Reform der europäischen Finanzregeln – für eine bessere Verfassung Europas



Rede im Rahmen der Vortragsreihe Forum Constitutionis Europae des Walter Hallstein-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Professor Pernice,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

heute Abend spreche ich deutsch, wobei ich gleich hinzufüge – beim Hauptstadtpublikum muss man das ja sagen -: Wir Baden-Württemberger können alles, außer Hochdeutsch. Aber das wollen wir jetzt auch nicht weiter vertiefen. Ich will gleich zur Sache kommen. Als Walter Hallstein 1950, im Juni war es wohl gewesen, von Konrad Adenauer mit der Leitung der deutschen Delegation für die Schuman-Plan-Verhandlungen in Paris betraut wurde, da ging es bei der zu verhandelnden Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) nur scheinbar in erster Linie um eine wirtschaftlich bzw. wirtschaftspolitisch ausgerichtete Gemeinschaft.

In Wahrheit ging es darum, den Frieden in Europa zu sichern. Der Zweite Weltkrieg lag noch nicht lange zurück. Kohle und Stahl waren damals – fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Synonyme für die Rüstungsindustrie und damit für militärische und politische Macht. Deshalb haben nicht zuletzt auch die Alliierten diese Verhandlungen über die EGKS in erster Linie als politische Verhandlungen betrachtet. Und schon bald wollten damals die Alliierten – auch die Bundesrepublik – weiterführende Verhandlungen über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (die EVG) und eine Europäische Politische Gemeinschaft. Die EGKS-Verhandlungen waren also lediglich Vorläufer umfassenderer Verhandlungen zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und zu einer Europäischen Politischen Gemeinschaft – jedenfalls waren sie so gedacht. Sie sollten gewissermaßen als Pilotprojekt für weitere, umfassendere europäische Gemeinschaftsinstitutionen fungieren.

Bei der Konferenz in Messina im Juni 1955, wo die Grundlagen für die Römischen Verträge und damit für die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gelegt wurden, war diese Absicht zur politischen Integration noch deutlicher. Man sprach damals zum ersten Mal von der, jetzt sage ich es französisch, „finalité politique“ des Integrationsprozesses und von der Notwendigkeit, durch die Teilgemeinschaften auf das eigentliche Ziel der politischen Vollgemeinschaft hinzuarbeiten. Für die Jüngeren: Man hat den Plural verwendet, es waren ja drei Gemeinschaften: Wirtschaftsgemeinschaft, EURATOM und Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Montanunion. Das Projekt der Verteidigungsgemeinschaft war ja 1954 in der französischen Nationalversammlung leider gescheitert und seitdem ist eben für die europäische Integration – und offensichtlich bis heute – das Grundprinzip bestimmend, dass die wirtschaftliche Einheit der politischen Einigung vorausgeht, aber zur politischen Einigung führen soll. Also wirtschaftliche Entwicklungen laufen den politischen Entwicklungen oftmals voraus und sie bedingen entsprechende politische Entwicklungen.

Im Wesentlichen diesem Prinzip folgend, hat sich die Europäische Union seit ihrer Gründung zu einer neuen Form einer supranationalen „governance“ entwickelt – also einem, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, Gebilde „sui generis“. Mit dieser Europäischen Union ist etwas Neues entstanden. Etwas Neues, das über die klassische Vorstellung vom Nationalstaat hinausgeht, weil es das absolute Regelungsmonopol des Nationalstaates durchbricht. Wir Juristen haben ja immer die Debatte geführt, ob es Bundesstaat oder Staatenbund ist. Die Debatte ist schon längst völlig veraltet. Die Europäische Union ist weder das eine noch das andere, sie ist etwas Eigenes. Sie verschiebt staatliche Zuständigkeit auf mehrere Ebenen, das ist das Neue. Sie entspricht damit übrigens nach meiner Überzeugung politisch-institutionell den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts geradezu idealtypisch, insbesondere der Globalisierung. Und wenn man sich fragt, warum eigentlich gerade in  Asien ein so großes Interesse an diesen europäischen Entwicklungen besteht und warum Asien übrigens ein Interesse daran hat, dass das europäische Modell gelingt, dann liegt es wahrscheinlich nicht zuletzt an diesem spezifischen Konstruktionsprinzip, den Nationalstaat zu ergänzen oder teilweise überzuführen in eine neue Form von internationaler und am Ende auch globaler „governance“. Warum mache ich diesen Ausflug in die Genese der europäischen Integration? Einfach deshalb, weil wir auch heute wieder, unter dem Eindruck der im vergangenen Jahr ausgebrochenen Krise der Eurozone, an einer Wegmarke hin zu mehr politischer Integration stehen.

Wir befinden uns aktuell in einer Situation, in der hochnervöse Finanz- und Kapitalmärkte testen, ob und inwieweit das spezifisch europäische Konstruktionsprinzip – nämlich eine Europäische Währungsunion ohne eine politische Union bei national definierten Haushalts-, Finanz- und Sozialpolitiken – funktioniert und funktionieren kann. Es war der Grund, warum viele bei der Einführung der Währungsunion skeptisch waren. Nicht nur in unserem Land, in Europa, sondern viel stärker noch im angelsächsischen Bereich, weil sie geglaubt haben, das funktioniert nie. Lange Zeit war es in den Vereinigten Staaten von Amerika relativ schwierig jemanden zu finden, der geglaubt hat, es wird mit dem Euro einigermaßen klappen. Sie sind inzwischen doch ein ganzes Stück weit eines Besseren belehrt, aber mit der Krise ist die Frage neu auf der Tagesordnung. Und diese zugrundeliegende Frage ist vermutlich der Hauptgrund unserer aktuellen Probleme, weil – da kann man lange darüber diskutieren -: Ist es nun eine Krise einzelner Länder oder wie? Aber die Grundlage diese Ansteckungsgefahr ist schon, dass diejenigen, die über die Finanzen und Anlagen Entscheidungen treffen, wie Manager bspw. großer Kapitalsammelfonds oder amerikanischer Pensionsfonds sagen: Irgendwie vertrauen wir nicht so richtig, wir glauben es nicht so richtig, ob es funktionieren kann. Daraus ergibt sich ein Stück weit diese Nervosität. Die letzten Tage und Wochen – und insbesondere gestern – haben glücklicherweise gezeigt, dass die Nervosität doch nicht ganz so groß ist wie viele vorhergesagt haben.

Aber mit dieser Entwicklung, mit dieser Debatte ist im Grunde eingetreten, was schon Jean-Claude Juncker am Vorabend der Einführung des europäischen Bargelds am 1. Januar 2002 prophezeit hat. Juncker hat damals gesagt: „Der Euro wird einmal als der Vater aller europäischen Dinge angesehen werden. Der Euro zwingt dazu, uns existenziell mit den europäischen Fragen zu beschäftigen, sie zu kanalisieren“. Meine Damen und Herren, an diesem Punkt sind wir aktuell – wir müssen uns mit der wichtigsten europäischen Frage beschäftigen: Wie geht es weiter mit der politischen, insbesondere der wirtschafts- und finanzpolitischen Integration?

Und natürlich müssen wir diese Debatte einschließlich ihrer ökonomischen und finanzpolitischen Dimensionen auch in den verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Rahmen einordnen. Einerseits kann niemand bestreiten, dass der Nationalstaat sein Regelungsmonopol verloren hat – meines Erachtens, wenn Sie mir diesen Ausblick erlauben, sind wir ja mit der Bismarck’schen Reichsgründung im Grunde schon ein bisschen spät gekommen mit diesem Nationalstaat, und das entspricht ja auch Plessners Wort von der verspäteten Nation. Und, weil er spät kam, haben wir es wie die meisten Konvertiten hinterher übertrieben. Und dann haben alle die Katastrophe des 1. Weltkriegs, nicht nur die Deutschen sondern zumindest alle Europäer, nicht wirklich verstanden – sie haben jedenfalls nicht die richtigen Lehren gezogen, und dann musste am Ende noch Hitler, der 2. Weltkrieg und die europäische Teilung kommen, bis wir mit der Einigung Europas endlich etwas Neues auf den Weg gebracht haben. Das ist ein bisschen kurz, die Geschichte von 1870 bis 1990, aber im Kern zeigt es ein wenig von diesem Prozess, von dem Ende des Regelungsmonopols. Ich glaube, andere haben das gelegentlich als die Westfälische Ordnung bezeichnet, das mit der nationalen Souveränität und mit all diesen Dingen. Da spielen viele andere Fragen mit hinein. Ich will es nur erwähnen. Das ist die eine Seite. Andererseits will aber niemand einen europäischen Superstaat. Ein europäischer Superstaat würde ja im Grunde nur das Regelungsmonopol des überholten Nationalstaats auf eine größere Einheit zu übertragen versuchen. Das wäre weder etwas Neues, noch etwas Gescheites. Und deswegen brauchen wir eben das Neue – sui generis -, wie das Bundesverfassungsgericht gesagt hat. Wobei wir Juristen gegenüber den Nicht-Juristen zugeben müssen: Wenn Juristen nicht wissen, wie sie etwas einordnen sollen in herkömmliche Kategorien, dann greifen sie auf ihren lateinischen Wortschatz zurück und sagen „sui generis“.

Aber damit stellt sich das Problem der demokratischen Legitimation politischer Entscheidungen auch auf neue Weise, das ist eines der institutionellen Probleme. Der Lissabon-Vertrag setzt sich mit diesem Problem ebenso auseinander wie die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Und ich will die verfassungsrechtliche Problematik an dieser Stelle nicht weiter verfolgen, weil ich als Finanzminister hier bin und weil ich auch beim Thema bleiben will, und weil wir genügend Zeit für Diskussion haben wollen. Aber einen kleinen Hinweis mache ich wieder und wieder, wenn ich vor verfassungsrechtlich Interessierten über die Europäische Einheit Ausführungen mache. Ich mache nämlich den Hinweis, für die Jurastudenten sage ich: „Der Blick ins Gesetz ist manchmal auch hilfreich. Im Grundgesetz ist es auch gut. Man schaut gelegentlich rein und wenn man vorne in die Präambel schaut – und die ist insoweit seit 1949 unverändert geblieben. Wir haben sie bei der Neuformulierung im Einigungsvertrag, das weiß ich genau, da war ich ziemlich dran beteiligt, nicht verändert -,  da steht als Ziel: „Das deutsche Volk ist von dem Willen beseelt…“ – und jetzt kommt es wortwörtlich: „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten 1949 ziemlich genau und ziemlich klar, was die Voraussetzungen dafür waren, dass Deutschland, um Fritz Stern zu zitieren, „seine zweite Chance“ überhaupt bekommen konnte. Wir sollten es auch heute, nachdem wir 60 Jahre soviel Glück gehabt haben, nicht vergessen, auch nicht bei verfassungsrechtlichen Debatten.

Bevor ich meine Überlegungen zur verstärkten wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenarbeit in Europa bzw. in der Eurozone darlege, muss ich natürlich zunächst einmal einige Punkte festhalten, die für die Frage, wie wir den Euro und die Europäische Währungsunion dauerhaft stabilisieren können, und warum das in unserem Interesse ist, von großer Bedeutung sind.

Erste Bemerkung: Wir erleben im Kern keine Krise des Euro, sondern wir erleben Krisen in einzelnen Staaten, die zum gemeinsamen europäischen Währungsraum gehören, und diese Krisen haben Ihre Ursachen in wirtschafts- und finanzpolitischem Fehlverhalten einzelner Länder wie in Griechenland oder in einem aus den Fugen geratenen Bankensystem wie in Irland. Wir haben es schon deshalb mit einzelnen Staatsschuldenkrisen oder Krisen der öffentlichen Finanzen in einzelnen Ländern und nicht mit einer Währungskrise zu tun, weil sowohl der äußere wie der innere Wert der europäischen Gemeinschaftswährung – trotz aller Turbulenzen – beeindruckend stabil ist. Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, weist darauf mit Recht wieder und wieder hin, der innere Wert, also die Teuerungsrate in der Eurozone, liegt im Durchschnitt unterhalb der Zielgröße der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent – das war die Zielgröße. Wir hatten – um ganz korrekt zu sein, im Dezember vergangenen Jahres – einen Monat mit 2,2 % einen kleinen Ausreißer, aber sie sehen daran schon, langfristig gesehen ist der innere Wert sehr stabil. Seit ihrer Gründung vor elf Jahren kann die Europäische Zentralbank regelmäßig geringere Inflationsraten aufweisen als einst die Bundesbank zu D-Mark-Zeiten.

Nicht schlechter steht es um den Außenwert des Euro: Aktuell kostet der Euro jeden Tag – im Moment geht er wieder ein bisschen hinauf – aber er liegt im Moment wieder über 1,35 US$. Bei seiner Einführung mussten für einen Euro lediglich 1,18 US$ bezahlt werden, und als das Bargeld eingeführt wurde, war der Euro unterhalb der Dollar-Parität. Es kann also heute bei über 1,35 von einem schwachen Euro keine Rede sein, im äußeren wie im inneren Wert nicht. Das Versprechen – das haben wir damals gegeben -, dass der Euro mindestens so stabil sein werde wie die D-Mark, ist bis auf den heutigen Tag eingelöst worden. Die Europäische Zentralbank erfüllt ihr Mandat, und es gibt keinerlei Zweifel, dass sie dies auch in Zukunft tun wird und dass sie auch damit das Vertrauen in den Euro weiter stärkt. Wir haben Preisstabilität geliefert, und das ist genau das, was übrigens die Deutschen erwartet haben und auch erwarten durften. Die Tradition der D-Mark als stabile Währung wurde und wird eindeutig fortgesetzt.

Die zweite Bemerkung: Deutschland ist in die internationale Arbeitsteilung mit Ausfuhren und Einfuhren stärker eingebunden als alle anderen vergleichbaren Länder. Nimmt man Einfuhren und Ausfuhren zusammen und setzt sie ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, ist unsere Verflechtung in die internationale Arbeitsteilung doppelt so hoch als die von Japan – um nur eine Anmerkung zu geben, wie stark diese ist.

Deshalb haben uns die Auswirkungen der Finanz- und Bankenkrise 2008 härter getroffen als andere mit einem Rückgang unseres Bruttoinlandsprodukts um 4,7 % in 2009. Wir haben jetzt mit einem Wachstum im vergangenen Jahr von 3,6 % einen Großteil davon wieder aufgeholt, wobei mittlerweile auch kaum noch bestritten wird, national nicht und auch in Europa nicht und international immer weniger, dass eine konsequente Reduzierung der zu hohen Staatsverschuldung Wachstum nicht behindert, sondern langfristig nachhaltig begünstigt. Der amerikanische Präsident hat in seiner Botschaft (State of the Union) gestern das auch gesagt. Ich habe es mit Freude gehört, denn vor einem halben Jahr mussten wir uns immer noch gegen den Vorwurf wehren, wir würden mit unserer Defizitreduzierung das weltweite Wachstum behindern. Inzwischen stellt sich heraus: Wir sind eher eine Wachstumslokomotive als das Gegenteil. Der Sachverständigenrat hat vorhergesagt, dass in diesem Jahr 2011 der Großteil unseres Wachstums auf Binnennachfrage beruhen wird. Aber ohne unsere Erfolge im Export – auch wenn inzwischen die Binnennachfrage nachzieht – wäre das so nicht möglich, und diese Erfolge im Export wären ohne die gemeinsame Währung, die uns vor Wechselkursschwankungen weitgehend bewahrt hat, nicht möglich. Man muss wieder und wieder sagen: Nehmen wir die Bankenkrise seit 2008. Wir hätten dann solche Verzerrungen im Währungsgefüge, insbesondere in Europa gehabt mit Auf- und Abwertungen ohne Ende, das hätte zu fürchterlichen Verschlechterungen für unsere Wirtschaft geführt. Es gehen fast zwei Drittel unserer Exporte in Mitgliedsländer der Europäischen Union, und weitgehend sind wir damit von Wechselkursschwankungen befreit. Das wäre ohne die gemeinsame Währung nicht möglich und deswegen, wenn Sie als Finanzminister oder sonst als ein Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in europäische Gremien kommen, dann sind sie immer zu ihrer Überraschung damit konfrontiert, dass die meisten anderen nicht denken, wir wären nur Wohltäter für die Europäische Währungsunion sondern sie sagen, wir würden den größten Nutzen aus dieser gemeinsamen Währung ziehen. Da sagen wir dann, das tun wir aufgrund unserer Wettbewerbsfähigkeit, das ist alles auch wahr. Nur manchmal ist es ganz gut, wenn man die Sichtweise anderer sich gelegentlich auch verdeutlicht.

Und meine dritte Bemerkung ist: Bei der Formulierung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, damals bei der Gründung der Europäischen Währungsunion, da wurde die in der Finanz- und Bankenkrise 2008 sichtbar gewordene globale Vernetzung der Finanzmärkte noch nicht vorhergesehen. Sie konnte auch nicht vorhergesehen werden, denn sie hat entscheidend mit dem unglaublichen Fortschritt in der Kommunikationstechnologie zu tun und damit, dass die Märkte inzwischen im Sekundentakt weltweit miteinander vernetzt sind und daraus kommt eine Volatilität, die alle bisherigen Vorstellungen sprengt. Damals hat man geglaubt: Die unterschiedlichen Zinsen für die Mitgliedstaaten der gemeinsamen Währung würden ausreichend Anreiz und Sanktion für die Einhaltung der gemeinsam verabredeten Rahmen für Finanzpolitik und für Defizitreduzierungen oder -begrenzungen bedeuten. Das ist im Prinzip auch richtig. Deswegen sind wir auch der Überzeugung, dass wir nicht ersatzlos auf das Zinsrisiko verzichten können, weil wir sonst den Mechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspaktes außer Kraft setzen. Wer nicht solide wirtschaftet, zahlt höhere Zinsen, wer solide wirtschaftet, hat niedrigere Zinsen. Wer die Zinsen letztlich nicht mehr tragen kann, kommt in den Beistandsmechanismus mit einer strengen Konditionalität. Das funktioniert alles, aber das systemische Risiko hat man damals nicht vorausgesehen. Aber für das systemische Risiko, nämlich die Gefahr der Ansteckung durch die Schuldenkrise eines Landes für andere Euroländer und für die Eurozone als Ganzes, trifft dieser Mechanismus keine ausreichende Vorsorge und das ist die Erfahrung des vergangenen Jahres gewesen, und deswegen müssen wir daran arbeiten wie wir dieses Instrumentarium so weiter entwickeln. Und genau da sind wir bei dem Punkt. Man muss sich klar machen, Griechenland hat einen Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung der Eurozone von etwa 2,4 % (weniger als mein Heimatland Baden-Württemberg, um nur mal die Größenordnung zu beschreiben). Dass die Staatsschuldenkrise eines so relativ kleinen Landes solche Auswirkungen für die gesamte Euro-Zone haben könnte, hatte man sich nicht vorstellen können.

Aber es ist Tatsache, dass diese griechische Krise, genauso wie die Krise Irlands, das Vertrauen in den Euro insgesamt geschwächt hat. Und deshalb ist die Frage, wie die Eurozone als Ganzes gestärkt werden kann, eine systemische Frage, auf die wir eine systemische Antwort finden müssen. Vielleicht darf ich an der Stelle noch eine Bemerkung einschieben: Was gelegentlich in öffentlichen Betrachtungen auch nicht so ganz klar gesehen wird: Wir alle haben, alle Mitgliedstaaten der Euro-Zone, einen hohen Finanzierungsbedarf. Allein der Bund, wir reden ja gar nicht von Ländern und Kommunen, muss in diesem Jahr am Finanzmarkt über 300 Milliarden Euro Kredite aufnehmen. Wenn Sie mal einfach rechnen, der Bund muss bei Altschulden in Höhe von rund 1.000 Milliarden (sie liegt ein bisschen höher, aber zum Rechnen reicht eine Billion), deren Laufzeiten zum Teil auslaufen, bei einer unterstellten durchschnittlichen Laufzeit der Anleihen von fünf Jahren, jedes Jahr 200 Milliarden refinanzieren. Hinzu kommt unsere Neuverschuldung. Also muss die Finanzagentur des Bundes in diesem Jahr über 300 Milliarden auf dem Finanzmarkt platzieren. Wir müssen jeden Tag diejenigen, die Investitionsentscheidungen an den Finanzmärkten der Welt treffen, davon überzeugen, dass sie in Euro und in Europa investieren. Die Eurozone, die Mitgliedsländer der Eurozone haben in den ersten drei Monaten dieses Jahres einen Finanzierungsbedarf von rund 500 Milliarden Euro, und wenn eben diejenigen, die sagen wir mal für einen Investitionsfonds, nehmen wir den Pensionsfond einer Lehrergewerkschaft oder Lehrervereinigung in Kalifornien, wenn der Manager dieses Fonds sagt: Sei mal ein bisschen vorsichtig mit Investitionen in Euro und gibt dafür bestimmte Grenzen, dann ist das eines der Probleme, dass ganz schnell zu einem Problem für die Eurozone als Ganzes wird. Das ist in einer trivialen Form die Erklärung, warum wir systemische Risiken haben, auf die wir systemische Antworten finden. Zu diesen Antworten gehört, mehr Haushaltsdisziplin in allen Mitgliedstaaten der Eurozone nicht nur einzufordern, sondern auch durchzusetzen. Und dazu gehört auch, nicht nur auf die öffentlichen Haushalte zu schauen, sondern auf die Wirtschaftskraft der einzelnen Mitgliedsländer und die wirtschaftspolitische Koordinierung zu verbessern, um zu große Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden, das kann allerdings nicht in der Form gehen, dass die erfolgreichen Länder gewissermaßen freiwillig ihre Wettbewerbsfähigkeit einschränken, sondern es kann nur auf dem Weg gehen, dass die, die ein bisschen schwächer sind, besser werden. Darüber besteht inzwischen auch Konsens. Und dann brauchen wir Instrumente, mit denen wir die Ansteckungsgefahren bei etwaigen Krisen für den Euro als Ganzes bekämpfen können.

Noch einmal: Eine starke gemeinsame Währung ist die Grundlage unseres gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolgs. Im Laufe des vergangenen Jahres ist – wenn auch langsam – die Einsicht gewachsen, dass wir auf den Erfolg der europäischen Einigung und der gemeinsamen Währung angewiesen sind. Insofern hat die Krise schon ihr Gutes bewirkt. Alle Meinungsumfrage zeigen: Bei allen Sorgen, ist die Einsicht in allen Umfragen gewachsen. Deswegen, es war richtig, Griechenland mit Krediten zu helfen und im Anschluss daran einen Schutzschirm für den Euro insgesamt zu schaffen. Auch wenn es natürlich schwer fällt, für das Fehlverhalten anderer Länder einzutreten. Aber ich bin zuversichtlich, dass unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger zunehmend verstehen, dass es im eigenen, wohlverstandenen deutschen Interesse, auch in unserem eigenen wohlverstanden Interesse notwendig ist. Und im Übrigen ist wahr, was die Bundeskanzlerin gesagt hat, sie haben es zitiert, mit dem Euro würde die europäische Einigung insgesamt zur Disposition stehen. Und es gibt, ich habe das Unwort des Jahres sorgfältig im Kopf, deswegen formuliere ich sorgfältig, es gibt angesichts der Herausforderungen der Globalisierung zur europäischen Einigung für Deutschland und für unsere Nachbarländer keine bessere ökonomische und keine bessere politische Alternative: Bei unserer wirtschaftlichen Verflechtung in die internationale Arbeitsteilung und bei unserer Abhängigkeit von globalen Entwicklungen im Bereich der Sicherheit, in der Energie- und Rohstoffversorgung und bei der Bewahrung von Umwelt und Klima, bei alldem ist jedes einzelne europäische Land – auch die Bundesrepublik Deutschland mit nur knapp 1 % der Weltbevölkerung bei rasch abnehmender Tendenz übrigens – wir alle sind zu klein, um unseren Interessen, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Das geht nur in europäischer Gemeinsamkeit.

Und die Europäische Einigung hat uns das wertvollste Geschenk gemacht – auch wenn es ein Geschenk ist, das, weil es so selbstverständlich geworden ist, nicht mehr von allen gewürdigt wird-: Nämlich die längste Friedensperiode, die es für die Staaten Europas jemals gab. Natürlich glaubt heute niemand mehr ernsthaft an einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, und damit kann man das auch nicht mehr begründen. Um einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern, brauchen wir den Euro nicht. Das ist übrigens nicht schlecht, sondern ein großer Erfolg, wenn man überhaupt Verständnis für Geschichte hat. Und das ist gut, dass die junge Generation sagt: „Hört uns mit dem alten Zeug auf, das ist doch nun schon längst erledigt.“ Aber es heißt ja wohl nicht, dass die Spannungen und Spaltungen in Zeiten der Globalisierung –nehmen Sie das Stichwort: Rohstoffe und Energie – geringer geworden wären. Oder überlegen Sie sich mal, was der afrikanische Kontinent an Problemen noch für Herausforderungen an uns stellen wird. Schauen Sie ein bisschen, was aus Tunesien ausgeht an Herausforderungen für uns. Vielleicht auch an Chancen. Aber der Übergang wird immer im Großen gesehen. Also, wir brauchen, wie immer wir es betrachten, ein politisch wie wirtschaftlich geeintes Europa in den kommenden Jahrzehnten der Globalisierung so notwendig wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Damals war es die Lehre aus zwei Weltkriegen, dann hatten wir Europa zur Bewahrung von Frieden und Freiheit im Kalten Krieg, und heute brauchen wir die europäische Einigung als Beitrag zur „global governance“, mit der wir versuchen müssen mit aller Kraft, dass in diesem 21. Jahrhundert die Spannungen und Verteilungskämpfe weltweit einigermaßen beherrschbar bleiben. Vielleicht sind wir dann ein bisschen erfolgreicher als im letzten Jahrhundert. Vor 100 Jahren waren wir auch ziemlich weit in der Globalisierung und sehr optimistisch und dann kam diese Katastrophe.

Da wir uns an einer juristischen Fakultät befinden, will ich – auch als Jurist – den Eindruck vermeiden, ich würde Deutschlands Engagement für den Euro nur ökonomisch und politisch zu begründen suchen und mich um eine juristische Würdigung der Euro-Stabilisierungsmaßnahmen „herumdrücken“: Spätestens im Deutschen Bundestag, der Kollege Krichbaum, wir werden uns ja demnächst wieder haben. Es wird ja teilweise in Frage gestellt, dass die Krisenbewältigungsmaßnahmen des Jahres 2010, also die Griechenlandhilfe sowie der Euro-Rettungsschirm, mit dem EU-Primärrecht kompatibel seien.

Ich teile diese Sichtweise nicht. Nach wie vor ist jedes Mitgliedsland der Eurozone für seine eigenen Verbindlichkeiten verantwortlich. Es ist kein Verstoß gegen das Bail-out-Verbot. Es geht bei den Hilfsmaßnahmen um Kredite, die unter klaren Bedingungen, deren Einhaltung überwacht wird, vergeben werden. Die Bedingungen erfordern eine Änderung der Politik, die Konsolidierung der Haushalte und die Umsetzung von Strukturreformen – alles mit dem Ziel, die betroffenen Länder auf einen Pfad nachhaltigen Wirtschaftswachstums zurückzubringen. Über die Einhaltung dieser Bedingungen wachen die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission. Die Kredite sind weder Transfers noch Geschenke. Im Übrigen: Der Andrang der Bewerber für den Rettungsschirm ist ja überschaubar. Die wehren sich alle mit Händen und Füßen. Weil in Wahrheit dieser Mechanismus funktioniert. Erst kommen die Spreads, die höheren Zinsen sind nicht mehr tragbar, braucht man Beistand, ist die Konditionalität so, dass man Maßnahmen zur Sanierungen in Kraft setzen muss, die man sich vorher gar nicht vorstellen konnte. Meine Damen und Herren, da wir in den deutschen Medien nicht überall freundlich über Griechenland im letzten Jahr geredet haben, will ich doch hinzufügen: Was Griechenland an Anpassungsmaßnahmen inzwischen auf den Weg gebracht hat, hätte kaum jemand für möglich gehalten und es zeigt, dieser Mechanismus funktioniert im Prinzip.

Die Hilfen für Griechenland, auch die Maßnahmen unseres Stabilisierungsmechanismus sind mit unserem Verfassungs- und Europarecht vereinbar. Die Maßnahmen der Mitgliedstaaten waren dringend erforderlich, um Gefahren für die Finanzstabilität in der Europäischen Union und letztlich auch für die Euro-Währung im Ganzen abzuwehren. Unabhängig davon, ob das Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV die vereinbarten bilateralen Maßnahmen überhaupt tatbestandlich erfasst – ich bin der Meinung, er fasst es überhaupt nicht -, aber sie verstoßen jedenfalls, selbst wenn man sie tatbestandlich darunter subsumieren wollte, nicht gegen die Vorschrift. Art. 125 AEUV bezweckt zwar die Einhaltung der Haushaltsdisziplin der Eurozonen-Mitgliedstaaten durch den Zwang, Kredite zu Marktkonditionen aufzunehmen. Aber wenn die Mitgliedstaaten auf die Maßnahmen zur Unterstützung Griechenlands verzichtet hätten, wären gravierende Folgen auch über das Euro-Währungsgebiet hinaus zu befürchten gewesen. Vor diesem Hintergrund hätte eine Berufung auf Art. 125 AEUV ohne Berücksichtigung des Normzwecks die Wirtschaft und auch die Währung der Eurozone aller Mitgliedsländer, auch Deutschland, erheblich gefährdet. Eine Anwendung des Art. 125 AEUV hätte also gerade zu dem Ergebnis geführt, das die Vorschrift verhindern soll, nämlich zu einer Gefährdung der Eurozone insgesamt. Art 125 AEUV ist auf den Fall einer bereits bestehenden akuten Gefahr für die Finanzstabilität des Euro-Systems als solchem mit den systemischen Risiken und Konsequenzen nicht zugeschnitten. Deshalb haben sich die Staaten des Euro-Währungsgebietes zu Recht zum Handeln entschlossen.

Auch die EU-Hilfen im Rahmen des Rettungsschirms sind mit Verfassungs- und Europarecht vereinbar. Art. 122 Abs. 2 AEUV ermächtigt die EU zu finanziellen Notfallmaßnahmen. Der Rat hat die Verordnung (EU) Nr. 407/2010 auf Art. 122 Abs. 2 AEUV gestützt. Der Finanzstabilisierungsmechanismus stellt eine zulässige Notfallmaßnahme dar. Er ist keine Dauereinrichtung, und im Übrigen widerlegt auch die strikte Konditionalität das oberflächliche Gerede von der „Transferunion“. Man kann über Transferunionen, was sich dahinter verbirgt, trefflich streiten, aber dass einer für andere bezahlt, die nicht so fleißig arbeiten, wird durch die Konditionalität wirklich widerlegt. Und noch einmal: Wäre es anders, wenn der Rettungsschirm eine bequeme Hängematte wäre, dann wäre schwer zu erklären, warum sich Euroländer mit Problemen gerade nicht unter den Schirm drängen, sondern sich heftig dagegen wehren, dass sie wegen der systemischen Ansteckungsgefahr geradezu dazu gedrängt werden müssen.

Wenn ich noch einmal auf das grundlegende Konstruktionsprinzip der europäischen Einigung Bezug nehme, dann haben die jüngsten Ereignisse gezeigt, dass eine gemeinsame Währung nicht ohne Solidarität der Mitglieder auskommt, Solidarität, die an klare Regeln gebunden sein muss. Dabei kann sich Solidarität nicht auf die Verpflichtung beschränken, den Mitgliedsländern, die in Problemen sind, Beistand zu leisten, sondern Solidarität erfordert genauso die Bereitschaft, die Ursachen der Probleme zu beseitigen. Solidarität ist niemals eine Einbahnstrasse. Und deswegen habe ich mich mit Nachdruck dagegen verwahrt, wenn gelegentlich auch von der Europäischen Kommission den Eindruck erweckt wird, Solidarität sei nur eine Anforderung an die 6 Euroländer, die über eine Triple A-Bewertung verfügen. Man muss vielleicht sagen: Von den 17 Mitgliedsländern der gemeinsamen Währung (seit 1. Januar sind es 17), verfügen sechs (Frankreich, Deutschland, Niederlande, Luxemburg, Österreich, Finnland) über Triple A. Nur sechs. Und europäische Solidarität kann sich nicht auf Anforderungen an diese sechs beschränken, sondern alle müssen ihre Beiträge leisten insbesondere auch diejenigen, die die Probleme verursacht haben. Wie kommen wir vor diesem Hintergrund weiter? Wobei Sie natürlich verstehen werden, dass ich als Finanzminister mir in den kreativen Überlegungen ein Stück weit eine Beschränkung auferlegen muss, das ist klar, damit Sie nicht zu weit gehende visionäre Vorstellungen von mir heute erwarten. Das würde zu einer Beunruhigung zumindest der Finanzmärkte beitragen. Möglicherweise auch sonstiger Debatten im politischen Raum. Das will ich jetzt nicht weiter ausweiten. Aber, mit dieser Vorbemerkung sage ich, kurzfristig geht es darum, dass die bestehenden institutionellen Arrangements der Europäischen Währungsunion in der Lage sind, die Eurozonen-Mitglieder zu einer Finanz- und Haushaltspolitik zu verpflichten, die der Verantwortung für die gemeinsame Währung Rechnung trägt. Wie schon erläutert, Anreiz und Sanktion sind die „spreads“ , also das höhere Zinsrisiko, das darin ausgedrückt wird. Das funktioniert grundsätzlich auch. Deshalb darf dieser Mechanismus auch nicht ersatzlos gestrichen werden, weil wir durch eine Vergemeinschaftung des Zinsrisikos, wenn man nicht einen anderen Ersatz für die Sicherstellung der Einhaltung gemeinsamer Regeln für die Finanz- und Haushaltspolitik hat, den einzigen Mechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspakts außer Kraft setzen würden. Das ist der Punkt, der in einer verkürzten Debatte – meines Erachtens –  gelegentlich übersehen wird. Es wäre übrigens nach meiner festen Überzeugung ein verheerendes Signal für die Finanzmärkte. Denn die würden sofort verstehen: Jetzt wird der Euro nicht mehr eine stabile Währung sein. Also müssen wir die Debatte schon ein bisschen intensiver und sorgfältiger führen.

Aber dieser Mechanismus kann die Ansteckungsgefahren für andere Mitgliedstaaten der Eurozone, die sich aus einem Vertrauensverlustes der Finanzmärkte in die Funktionsfähigkeit des Euro insgesamt ergeben, nicht vermeiden. Und deswegen haben wir mit den Entscheidungen des Europäischen Rates vom Oktober und Dezember letzten Jahres Grundlagen geschaffen, um – über die kurzfristige Krisenbewältigung hinaus – mittelfristig eine dauerhafte Stabilisierung des Euro und der Europäischen Währungsunion zu erreichen. Wir werden die europäischen Finanzregeln in zentralen Bereichen reformieren und das hat insoweit der Europäische Rat schon beschlossen.

Erstens muss für eine dauerhafte Lösung das System zur Einhaltung gemeinsamer Rahmenbedingungen für nationale Finanz- und Haushaltspolitiken wirkungskräftiger werden. Hierzu werden wir die haushalts- und wirtschaftspolitische Überwachung im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts deutlich verschärfen. Der Pakt, er enthält mehr Biss, um eine stabilitätsgefährdende Politik einzelner Euro-Staaten zu verhindern. Die Mechanismen des Defizitverfahrens greifen früher und nach präziseren Kriterien. Zur Verschärfung gehört, dass Sanktionen bei Regelverstößen künftig früher und schneller verhängt werden und dass sie quasi ein ganzes Stück weit automatisiert werden. Das gilt übrigens auch für den Instrumentenkasten für Sanktionen, der beim Zugang zu bestimmten europäischen Fonds ergänzt wird. Und künftig wird für die Einleitung eines Defizitverfahrens gegen einen Euro-Staat auch der Schuldenstand eine wichtige Rolle spielen. Wir werden künftig nicht mehr zusehen, wenn Mitgliedstaaten durch eine falsche Politik Strukturprobleme befördern und ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit untergraben. Daran wird gerade in der Vorbereitung für den Europäischen Rat Ende März gearbeitet mit einem Pakt für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Ob und inwieweit die Regeln des europäischen Semesters zu veränderten Haushaltsausstellungsverfahren führen, ist eine technische Frage, die aber sehr wohl auch Bestandteil der Überlegungen der Vorarbeiten ist.

Zweitens brauchen wir einen neuen, robusten Krisenbewältigungsmechanismus für Notfälle. Denn auch mit einem noch so geschärften Stabilitäts- und Wachstumspakt werden wir nicht zu 100 Prozent ausschließen können, dass es eines Tages wieder zu einem extremen Krisenfall kommt, der die Stabilität der Euro-Zone insgesamt gefährden kann. Nur ein robustes Werkzeug kann die Stabilität der Euro-Zone dauerhaft sichern. Das kann nicht irgendein Krisenbewältigungsmechanismus sein, sondern es muss ein Mechanismus sein, der zunächst einmal rechtlich unangreifbar ist. Und das kann nur gelingen mit einer begrenzten Änderung der europäischen Verträge.

Klar ist auch, dass ein dauerhafter Krisenbewältigungsmechanismus nicht nur die Solidarität aller Euro-Mitgliedstaaten voraussetzt, sondern er muss im Restrukturierungsfalle auch eine Beteiligung der Gläubiger einschließen. Dafür hat der Europäische Rat am 17.12.2010 die Weichen gestellt, und mit der Aufnahme von Collective Action Clauses in alle ab 2013 zu begebenden Euro-Staatsanleihen wird das für Investoren kalkulierbar. Das ist übrigens für die Finanzmärkte keine so ganz neue Erfahrung. Man muss dies nur für die Eurozone auch einführen. Bei dem Instrument für einen solchen Europäischen Stabilisierungsmechanismus, der ja dann die Nachfolge für die jetzige Finanzierungsfazilität in Luxemburg darstellen soll ab Mitte 2013. Bei dem Instrumentenkasten dieses Mechanismus werden wir übrigens die Frage zu beantworten haben, was dauerhaft die Aufgabe einer unabhängigen Europäischen Zentralbank sein soll und was nicht. Das war bei der Gründung der Europäischen Währungsunion eine zentrale Frage, denn für uns Deutsche wahr es nahezu ein Symbol, dass die EZB nach den Regeln der Deutschen Bundesbank unabhängig, autonom und ausschließlich der Sicherung der Stabilität des Geldwertes verpflichtet sein soll. Das Gegenbeispiel ist die amerikanische „federal reserve“. Es muss diese Frage auch für die Zukunft beantwortet werden, nämlich die Frage – demokratie-theoretisch, wenn Sie so wollen – was fällt in die Zuständigkeit demokratisch legitimierter Entscheidungen und was wird der Zuständigkeit einer autonomen, nicht nach den Regeln demokratisch legitimierter Entscheidungen funktionierenden, ausschließlich der Geldwertstabilität verpflichteten Notenbank übertragen. Es wird Sie nicht überraschen, dass die Bundesregierung und der Bundesfinanzminister auch weiterhin für unser gefestigtes Verständnis von den Aufgaben einer unabhängigen Notenbank eintreten. Und es wird Sie auch nicht überraschen, dass in diesem klaren Bekenntnis – natürlich in Klammern, mit den Vorbereitungen, die ich vorher gemacht habe – auch die Frage enthalten ist: Was geben wir dem europäischen Stabilisierungsmechanismus an Instrumenten. Dabei muss man dann im Bewusstsein haben, was man der europäischen Notenbank, Zentralbank an dauerhaften Aufgaben nicht zuordnen will. Ja, irgendwo kommt es dann gelegentlich zur Aussage: Hic Rhodus, hic salta!

Drittens erwarten die Finanzmärkte eine Antwort auf die zentrale Frage: Wo liegen künftig die Verantwortlichkeiten der Nationalstaaten und wo enden sie, vor allem in der Haushalts- und Finanzpolitik? Unbestritten ist, dass Europa, vor allem die Eurozone, die nationalen Finanz-, Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung besser verzahnen müssen.

Weil wir die beschriebenen engen verfassungsrechtlichen, wie europarechtlichen Grenzen respektieren müssen, vor allem aber, meine Damen und Herren, weil die politischen Widerstände für eine weitere Vergemeinschaftung beim demokratischen Souverän in den allermeisten Mitgliedstaaten und damit auch in den Parlamenten derzeit unübersehbar sind, werden wir auf absehbare Zeit nur begrenzte institutionelle Fortschritte machen. Übrigens ist schon die Bereitschaft zu weiteren Vertragsänderungen nach den Erfahrungen mit dem Lissabon-Vertrag bei den meisten Beteiligten derzeit eher begrenzt. Selbst im Europäischen Parlament und in einer Reihe von Mitgliedstaaten war die Reaktion auf die Forderung der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin schon im März im Europäischen Rat, ich sage es mal in der Sprache des französischen Staatspräsidenten – der eine Fähigkeit zu besonders schönen und einprägsamen Formulierungen hat, was er beispielsweise dieser Tage, finde ich, damit bewiesen hat, dass er gesagt hat -: „Wenn die Europäische Kommission sagen will, dass die Preisentwicklung auf den Rohstoffmärkten nichts mit Spekulationen zu tun hat, dann empfehle ich den Bericht am 1. April zu veröffentlichen“. Das fand ich ja eine ganz gelungene Formulierung, deswegen gebe ich diese hier wieder. Eine spontane Reaktion von ihm war: Ich mache in meinem Leben – also, seinem politischen Leben, als Präsident der Republik – nicht noch einmal eine Vertragsänderung. Man muss dabei berücksichtigen, dass dieser Mann im Gegensatz zu seinen beiden Gegenkandidaten, Ségolène Royal und  François Bayrou, im Wahlkampf gesagt hat, er werde einen neuen Vertrag nicht einem Referendum unterwerfen, und man muss dabei wissen, mit einem zweiten Referendum hätten wir in Frankreich keinen neuen Vertrag zustande gebracht. Wenn man das im Auge hat, meine Damen und Herren, dann finde ich, dass es doch ein großer Erfolg war, dass die Bundeskanzlerin im Europäischen Rat am 17. Dezember vergangenen Jahres eine Einigung auf eine begrenzte Änderung des Artikels 136 AEUV erreicht hat. Übrigens haben ja die allermeisten vorher auch geschrieben, man kann es ja auch nachlesen, manche heben ja Zeitungen auf, sie werde krachend mit diesem Vorschlag scheitern. Sie ist nicht gescheitert.

Deshalb werden wir uns auf dem Weg zu mehr wirtschafts- und finanzpolitischer Zusammenarbeit auf absehbare Zeit auf Instrumente der intergouvernementalen Zusammenarbeit – insbesondere im Rahmen der für die EU in Artikel 136 geregelten verstärkten Zusammenarbeit in der Eurozone – konzentrieren müssen. Das mag grundsätzlich für die europäischen institutionellen Bewegungen nur die zweitbeste Lösung sein. Aber es ist die einzig realisierbare auf eine absehbare Zeit. Dabei stellt sich unter anderem die Frage der parlamentarischen Legitimation durch nationale Parlamente oder auch, ob diese parlamentarische Legitimation auf europäischer Ebene oder auch in der Eurozone ergänzt oder ersetzt werden kann. Unter dem Stichwort „17 plus“ wird die Frage aufgeworfen, ob nicht auf freiwilliger Basis Mitgliedstaaten, die noch nicht zur Eurozone gehören, aber zur Europäischen Union – nehmen Sie unseren Nachbarn Polen – an dem Abstimmungsprozess innerhalb der Eurozone mitwirken können. Und ich habe ja eine große Sympathie dafür, nicht zuletzt um zu verhindern, dass aus der verstärkten Zusammenarbeit in der Eurozone am Ende eine dauerhafte Spaltung der EU werden sollte. Für diejenigen, die ein Langzeitgedächtnis haben füge ich nur hinzu: Es gab mal ein Papier, wo über ein Kerneuropa auch viele Missverständnisse ausgelöst  wurden.  Da ich die beiden Autoren ziemlich gut kenne, kann ich in verbindlicher Interpretation sagen – man kann es auch nachlesen -, die haben das damals formuliert, um Europa voranzubringen und nicht, um Europa zu spalten, und das Ziel war immer: Eine Gesamtintegration.

Meine Damen und Herren, noch einmal: Niemand will einen europäischen Superstaat, der gewissermaßen alle Zuständigkeiten des klassischen Nationalstaates auf die europäische Ebene zu übertragen versuchen würde. Und weil dies so ist, muss an diesem europäischen Konstruktionsprozess festgehalten werden: Also staatliche und nationalstaatliche und europäische Zuständigkeiten klug auszubalancieren, ggf. die Verteilung auch wieder anzupassen an neue Entwicklungen, wie systemische Risiken, und jede Entscheidung auch demokratisch zu legitimieren.

Vor diesem Hintergrund ist eine – zunächst intergouvernemental praktizierte – verstärkte Zusammenarbeit der Eurozonen-Mitglieder das „Mittel der Wahl“ für eine bessere Abstimmung nationaler Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken. Ich bin dafür, den Rahmen einer so verstandenen „Wirtschaftsregierung“ und die Einzelheiten seiner effizienten und demokratisch legitimierten Entscheidungsfindung schnell zu klären. Ich bin auch dafür, eine Art „benchmarking“ einzuführen und in verschiedenen Politikbereichen voneinander zu lernen. Das aktuelle Projekt der deutsch-französischen Steuerangleichung mag dafür schon ein gutes Beispiel sein. Wir gehen ja manchmal im deutsch-französischen Verhältnis voran, das ist auch so eine Geschichte. Führen Deutschland und Frankreich nicht gemeinsam Europa voran, dann heißt es: Sie erfüllen ihre Aufgaben nicht. Tun sie es, dann heißt es: Sie wollen Europa dominieren. Man muss da immer so ein bisschen vorsichtig, diplomatisch damit umgehen. Aber ich glaube, dass es uns zurzeit ganz gut gelingt. Ich bin auch dafür, eine Anregung meiner französischen Kollegin aufzugreifen, nämlich „benchmarks“ in der Abstimmung von Wirtschafts- und Sozialpolitiken mit einer Art Schiedsverfahren zu verbinden. Sie hat aber nicht konkretisieren können, wie genau es aussehen soll, aber der Gedanke ist es wert, weiter verfolgt und vertieft zu werden. Und wie gesagt, es ist mir auch wichtig, dass wir keinen geschlossenen Club in der Eurozone bilden, sondern andere Mitgliedstaaten, die noch nicht zur Eurozone gehören, daran freiwillig – wenn sie denn wollen – mitwirken lassen.

Dieses Vorgehen mag für all jene, die jetzt nach der ultimativen Korrektur vermeintlicher Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion durch ein Mehr an politischer Union rufen, auf den ersten Blick enttäuschend klingen. Aber es entspricht – nach meiner Überzeugung – der Genese der europäischen Integration: Europa ist und Europa bleibt komplex und kompliziert, Europa geht schrittweise voran. Aber, meine Damen und Herren, bei aller Kompliziertheit, bei aller Mühsal, am Ende bewegt es sich doch. Und wenn wir einmal anschauen, was im Laufe eines halben Jahrhunderts, übrigens auch im letzten Jahrzehnt möglich geworden ist dann ist es immer viel mehr, als am Anfang für möglich gehalten worden ist. Und die letzte optimistische Bemerkung: Europa ist immer am Ende durch Krisen vorangebracht worden. Meine Überzeugung ist, die freiheitliche Gesellschaft – wir wissen dies von Popper – bewegt sich ohnedies durch das Lernen aus Irrtümern und die Korrektur von Irrtümern. Also, Krisen sind Chancen und deswegen bin ich ganz sicher, dass wird auch diesmal die Erfahrung sein, und deswegen stehen wir mit der Krise um die europäische Währung an der Weiche oder an der Schwelle einer neuen Phase europäischer Integration.

Herzlichen Dank!