befürchten. Es besteht die Gefahr, dass sich ganz Europa und die Weltwirtschaft anstecken. Ich glaube, wir können die Krise besser beherrschen, wenn alle Eurostaaten in der Eurozone bleiben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Reputation des Euros als Weltwährung nachhaltig geschädigt würde, wenn es uns nicht gelänge, dieses am BIP gemessen relativ kleine Problem Griechenlands innerhalb des Systems zu lösen.

Issing: Ich stimme Ihnen zu, Herr Schäuble, dass es keine risikolose Lösung gibt. Da muss ich mich auch über einige Vorschläge aus dem Bereich der Wissenschaft wundern. Ich stimme auch mit Ihnen überein, dass diese Krise eine Chance bietet, die für mich darin hegt, dass wir vor einem Schuldenschnitt und dem damit verbundenen Austritt eines Landes nicht zurückzucken. Ich sehe durchaus die Probleme der Ansteckung, dass sich die Spekulanten dann sofort das nächste Land vornehmen. Doch dagegen kann man sich wappnen, indem man den Zaun um die sechzehn anderen Länder sichtbar erhöht…

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: … was für einen Zaun?

Issing:….wir müssen bereit sein, den anderen Ländern gegen die Spekulation zu helfen. Ich verspreche mir aber auch einen positiven Ansteckungseffekt eines Austritts Griechenlands aus dem Euro. Denn ein solcher Fall müsste auf alle anderen Mitglieder der Eurozone abschreckend wirken. Das würde einen nie gesehenen Reformdruck erzeugen, wie man ihn durch keine internationale Abmachung erzielen kann. Kein anderes Land will raus aus dem Euro. In Italien zum Beispiel würde das nachgeholt, was über Jahrzehnte an Reformen versäumt wurde, damit um jeden Preis das Schicksal Griechenlands abgewandt wird. Ich sehe also nicht nur negative, sondern auch positive „Ansteckungen“ durch den Euro-Austritt eines Landes. Alle übrigen Länder wollen den Selbstausschluss aus dem Club unter allen Umständen vermeiden.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Als man vor drei Jahren die Lehman-Bank fallenließ, hat man sich auch eine abschreckende Wirkung erhofft. In Wirklichkeit ist alles viel schlimmer gekommen.

Schäuble: Natürlich ist die heutige Situation ganz anders. Wir haben zurzeit eine Staatsschuldenkrise. Aber nach allem, was wir wissen, gibt es auch heute ein hohes Risiko, dass sich diese Krise weiter zuspitzt und ausbreitet. Daher müssen wir in der Lage sein, Eskalationen durch spekulative Ansteckung einzudämmen. Dazu gehört unter anderen sicherzustellen, dass die Banken mit hinreichend Kapital ausgestattet sind.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Was ist denn jetzt schon wieder mit den Banken los? Wir dachten, die seien nach der Finanzkrise gerettet und mit ausreichend Kapital ausgestattet worden?

Schäuble: Die Unruhe an den Finanzmärkten nimmt zu. Dies kann zu Rückkoppelungen in die Realwirtschaft fuhren, am ehesten über die Banken. So gibt es die Möglichkeit einer Eskalation. Dieser Möglichkeit müssen wir vorbeugen. Wir haben nach 2008 begonnen, die Finanzindustrie stärker zu regulieren und ihr ein höheres Eigenkapital [Glossar]vorzuschreiben. Aber der Prozess ist womöglich nicht schnell genug gegangen. Wir müssen schauen, dass alle Banken in Europa für alle Eventualitäten gerüstet sind.

Issing: Die fragile Situation der Banken heute unterscheidet sich wesentlich von der Konstellation der Finanzkrise vor drei Jahren. Heute hegt die Krise darin, dass als sicher angesehene Wertpapiere, nämlich Staatsanleihen, zu Risikopapieren geworden sind. Weil man diese für risikolos hielt, müssten die Banken dafür kein Eigenkapital vorhalten. Jetzt gibt es einen Abschreibungsbedarf, der einzelne Banken an den Rand dar Vernichtung des Eigenkapitals bringen könnte. Da haben die Regeln versagt. Aber eine Entschuldigung ist das nicht. Die Banken sind sehenden Auges in ein Risiko gelaufen, weil sie Geschäfte machen wollten.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Und jetzt soll die EFSF mit dem Geld der Steuerzahler auch wieder Banken retten?

Schäuble: Nein. Die ertüchtigte EFSF kann lediglich Staaten helfen, wenn diese weder am Markt noch sonstwie in der Lage sind, ihre Banken zu stabilisieren.

FAZ: Banken müssen rekapitalisiert werden, damit Staaten umschulden können?

Schäuble: Es geht darum, dass wir uns bestmöglich darauf vorbereiten, jegliche Zuspitzung abzufedern. Wir müssen dafür sorgen, dass Ansteckungseffekte in den Bankensektor und als Folgen der Spekulation so gut wie möglich ausgeschlossen werden, unabhängig davon, ob man wie Herr Issing für ein Ausscheiden von Staaten aus dem Euroraum plädiert oder aber sie wie ich auf jeden Fall im Euro halten will.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Was meinen Sie, wenn Sie immer von Spekulanten sprechen? Ist es nicht rational, wenn Anleger sagen, das Risiko in Spanien oder Italien sei ihnen zu groß und sie deshalb jetzt keine Anleiben dieser Länder mehr kaufen?

Issing: So ist es. Es gibt die Mär von der Spekulation. Eher ist es doch so, dass die Märkte zu lange geschlafen haben und Ländern mit ganz unterschiedlicher Bonität Kredite zu denselben niedrigen Zinsen gegeben haben. Das hat die Illusion erzeugt, dass man sich niedriger langfristiger Zinsen erfreuen konnte, ohne dass man selbst entsprechende Anstrengungen unternehmen müsste. Aber natürlich neigen die Märkte dann auch zur Übertreibung. Die Politik muss sich darauf konzentrieren, den Übertreibungen konsequent zu begegnen, ohne die Marktmechanismen auszuschalten. Die Risikoaufschläge, die die Länder jetzt zahlen müssen, die sogenannten Spreads, waren es doch, welche Staaten wie Italien sofort dazu bewogen haben, Reformen zu ergreifen. Kein Land kann es lange durchhalten, wenn die Refinanzierung der Schulden immer teurer wird. Dieses Element der Marktkontrolle muss erhalten werden. Ich habe Sorge, dass durch politischen Druck und zu frühe Interventionen des Euro-Rettungsfonds EFSF die Sanktionsmechanismen er Märkte unterlaufen werden.

FAZ: So weit ist es doch längst, wenn die EZB Staatsanleihen aus Spanien und Italien kauft?

Schäuble: Seien Sie versichert, dass niemand das Zinsrisiko vergemeinschaften und damit falsche Anreize setzen will. Mit mir wird es auch keine Eurobonds geben. Die EFSF kann nur unter ganz engen Voraussetzung und als Ultima Ratio Übertreibungen der Märkte entgegenwirken. Voraussetzung dafür ist zudem eine vorherige Analyse der EZB, dass die Stabilität des Euro als Ganzes gefährdet ist.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: So oder so: Es ist ein Eingriff in den Markt, mit dem die Zinsen für die Schuldner künstlich niedrig gebalten werden.

Schäuble: Nein, nein. Es gibt Geld von der EFSF nur, wenn die Länder, die ihn in Anspruch nehmen müssen – zurzeit Irland und Portugal -, strenge Reform- und Sparauflagen einhalten und umsetzen. Dabei werden sie eng begleitet und kontrolliert. Der Mechanismus der EFSF funktioniert sehr gut. Schauen Sie sich an, zu welchen Reformen die Länder unter dem Druck der Programme in der Lage sind. So etwas hätte man sich früher nie vorstellen können. Irland will 2012 sogar schon wieder auf den Rettungsschirm verzichten. Alle Staaten Europas sind jetzt auf dem Weg in Richtung einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik [Glossar].

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Für Haushaltsdisziplin gibt es einen Rabatt vom Marktzins, sagen Sie, Herr Schäuble. Sie, Herr Issing, sagen, der Marktzins ist das beste Disziplinierungsinstrument.

Issing: Der Normalfall sollte die Disziplinierung durch die Märkte sein, das andere ist die Ausnahme. Ich bin nicht sicher, ob das alle Politiker auch so sehen. Gleichwohl: Was seit zwei Jahren in Europa an Reformen in Gang gekommen ist, darf man wirklich nicht kleinreden. Das sage ich auch meinen angelsächsischen Freunden. Jetzt erst ist richtig verstanden worden, dass man an einer gemeinsamen stabilen Währung nur teilnehmen kann, wenn man seine Wirtschaft wettbewerbstauglich macht.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Warum braucht die EFSF jetzt auch noch einen Hebel, mit dem das ohnehin schon große Volumen aufgestockt wird?

Schäuble: Wenn unter Hebel verstanden wird, dass die EFSF zu einer Bank werden soll und über eine Banklizenz Zugang zum Geld der Zentralbank bekommt, so kann ich das ganz klar ausschließen. Denn damit würden wir die Staatsschulden Europas monetisieren. Das geht nicht. Die Trennung zwischen Geld- und Finanzpolitik werden wir nicht aufgeben.

Issing: Das ist ermutigend. Würde die EFSF zur Bank, wäre dies das Ende einer stabilen Währung. Am Ende hätte man die Notenpresse der Finanzpolitik ausgeliefert. Was das bedeutet, hat man im 20. Jahrhundert schmerzvoll erfahren.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sie sind offenbar beide dafür, dass EZB und EFSF Staatsanleihen kaufen. Ist das nicht längst eine Vergemeinschaftung von Staatsschulden ?

Issing: Meine Wunschvorstellung war das alles nicht. Im meiner Welt eines optimalen Währungsraums gäbe es so einen Bail-out, solche gegenseitigen Rettungen, nicht. Da wären die Staaten fiskalisch souverän, hätten eine gemeinsame Währung, dürften aber nicht auf finanzielle Solidarität der anderen Staaten zählen. Inzwischen bin aber auch ich der Meinung, dass die Märkte nicht immer effizient sind. Da habe ich meine Meinung geändert. Es gibt Übertreibungen. Deshalb braucht es dann eine Hilfseinrichtung wie die EFSF. Sagen wir so: Es ist eine Kröte, die man schlucken muss.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sagen Sie es deutlich: Nicht mehr der Markt, sondern die EZB und EFSF oder ESM entscheiden, welche Anleihen gekauft werden. Wir nehmen die gemeinsame Haftung für Staatsschulden in Kauf, was alle Anstrengungen für eine solide Haushallsführung unterminiert.

Issing: Nein, nein, jetzt übertreiben Sie. Die Haftung muss sehr begrenzt sein, es darf nicht dazu kommen, dass jetzt die Europäer gemeinsam für alle Schulden im Euroraum haften.

Schäuble: In Ihrer Frage sind viele falsche Behauptungen. Es gibt keine gemeinsame Haftung für Staatsschulden, es gibt einen Krisenmechanismus, der eng eingesetzt wird. Hilfe gibt es nur gegen knallharte Auflagen. Und der ESM ist eine echte internationale Finanzinstitution. Im Übrigen gilt der Satz des Neuen Testaments: Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Es waren die Deutschen und die Franzosen, die als Erste den Stabilitätspakt schon im Jahr 2002 gebrochen haben. Da ist es gut, dass wir das Instrumentarium verbessern und jetzt möglich wird, was bei der Einführung des Euro noch nicht möglich war. Ich kann nicht oft genug wiederholen, dass vom Euro alle Mitglieder profitieren, am meisten die Deutschen. Jetzt erst spüren wir, dass der Euro nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein politischer Schritt der Integration ist. Dazu gehört auch eine in größerem Maße vergemeinschaftete Finanzpolitik, in der die Mitgliedstaaten auf Teile der Souveränität verzichten und die mit stärkeren Sanktionen bewehrt ist.

Issing: Da wäre ich vorsichtiger als Sie, Herr Schäuble. Unter gemeinsamer Finanzpolitik wird sehr Unterschiedliches verstanden. Die Verfassungsrichter haben uns darauf verpflichtet, dass in westlichen Demokratien Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben das zentrale Königsrecht nationaler Parlamente sind. Wenn dieses Prinzip durch politische Integration übersprungen werden soll, muss wirklich auf einen Schlag die gesamte politische Integration gelingen. Sonst wäre das Ganze nicht demokratisch legitimiert. Als Kanzler Helmut Kohl bei den Maastricht-Verhandlungen vorgetragen hat, es wäre absurd, eine Währungsunion ohne politische Union zu schaffen, gab es Beifall von allen Seiten, auch von mir. Heute ist meine Sorge, dass man in der Krise nur eine Art Alibikontrolle in Europa hinbekommt, die nicht politisch legitimiert ist.

Schäuble: Unterschätzen Sie die Entschlossenheit derer nicht, die jetzt an Europa bauen wollen. Es trifft mich persönlich, wenn Sie das eine Alibiveranstaltung nennen. Europa ist schon jetzt nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts viel mehr als ein Staatenbund. Durch die gemeinsame Geldpolitik [Glossar] haben die Staaten wichtige Teile ihrer Souveränität an die Gemeinschaft abgegeben. Ahnlich ist es im Wettbewerbsrecht. Auch da hat die EU ganz starke Kompetenzen, verbunden mit der Macht, in nationale Entscheidungen einzugreifen. Warum soll das nicht auch für die Finanzpolitik möglich sein?

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Allein uns fehlt der Glaube. Wer sich bislang nicht an Maastricht gehalten hat, wird es auch künftig nicht tun?

Schäuble: Maastricht hat nicht funktioniert, weil wir damals eine rot-grüne Bundesregierung hatten, die sich nicht an die Regeln gehalten hat. Heute ist das, wie Sie sehen, anders. Und vergessen Sie nicht: wir haben gerade den Stabilitäts- und Wachstumspakt [Glossar] deutlich verschärft und gestärkt – mitsamt quasiautomatischen Sanktionen, die zudem viel früher greifen.

Issing: Vertrauen in Ihre Position in Ehren. Aber Personen und Regierungen können in Deutschland und auch anderswo wieder wechseln. Ich bin durch schlechte Erfahrungen 2002 und 2003 geprägt. Da habe ich mich auch als Deutscher geschämt.. Ich bin sehr dafür, dass wir die Kontrollen verstärken. Aber die einzelnen Staaten werden sich die Kontrolle nicht aus der Hand nehmen lassen. Mein Vertrauen ist begrenzt. Deshalb plädiere ich für eine Kombination von strikten vertraglichen Verpflichtungen zur Einhaltung der Regeln und Sanktionen durch die Märkte.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Apropos Vertrauen, Herr Issing: Wenn Sie sich die heutige EZB ansehen, ist das noch Ihre EZB?

Issing: Die EZB ist fünf Jahre älter geworden.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Braucht Europa eine Volksabstimmung, wenn jetzt Vertragsänderungen vorgesehen sind?

Issing: Es entsteht etwas Neues. Diese Währungsunion sucht sich jetzt eine zu ihr passende Verfassung. Zwar zeigt die Geschichte, dass Währungsunionen ohne politische Union es in der Vergangenheit immer schwer hatten. Sie funktionieren auch heute nur dann, wenn die Klausel des No-Bail-out strikt eingehalten wird, wie man in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten sieht.

Schäuble: Wir stehen an einer Weichenstellung. Einerseits gibt es Zweifel an der Leistungsfähigkeit demokratischer Systeme in der ganzen Welt. Aber auf der anderen Seite erkennen wir auch jetzt, was uns Europa wert ist. Daran müssen wir weiter arbeiten. Europa muss besser demokratisch legitimiert werden. Wir brauchen langfristig gesehen ein Zweikammersystem in Europa: die Vertretung der Mitgliedstaaten und ein demokratisch gewähltes Parlament. Wenn wir die Grenze des Grundgesetzes von 1949 erreichen, gibt es den Weg einer Volksabstimmung nach Artikel 146. Doch davon sind wir noch weit entfernt. Denn im Augenblick sind wir mitten in einer schweren Krise. Und zur Lösung dieser Krise ist Artikel 146 nun wirklich nicht gedacht. Wir sind dabei, das Monopol [Glossar] des alten Nationalstaates aufzulösen. In Europa wird schrittweise die Souveränität zwischen den Ebenen verteilt. Das ist das moderne Organisationsprinzip in der globalen Welt des 21. Jahrhunderts. Der Weg ist mühsam, aber es lohnt sich, ihn zu gehen.

Das Gespräch führten Rainer Hank und Holger Steltzner.

Alle Rechte: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.