Sein Pathos der Nüchternheit



Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble in der Welt am Sonntag

Weit ausgreifende Ideen, ein Hang zur Weltverbesserung waren ihm oft nur ein Stirnrunzeln wert. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, lautet einer seiner bekannten Ratschläge. Darin kommt ein Pathos der Nüchternheit zur Geltung, das Helmut Schmidt als Politiker und Publizist auszeichnet. Es hat sich in den vergangenen Jahren mit der Lakonie eines Mannes gepaart, der keine Zeit mehr zu verschwenden hat.

Schmidts Nüchternheit liegt im Vertrauen auf Vernunft und Mäßigung, in der klugen Einschätzung verfügbarer Mittel, im Willen zur schrittweisen Veränderung. Pathos ist darin, sofern Schmidt das Pragmatisch-Nüchterne selbst zum Anliegen der Politik macht und es bewusst – auch medienbewusst – einsetzt. Ihn trennen Welten vom visionären Politikertypus, wie ihn heute Barack Obama in seinem Glauben an den großen Wandel verkörpert.

Schmidts Nüchternheit war angemessen in einem Land, das sich von den Verlockungen einer mörderischen Ideologie hatte begeistern und in den Abgrund führen lassen. Die Nazidiktatur hat die Politik in ein pathetisches Blendwerk verwandelt. Dagegen ist der Demokratie mit ihrem feinen Räderwerk von checks and balances das Aufpeitschende und Pompöse ganz fremd. Deshalb ist deutsche Politik nach 1945 eine Politik ohne große Gesten.

Die Generation Helmut Schmidts wuchs in den Wirren der Weimarer Republik auf, sie verbrachte ihre Jugend im Dritten Reich, wurde im Krieg erwachsen. Die Lehre, die sie aus der deutschen Geschichte zog, war Skepsis gegenüber Ideologien und dem Gefühlsüberschwang, den sie erzeugen können. Nach einem berühmten Buch von Helmut Schelsky war es eine „skeptische Generation“. Sie wusste, dass friedliche Normalität in einer staatlichen Ordnung, die die Wolfsnatur im Menschen einhegt, kein selbstverständliches Gut ist und tausendmal besser als utopische Menschheitsprojekte, die das Risiko grandiosen Scheiterns in sich tragen. Sie kannte existenzielle Formen von Unsicherheit, wusste um die Gefährdungen des Menschseins. Dieses Wissen begründet bei Schmidt den Hang zu einem im Grunde eher konservativen Staatsdenken – nur dass es in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg wenig zu bewahren gab.

Nach der geistigen Isolation der Nazizeit hat Schmidt einen großen Bildungshunger entwickelt, der ihm bis heute geblieben ist: „Als ich mit gut sechsundzwanzig Jahren die Uniform wieder ausziehen konnte, hatte ich zwar Kriegs- und Lebenserfahrung dazugewonnen, aber weder Bildung noch Berufsausbildung.“ Jung genug, um neu anzufangen, begann er zu studieren und sich in der SPD zu engagieren.

Seine geistige Entflammbarkeit ist die eines Menschen, der im Erwachsenenalter Versäumtes nachholt, aber es ist nicht mehr die Entflammbarkeit der Jugend. Schmidt hat gelernt, dem Wirklichkeitssinn mehr als dem Möglichkeitssinn zu trauen. Er ist gut in der Analyse, stark in der Umsetzung, treffend in der Beschreibung, mit kräftiger Stimme eloquent wie wenige andere. Dabei ist er alles andere als prinzipienlos, ringt um die ethische Fundierung seiner Entscheidungen, wobei ihm gute Absichten nie genügt haben. Ein verantwortungsvoller Politiker muss für ihn vor allem für die Folgen seines Handelns einstehen können. Schmidt ist einer Verantwortungs-, nicht einer Gesinnungsethik verpflichtet.

Seine Nüchternheit ist nicht zu verwechseln mit Kälte. Die Menschen, die ihn näher kennen, schätzen ihn als geradlinig, offen, blitzgescheit und verlässlich. Mit wichtigen ausländischen Regierungschefs seiner Amtszeit, wie Valéry Giscard d’Estaing, Gerald Ford, Leonid Breschnew, Deng Xiaoping, ist er zumeist gut ausgekommen, mit Jimmy Carter weniger. Seine Partei dagegen hat es ihm nie einfach gemacht. Der linke Flügel wollte den Realitäten, denen Schmidts Handeln folgte, nicht gerne ins Auge schauen. Trotzdem war und ist er überzeugter Sozialdemokrat. Dass er gelegentlich auch die eigene Partei kritisiert, liegt daran, dass er als elder statesman kein Blatt mehr vor den Mund nehmen muss – eine Freiheit, die er zu genießen scheint. Verlässlich ist er auch im Privaten. Seit über 65 Jahren ist er mit ein und derselben Frau verheiratet. Das ist in unserer Zeit wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Bei der Feier zu seinem 80. Geburtstag sagte Schmidt in Anwesenheit von Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder, mancher Parteifreund könne sich eine Scheibe davon abschneiden. Solche Seitenhiebe gehören ebenso zu „Schmidt Schnauze“ wie die Fähigkeit zur Selbstkritik. Zugleich hat er eine Selbstsicherheit, die er anderen nicht selten in aller Deutlichkeit zu spüren gibt.

Als Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 nach dem Rücktritt Willy Brandts zum Bundeskanzler gewählt wurde, war er auf das Amt gut vorbereitet. Als Fraktionsvorsitzender, Verteidigungsminister und zuletzt Finanzminister hatte er Mut, Sachverstand und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen. Auch als Krisenmanager verschaffte er sich früh Respekt.

Seine gut acht Jahre andauernde Kanzlerschaft war von Beginn an überschattet von einer weltweiten Wirtschaftsflaute. Die beiden Ölkrisen von 1973/74 und 1979/80 machten der Industrie und den Menschen in Deutschland gleichermaßen zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Inflationsrate stieg, und auch die Verschuldung des Bundes nahm zu – keine günstige Zeit für wegweisende Reformen. Außenpolitisch setzte Schmidt die Entspannungspolitik seines Vorgängers fort, aber ohne große Hoffnung auf rasche Veränderungen. Die enorme Bedeutung Europas für Deutschland hat er gesehen. Gemeinsam mit seinem französischem Amtskollegen und Freund Giscard d’Estaing hat er wichtige Impulse für das Zusammenwachsen Europas gegeben.

Während seiner zweiten Amtszeit trat der Kalte Krieg mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan in eine neue heiße Phase. Terroristische Gewalt und ideologische Verblendung eskalierten im Deutschen Herbst 1977 mit der Entführung der „Landshut“ und der Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die RAF. Die Ernsthaftigkeit, mit der Schmidt die Last der Verantwortung trug, und die Standfestigkeit gegenüber den Forderungen der Terroristen sind Teil unseres nationalen Gedächtnisses geworden. Bei früherer Gelegenheit, der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Lorenz und der Freipressung von fünf Terroristen, ließ er sich zum Nachgeben überreden. Dadurch war die terroristische Gewalt aber nicht zu stoppen. Deshalb lehnte er 1977 jeden Kompromiss entschieden ab. Als Anhänger Karl Poppers wusste er, dass offene Gesellschaften durch Versuch und Irrtum lernen, und Schmidt hatte aus dem früheren Fehler die richtige Lehre gezogen.

Helmut Schmidts Regierungsbilanz kann sich sehen lassen. Gerade in Krisenzeiten hat er seine Führungsrolle kraftvoll ausgefüllt. In normaleren Umständen hat er sich ganz im Sinne Poppers den Dingen zugewandt, die man vorhersehen kann. Manches hat er dabei früher gesehen als andere. So war Schmidt der erste westliche Regierungschef, der auf die Gefahren der Aufstellung sowjetischer Mittelstreckenraketen in Mittel- und Osteuropa hinwies. Der Nato-Doppelbeschluss, an dem Schmidts Kanzlerschaft letztlich scheiterte, ging zurück auf seine berühmte Rede am Londoner International Institute for Strategic Studies im Jahre 1977. Schmidt gelang es, Deutschlands Bündnispartner zu überzeugen, nicht aber seine eigene Partei.

Im Rückblick fällt auf, dass Helmut Schmidts Name nicht mit einem herausragenden politischen Anliegen verbunden ist. Für Adenauer war es die Westbindung, für Brandt die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten, später für Kohl die deutsche Einheit. Das mag an den Umständen gelegen haben, an Chancen, die sich boten oder nicht boten. Möglicherweise hat es aber auch mit Schmidts Nüchternheit, seinem Unwillen gegenüber dem Visionären zu tun. Hat er nicht die Chancen zur deutschen Einheit, die geschichtsmächtige Kraft der Freiheit unterschätzt? Wären die Grünen bei den Neuwahlen 1983 in den Bundestag gekommen, wenn Schmidt in seiner vorausgegangenen Regierungszeit ein sozialdemokratisches Herzensprojekt gehabt hätte? Hat er es verstanden, die „Jungen Wilden“ der 68er-Generation einzubinden?

Als politischer Kommentator mit Biss und Pointe verdient Helmut Schmidt großen Respekt, ohne dass man gleich alle Ansichten teilen muss: In einem Interview zu seinem 80. Geburtstag hat Schmidt der FDP keine lange Überlebenszeit mehr gegeben. Das ist nun auch schon wieder zehn Jahre her.

Auch Schmidts Rat an die deutsche Politik, dass wir unsere eigenen Interessen am besten verfolgen, wenn wir uns außerhalb Europas nicht einmischen, kann mich nicht überzeugen. Im Zeitalter globaler Verflechtung wirken sich Fehlentwicklungen in anderen Teilen der Welt unmittelbar auf unseren Wohlstand und unsere Sicherheit aus. Wir würden uns selbst schaden, wenn wir dabei tatenlos zusähen. Deshalb können wir uns aus der Weltpolitik nicht einfach heraushalten.

In einem Punkt hatte Helmut Schmidt doch so etwas wie eine Vision – auch wenn er es nicht so nennen würde. Bezeichnen wir es also lieber als kühne Idee, geboren aus einem Sinn für harte Realitäten: Der studierte Volkswirt erkannte, dass größere Schwankungen in den Wechselkursen, vor allem größere Kursausschläge des Dollars nach oben oder unten für die europäische Wirtschaft gefährlich sein können. Zur Stärkung der europäischen Wirtschaft entwickelte er deswegen in den 70er-Jahren zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten ein System fester Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen. Dahinter stand damals bereits das große Ziel, eines Tages eine gemeinsame europäische Währung zu schaffen, um unsere Ordnung möglichst stabil zu halten. Seit dem 1. Januar 2002 haben die Bürger nun tatsächlich den Euro in ihren Taschen.

„Wir dürfen von der Demokratie keine Wunder erwarten oder gar verlangen. Sie bleibt mit Schwächen und Unvollkommenheit behaftet, und es wird immer auch Streit geben“, schreibt Helmut Schmidt am Ende seines neuen Buches „Außer Dienst“. Als Politiker und Publizist hat er das Vertrauen der Bürger in unsere demokratische Ordnung gestärkt. In eher schwierigen, unübersichtlichen Zeiten ist diese Gabe wichtiger als vieles andere.