Sicherheit in der global vernetzten Welt



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Rahmen der Vortragsreihe zur „Deutschen und Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Sicherheit zu gewährleisten ist und bleibt eine der Kernaufgaben jedes staatlichen Gebildes. Aber die Bedingungen für die Gewährleistung von Sicherheit auf der Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols verändern sich mit der Zeit. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges hat sich die bipolare Weltordnung aufgelöst. Der ewige Friede ist trotzdem nicht ausgebrochen, und er wird es wohl auch nicht, solange die Menschen so sind wie sie sind. Die Bedrohungen und Herausforderungen haben lediglich andere Formen angenommen.

Die Globalisierung hat die Welt grundlegend verändert. Wir sind in fast jeder Beziehung – wirtschaftlich, politisch – von Entwicklungen in allen Teilen der Welt abhängig, ob uns das gefällt oder nicht. Und ebenso wie wir eine zunehmend globalisierte Gesellschaft, eine globalisierte Wirtschaft haben, haben wir eine globalisierte Sicherheitslage.

Ich war vor 17 Jahren schon einmal Bundesinnenminister. Nachdem ich dieses Amt 1991 abgegeben hatte, habe ich mich dann bewusst nicht mit Innen-, sondern mit Außenpolitik beschäftigt. Jetzt bin ich zum zweiten Mal Innenminister und widme mich wieder – pflichtgemäß, aber auch mit Überzeugung – der Innenpolitik. Das Merkwürdige ist aber, dass ich seit Amtsantritt ständig Termine im Ausland wahrnehme. Wenn ich gefragt werde, was sich seit meiner ersten Amtszeit als Innenminister verändert hat, antworte ich, dass es damals erstens das Wort Internet noch nicht gab und dass zweitens inzwischen die europäische und internationale Dimension meines Amtes eine völlig andere geworden ist. Nahezu alle Aufgaben eines Innenministers, von der Migration bis zum Terrorismus, haben heute eine grenzüberschreitende Dimension.

Es ist also keine persönliche Marotte, wenn ich mich mit den internationalen Dimensionen von Sicherheit beschäftige, sondern schiere Notwendigkeit. Die engere Verflechtung und die neue Offenheit der Welt, von der wir gerade in Deutschland überwiegend profitieren, macht es notwendig, dass wir enger international zusammenarbeiten, weil wir in vieler Hinsicht nur gemeinsam Probleme lösen können. Heute sind die Schauplätze der Welt mit ihren unterschiedlichen Entwicklungsstufen viel stärker miteinander verwoben als früher: Moderne Massenkommunikation, allen voran das Internet, und weltweite Mobilität der Menschen führen zu einem permanenten Austausch und zu einer immer dichteren Vernetzung der Bevölkerung und der weltweiten Infrastruktur. Je enger die Verflechtungen werden, umso schneller und unmittelbarer wirkt sich das, was ganz woanders auf der Welt passiert, bei uns aus. Und so müssen wir auch die Sicherheit unseres Landes mit Blick auf weltweite Entwicklungen sehen und gestalten. Die globalisierte, vernetzte und mobile Welt zwingt uns geradezu – sicherheitspolitisch, aber auch darüber hinaus –, die Auflösung des Gegensatzes von innen und außen nicht nur zu reflektieren, sondern auch darauf zu reagieren.

Staatliche Souveränität kann die Sicherheitsgewährleistung schon lange nicht mehr vollständig erfüllen. Die neuen Bedrohungen, von failing states bis zu asymmetrischer Kriegsführung, gehören zu den großen sicherheitspolitischen Herausforderungen unseres Jahrhunderts. Wir haben nicht nur weltweit vielfältige Krisen und Konflikte, das Konfliktgeschehen wird zunehmend auch von Bürgerkriegen, von selbsternannten Warlords, Guerilla-Kämpfern, regionalen und privaten Kriegsherren bestimmt. Dabei mischt sich zunehmend auch Organisierte Kriminalität und internationaler Terrorismus. Gewaltanwendung in großem Stil ist zu einer Dienstleistung geworden, für die es Märkte gibt.

Im Grunde ist das nicht neu, sondern eher ein Rückfall vor die Zeit des Westfälischen Friedens, in dessen Folge sich das staatliche Gewaltmonopol etablierte. Damals war es gelungen, den Staat als obersten Hüter von Sicherheit und Ordnung zu etablieren und die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts zu beenden. In der Folge haben sich unsere traditionellen, klassischen Bezüge entwickelt, auch die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Heute sind die Bedrohungen unübersichtlicher und damit schwerer berechen- und kontrollierbar. Die weltweiten Spannungen und Konflikte sind die Basis für terroristische Entwicklungen, die sich auch bei uns entladen können.

Deswegen ist es richtig, dass wir ein erweitertes Verständnis von Sicherheit entwickeln und dass wir uns um eine vernetzte Sicherheitsarchitektur bemühen. Darüber müssen wir offen und öffentlich diskutieren, weil es zur freiheitlich verfassten Demokratie gehört, dass man über solche Fragen diskutiert und die Debatte nicht durch Denkverbote zu verhindern versucht.

Es gibt unterschiedliche Gefahren, auf die wir uns einstellen müssen: Manchen Gefahren kann man nur mit polizeilichen Mitteln, anderen Gefahren nur mit militärischen Mitteln begegnen. Dass die Grenze zwischen diesen beiden Arten von Bedrohungen entlang der Landesgrenzen verlaufe, entspricht dem Denken des 19. Jahrhunderts, das schon im 20. Jahrhundert veraltet war.

Deswegen war es auch konsequent, dass der Weltsicherheitsrat am 12. September 2001 in seiner Entscheidung nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis kam, dass die terroristischen Anschläge vom Vortag ein Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika gewesen seien, obwohl die Flugzeuge im Inland und nicht im Ausland gestartet waren. Die Amerikaner selbst sprechen vom „Krieg“, in dem sie sich befinden. In der Sprache unseres Grundgesetzes nennt man es „Verteidigung“. Unser Grundgesetz kennt den Begriff „Krieg“ nur im Sinne des Verbotes eines Angriffskrieges. Wir haben einen unterschiedlichen Sprachgebrauch, aber auch das zeigt, dass die Welt eine andere geworden ist.

Das Prinzip der Abschreckung, das in der Welt des Ost-West-Konfliktes eine gewisse Sicherheit gewährleistet hat, funktioniert angesichts der neuen Bedrohungslage nur noch eingeschränkt. Wenn aber Abschreckung keine Wirkung mehr zeigt – das gilt im Kleinen auch für Selbstmordattentäter, bei denen die präventive Wirkung von Gefängnisstrafen eher gering ist –, dann müssen wir zum Zweck der Gefahrenabwehr stärker auf Prävention setzen. Prävention setzt vor allem Information voraus.

Im Grunde ist das in der Kriminalgeschichte nicht neu, dass man Gefahren und Angriffe nur abwehren kann, wenn man davon Kenntnis hat, bevor sich die Bedrohung verwirklicht. Deshalb ist es auch nicht neu, dass Gefahrenabwehrbehörden – unter gesetzlich zu definierenden Voraussetzungen und Begrenzungen – in grundrechtlich geschützte Kommunikation Zugang finden müssen, um ihre Aufgabe erfüllen zu können.

In diesen Kontext gehört die Diskussion um die Online-Durchsuchung. Welche polizeilichen Rechtsinstrumente notwendig sind, ergibt sich daraus, wie potentielle Kriminelle miteinander kommunizieren. Früher hat man Boten, Brieftauben oder Funksprüche abgefangen. Später brauchten wir eine Rechtsgrundlage für Telekommunikationsüberwachung, und wir haben sie für bestimmte, gesetzlich geregelte Fälle geschaffen. Heute gibt es neue Informations- und Kommunikationstechnologie. Und da sie von Kriminellen für die Vorbereitung schwerster Straftaten genutzt werden, brauchen wir auch hier die Möglichkeit, in gesetzlich geregelten Fällen zur Verhinderung schwerster Straftaten dort einzudringen. Deswegen haben wir im BKA-Gesetz – unter Festschreibung enger Voraussetzungen – die Online-Durchsuchung geregelt, die die Vorgängerregierung ohne gesetzliche Grundlage einfach durchgeführt hatte.

Es hätte eigentlich niemanden überraschen dürfen, dass das Bundeskriminalamt, dem der Verfassungsgesetzgeber 2006 die polizeiliche Befugnis zur Abwehr von Gefahren aus dem internationalen Terrorismus übertragen hat, auch die gesetzlichen Instrumente erhalten muss, um diese neue Aufgabe zu erfüllen.

Weil wir auf frühzeitige Informationen angewiesen sind, um Anschläge zu verhindern, brauchen wir auch leistungsfähige Nachrichtendienste, die international vernetzt sind. Die Leistungsfähigkeit unseres Bundesnachrichtendienstes ist die Voraussetzung dafür, dass der Bundesverteidigungsminister, der Bundesinnenminister, die Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung die Verantwortung für den Einsatz in Afghanistan überhaupt tragen können. Es gehört zum Wesen von Nachrichtendiensten, dass sie vertrauliche arbeiten. Ein Übermaß an Öffentlichkeit, wie es bisweilen verlangt wird, ist damit schwer vereinbar. Nachrichtendienste müssen die Vertraulichkeit der Informationen gewährleisten, wenn sie nicht von lebenswichtigen Informationen etwa ausländischer Partnerdienste abgeschnitten werden wollen.

Wir brauchen den Informationsaustausch nicht nur im Hinblick auf terroristische Bedrohungen, sondern auch für die alltägliche Sicherheitsgewähr in einer globalisierten Welt. Wir leben heute in einem Europa offener Grenzen. Das gehört zu den großen Freiheitsgewinnen, die wir durch die europäische Integration errungen haben. Dieser Gewinn an Freiheit darf aber nicht zu einem Verlust an Sicherheit führen. Daher setzt die Öffnung der Grenzen voraus, dass wir die notwendigen Informationen, die wir für früher für die Grenzkontrollen brauchten, heute europaweit austauschen. Das muss auf einem hohen datenschutzrechtlichen Niveau sichergestellt sein. Sonst wäre die Politik von Grenzöffnung und weniger Kontrollen nicht zu verantworten.

Dieser Ansatz muss auch im Verhältnis zu unseren amerikanischen Verbündeten gelten. Auch im transatlantischen Raum brauchen wir Sicherheit. Wir haben uns viel Mühe gegeben, um ein Abkommen über den Austausch von Fluggastdaten zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union abzustimmen. Das ist notwendig, damit wir trotz wachsender weltweiter Mobilität und immer weniger Kontrollen ein hinreichendes Maß an Sicherheit gewährleisten können. Die Alternative wären zeitaufwendige, belastende Einzelkontrollen, die auch niemand möchte. Der Informationsaustausch ist also nicht der Datensammelwut einzelner Behörden geschuldet, sondern der Verantwortung für die Menschen.

Globalisierung und offene Grenzen bedeuten, dass wir gemeinsam und integriert handeln müssen. Wir sind auf multilaterale Entscheidungen angewiesen. Auch im Hinblick auf öffentliche Wahrnehmung und öffentliche Akzeptanz tragen unilaterale Entscheidungen nicht mehr weit. Wer aber multilaterale Entscheidungen will, muss auch bereit sein, sich multilateral zu engagieren. Es geht nicht, dass wir multilateral diskutieren, was die Vereinigten Staaten unilateral ausführen sollen. Die Bereitschaft zum gemeinsamen Engagement ist Voraussetzung dafür, dass der Weg in Richtung mehr Integration und multilateralen Entscheidungsstrukturen gelingt.

Das gilt im militärischen Bereich. Es gilt aber auch in rechtlichen bis hin zu völkerrechtlichen Fragen. Auch dort stimmen die alten Kategorisierungen mit den neuen Bedrohungen nicht mehr wirklich überein. Wer Denkverbote aufstellt, läuft Gefahr, dass in Grauzonen gehandelt wird. Ich halte nichts von Grauzonen. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir uns der Mühe unterziehen, in demokratischer Offenheit streitige Debatten zu führen. Es geht nicht anders, wenn wir unsere Verantwortung ernst nehmen.

Wenn wir multilaterale Entscheidungen und multilaterales Engagement wollen, bedeutet das auch, dass wir uns stärker im Ausland engagieren – durch humanitäre Einsätze, aber auch durch militärische und polizeiliche Interventionen, um ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten als Grundvorausaussetzung für Stabilität und gesellschaftlichen Aufbau. Wie etwa in Afghanistan, wo Bundeswehr und Polizei eng zusammenarbeiten: Die Bundeswehr sorgt für die notwendige Sicherheit, mit der Ausbildung von Polizisten bringen wir den Aufbau des Landes voran. Wir wollen hier wie in anderen Krisengebieten im Interesse der Menschen, aber auch in unserem ureigenen Interesse, Strukturen einer Polizei schaffen, die in der Lage ist, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen und mit anderen internationalen Rechtsstaatsorganisationen zusammenzuarbeiten.

Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir mehr Sicherheit und damit auch Freiheit für die Menschen vor Ort erreichen. Freiheit und Sicherheit bedingen sich. Wie Alexander von Humboldt gesagt hat: keine Freiheit ohne Sicherheit. Beides zusammen ist die Basis für ein funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass alles Weitere – eine zivile Infrastruktur, Handel, Schulen – sich gedeihlich entwickeln kann.

Solche Prozesse brauchen ihre Zeit, sie sind langfristig zu sehen. Letztlich geht es darum, die Menschen von unseren Werten einer freien Gesellschaft zu überzeugen. Nur so können wir Krisenregionen auf Dauer stabilisieren. Dabei spielen übrigens die Medien eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Aber es zeigt sich überall, dass die wirtschaftliche, die politische und die Sicherheitslage voneinander abhängen, und Sicherheit eine notwendige Voraussetzung für die weitere Entwicklung ist. Deswegen brauchen wir zivile und militärische Instrumente. Nur zusammen können wir den nachhaltigen Wiederaufbau und Stabilität eines Landes erreichen. Deswegen sind wir in Afghanistan richtig aufgestellt: Unser starker militärischer Einsatz durch die Bundeswehr bleibt notwendig, und er gewährleistet, dass wir uns beim dringend notwendigen Polizeiaufbau engagieren können.

In den letzten Monaten hat ein weiteres Thema Bundeswehr und Polizei beschäftigt: die Piraterie. Betroffen sind vor allem die Seeregionen, in denen die Küstenstaaten nicht den Willen oder die Mittel besitzen, gegen diese Form der Kriminalität vorzugehen. Dazu gehören Teile der Küstengewässer Südostasiens, Westafrikas, Südamerikas, der Karibik und natürlich Somalia. Ob und wie die Piraterie mit dem internationalen Terrorismus vernetzt ist, ob Piraterie Terroristen als Einnahmequelle dient oder ob es eine konkrete Zusammenarbeit oder Abhängigkeiten gibt, können wir bisher nicht sicher sagen. Die Piraterie ist so oder so aber eine ernste Bedrohung für die internationale Seeschifffahrt, für den Welthandel und damit für die Funktionsfähigkeit unserer globalisierten Wirtschaft.

Deutschland ist als Exportnation unmittelbar betroffen: 20 Prozent des deutschen Außenhandels werden über den Seetransport abgewickelt. Deutsche Reeder kontrollieren die größte Containerflotte der Welt. Sichere Seewege sind für unser Land unverzichtbar. Deswegen beteiligt sich die Bundeswehr an der europäischen Mission auf der Grundlage des Mandats ATALANTA am Horn von Afrika.

Unser Land schützt seine Bürger und wird das auch in Zukunft tun. Es gibt immer wieder Entführungsfälle, und auch Deutsche sind schon in die Hände skrupelloser Geiselnehmer gefallen. Die zuständigen Ressorts – Verteidigungsministerium, Auswärtiges Amt, Justiz- und Innenministerium – haben sich zuletzt bei der Entführung der Hansa Stavanger durch somalische Piraten am 4. April 2009 damit beschäftigen müssen. Der zunächst geplante Einsatz der GSG 9 ist letztlich nicht erfolgt. Bundeswehr und Bundespolizei verfügen nicht über die für einen solchen Einsatz nötigen Transportmittel. Bei einem Einsatz gegen Piraten müssen die Einsatzmittel, insbesondere Hubschrauber, schnell an den Einsatzort gebracht werden. Weder die Bundeswehr noch die Bundespolizei haben aber eine Antonov oder einen Hubschrauberträger. Darum waren wir auf die Hilfe der US-Navy angewiesen. Andere europäische Staaten wie Frankreich, Italien und selbst die Niederlande sind besser ausgerüstet. Wir werden die Konsequenzen hieraus ziehen müssen.

So sind wir gehalten, permanent auf eine sich wandelnde Gefahrenlage zu reagieren, uns bestmöglich darauf einzustellen und handlungsfähig zu bleiben. Das gilt für die technische Ausstattung ebenso wie für rechtliche Grundlagen. Beides anzupassen wird eine immerwährende Aufgabe bleiben.

In diesen Kontext gehört notwendigerweise auch ein viel debattiertes verfassungsrechtliches Thema: die Verantwortungsteilung zwischen Polizei und Streitkräften. Im Fall der Pirateriebekämpfung ist daran zu erinnern, dass die Befreiung eines gekaperten Schiffes Aufgabe der Bundespolizei ist. Die Bundeswehr ist außerhalb europäischer oder internationaler Mandate dazu jedenfalls nicht zweifelsfrei befugt. So zeigt auch die Diskussion über die Piratenbekämpfung und über die Bedrohungen aus dem internationalen Terrorismus im Kern, dass der Unterschied zwischen militärischen und polizeilichen Instrumenten eine Frage der Qualität der Bedrohung und der notwendigen Abwehr ist, und eben nicht der Landesgrenze. Also müssen wir auch die Frage stellen, ob es nicht möglich sein sollte, die Bundeswehr unter bestimmten Voraussetzungen, die diskutiert und sorgfältig definiert werden müssen, auch im eigenen Land zu Schutzzwecken einzusetzen. Es macht auf Dauer keinen Sinn, dass die Bundeswehr überall auf der Welt vielfältige Aufgaben wahrnehmen kann, nur nicht in dem Land, in dem das Grundgesetz gilt – eine Aufgabentrennung, mit der die deutsche Verfassungslage nahezu ein Unikat unter den westlichen Demokratien ist.

Die Abwehr terroristischer Angriffe im Inland ist grundsätzlich Aufgabe der für die Gefahrenabwehr zuständigen Polizeikräfte der Länder. Die Entwicklung hat aber gezeigt, dass die Polizei in bestimmten Situationen mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Gefahren nicht bewältigen kann. Der Anschlag auf das World Trade Center ist nur eins von vielen vorstellbaren Szenarien für einen Angriff auf die Zivilbevölkerung mit der Intention massenhafter Tötung. Solchen Situationen, mit denen der Gesetzgeber der bisherigen Wehrverfassung nur im klassischen Verteidigungsfall gerechnet hat, mit denen er ansonsten auch nicht rechnen konnte, lassen sich auf der Grundlage der herrschenden Interpretation von Artikel 87 a Grundgesetz nicht zuverlässig begegnen.

Nun gibt es die Auffassung, dass der Rechtsstaat im Zweifel darf, was er zum Schutz seiner Bürger tun muss. Das ist für mein Verfassungsverständnis erstens ein bisschen weitgehend und zweitens – zumal nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz – nicht so einfach, auch und insbesondere im Hinblick auf die im Ernstfall erforderliche Befehlskette.

In unserem Koalitionsvertrag mit der SPD gab es hierzu die Verabredung, dass aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz gegebenenfalls die notwendigen Konsequenzen gezogen werden müssen. Es kann nicht sein, dass Gefahren, die nur mit militärischen Mitteln abzuwehren sind, deswegen nicht abgewehrt werden können, weil nicht zweifelsfrei feststeht, dass der Angriff von außen kommt, und das ist leider immer noch die herrschende Interpretation von Artikel 87 a Grundgesetz.

Ich habe diese Diskussion nicht des Streitens willen angestoßen, sondern weil ich es für unverantwortlich halte, diese Schieflage nicht zu lösen. Ich habe das schon früher getan. Als ich Chef des Bundeskanzleramtes war, hatten wir 1985 einen Wirtschaftsgipfel im Bonner Kanzleramt vorzubereiten. Da waren die Rahmenbedingungen weniger dramatisch als heute, aber Bedrohungen aus der Luft haben mich schon damals beschäftigt. Ich habe die versammelten Staatssekretäre schließlich gefragt: „Was machen wir gegen eine Bedrohung aus der Luft durch ein bemanntes oder unbemanntes Flugobjekt?“ Einer der Staatssekretäre erwiderte: „Wir sperren den Luftraum.“ Auf meine Frage, wie man das macht, ergänzte er: „Mit einer Rechtsverordnung.“ Ich fragte weiter: „Was ist, wenn jemand dagegen verstößt?“ und bekam zur Antwort: „Der kriegt ein Bußgeld.“

Um es kurz zu machen: Die Polizei kann es nicht und die Bundeswehr darf es nicht. Es hilft nur beten. Damals hat es geholfen. Mein Verständnis als Protestant ist allerdings, dass man sich nicht zu oft aufs Beten verlassen darf, solange man als politisch Verantwortlicher selbst etwas tun kann. Das gilt für die Abwehr von Gefahren aus der Luft ebenso wie für die Abwehr von Gefahren zur See.

An anderen Stellen sind wir in dieser Koalition vorangekommen: Wir stehen in dieser Wahlperiode beispielsweise davor, das Gesetzgebungsverfahren zur Strafbarkeit der Vorbereitung von Terroranschlägen abzuschließen. Das ist ein wichtiger Schritt. Viele Islamisten, die in Deutschland aufgewachsen sind, werden mittlerweile in terroristischen Ausbildungslagern im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet geschult. Solche Ausbildungslager sind darauf ausgerichtet, identitätsstiftend zu wirken. Wer sich in einem solchen Lager aufgehalten hat, ist in die terroristischen Strukturen eingebunden. Dort ausgebildet und vernetzt, sind die Teilnehmer prädestiniert, um in ihren Heimatländern terroristische Aktivitäten zu unterstützen und Anschläge vorzubereiten. Daher sind terroristische Ausbildungslager eine reale Gefahr für die Sicherheit in Deutschland, und ganz besonders der Besuch solcher Lager von Deutschen oder Ausländern mit Bezug zu Deutschland. Deshalb ist es gut, wenn bald ein entsprechendes Gesetz, das den Aufenthalt in einem terroristischen Ausbildungslager unter Strafe stellen soll, im Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird.

Die Abschreckung durch Strafdrohung hilft bei Selbstmordattentätern jedenfalls wenig. Laut der Strafgesetzordnung wird ein Ermittlungsverfahren eingestellt, wenn der Tatverdächtige tot ist. Also muss man vorher aktiv werden. Ich halte es auch für eine zumutbare Einschränkung individueller Freiheitsrechte, den Besuch solcher Ausbildungslager zu sanktionieren.

Wir brauchen klare, einwandfreie rechtliche Grundlagen, um terroristische Anschläge möglichst zu verhindern. Letztlich brauchen wir aber einen noch umfassenderen Ansatz. Dazu gehört, dass wir alle Menschen, auch die Muslime, von den Werten einer freiheitlichen Gesellschaft überzeugen. Wir müssen die Muslime für den Kampf gegen den Terrorismus gewinnen. Der Kampf gegen einen Missbrauch des Islam ist vor allem auch Aufgabe der Muslime selbst. Die gemäßigten Muslime müssen die radikalen Fundamentalisten in ihren Reihen isolieren.

Das müssen wir von den Muslimen einfordern, die bei uns in den westlichen Demokratien leben – uns zugleich aber davor hüten, die große Mehrheit der Muslime in Deutschland und Europa als verdächtige Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren. Denn auch das ist eine wichtige Aufgabe in unserer globalisierten Welt: dass die zunehmend heterogenen Gesellschaften nicht auseinanderdriften, sondern ein Gefühl der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit erhalten bleibt. Diesem Ziel dient auch die Deutsche Islam Konferenz, die ich ins Leben gerufen habe.

Auch Integrationspolitik hat einen Bezug zur Prävention unter dem Gesichtspunkt der Stabilität und des inneren Friedens unserer Gesellschaft. Freiheitlich verfasste Gesellschaften leben vom Grundgedanken der Toleranz und Offenheit und auch von der Erkenntnis, dass Verschiedenheit nicht Bedrohung ist, sondern Bereicherung. Dafür brauchen wir einen Grundkonsens über gemeinsame Werte wie auch ein Gefühl der Zugehörigkeit als Voraussetzung für ein Miteinander. Das ist das Ziel von Integration.

Für jemanden, der sich amtlich aber auch sonst Gedanken macht, wie unsere demokratische rechtsstaatliche Ordnung zukunftsfähig bleibt, geht es auch darum, die Menschen einzubinden und zur Beteiligung anzuregen. Denn eine Demokratie ohne Demokraten ist eine labile Sache, wie wir aus der deutschen Geschichte wissen. Aber auch und gerade die Demokratie braucht Führung. Führung und Demokratie sind keine Gegensätze. Es ist Aufgabe von Parlament und Regierung, Führungsverantwortung wahrzunehmen. Das bedeutet, dass Regierung- und Parlamentsentscheidungen nicht durch Meinungsumfragen ersetzt werden können. Die Demoskopie ist eine Entscheidungshilfe, aber sie ersetzt nicht politische Führungsverantwortung. Und politische Führungsverantwortung in der Demokratie heißt nicht überfallartig entscheiden, sondern Debatte und Diskussion.

Die Menschen in unserem Land fühlen sich sicher nach innen und nach außen. Das ist ein hohes Gut. Das verdanken wir der Arbeit und der Zuverlässigkeit all derjenigen, die tagtäglich für Sicherheit sorgen und hierfür bereit stehen, die äußerstenfalls gar ihr Leben riskieren. Dieser Einsatz für unser Land und für die Menschen in unserem Land erhält oft nicht das Maß an Anerkennung, das dafür angemessen ist. Wir verdanken die Stabilität und Sicherheit, in der wir leben, auch unserem Grundgesetz, dessen Jubiläum wir in diesem Jahr feiern. Unsere Verantwortung besteht darin, alles zu tun, damit wir auch in Zukunft ein sicheres Land bleiben und sich die Menschen sicher fühlen. Für den Beitrag, den Sie hierzu leisten, möchte ich Ihnen persönlich danken. Aufgabe von Parlament und Regierung ist es, die notwendigen Grundlagen dafür zu schaffen und in einer sich wandelnden Welt zu erhalten.