Rede des Bundesministers der Finanzen Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen



Rede in Aachen

Herr Oberbürgermeister,

Frau Ministerpräsidentin,

lieber Jean-Claude,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ministerpräsidenten, Präsidenten, Exzellenzen,

liebe europäische Mitbürger,

das ist für mich eine außergewöhnlich bewegende Stunde und ich bin ein wenig stolz und zugleich demütig, mit dieser ganz außergewöhnlichen Ehre ausgezeichnet zu werden und in eine Reihe gestellt zu werden mit den bedeutendsten Müttern und Vätern der europäischen Einigung. Ich bin auch ein wenig bewegt – das darf ich nicht zugeben, sonst nutzt er das aus – durch das, was der Ministerpräsident Luxemburgs und mein Freund, Jean-Claude Juncker gesagt hat, nicht nur zu meiner Person, sondern vielmehr zu dem, was in Europa ist, was wir erreicht haben und was unser Auftrag ist.

Und, meine Damen und Herren, ja, es ist wahr: Europa wird vielfältig im Zusammenhang mit Krisen erwähnt und manchmal denkt man, es sei wirklich wahr.

Aber, meine Damen und Herren, wenn der Jugendpreis des Internationalen Karlspreis, in diesen Tagen an eine Vertreterin, eine junge Europäerin aus Griechenland verliehen wird, dann ist das doch die richtige Antwort.

Und so erinnert der Karlspreis wieder daran, dass Europa eine große Vision, eine große Idee, ein großes Streben und Sehnen nach Freiheit, nach Sicherheit, nach Stabilität, nach Rechtsstaatlichkeit, nach Wohlstand und nach Solidarität ist. Dieser Preis, der 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland, von Aachener Bürgern gestiftet wurde, die mit dem Ausdruck „Europa als Friedenswerk“ noch nicht einmal fünf Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs für diesen geschundenen Kontinent eine neue Vision formulierten. Diese Menschen standen erschüttert vor den Ruinen des alten Europa. Und sie waren sich einig: Europa ist, Europa muss und Europa kann mehr als Kleinstaaterei, als Neid, Misstrauen, Hass und Kampf sein.

Europa, meine Damen und Herren, ist Vielfalt und Kultur, ist Freundschaft und Miteinander, ist Nachhaltigkeit und Zukunft. Es ist doch kleinmütig, wenn wir Europa, wenn wir die europäische Idee nur auf Finanzfragen – so wichtig die sind – reduzieren wollten. Was wäre es für ein Kleinmut, wenn wir das europäische Projekt in Frage stellen wollten anstatt dass wir es einfach weiterdenken!

Und nun hat die längste Friedensperiode in der uns bekannten europäischen Geschichte, daran muss man erinnern, die Vision dieser Aachener Bürger zur Realität werden lassen. Aber natürlich macht der Erfolg dieses Friedenswerk nicht überflüssig, obwohl wir Menschen ja häufig dasjenige weniger schätzen, was uns selbstverständlich geworden ist. Vielleicht kennen Sie auch die Geschichte von den Deichbauern an der Nordsee, bei denen die Deiche alle vier bis fünf Generationen aufgrund von Vernachlässigung brachen, weil hinter den scheinbar sicheren Deichen niemand mehr die Schrecken der Sturmfluten vergegenwärtigte.

Also, der Auftrag der Karlspreisstiftung „Europa als Friedenswerk“ ist nicht erledigt. Jean Monnet hat einmal gesagt, die europäische Einigung sei ein Beitrag für eine bessere Welt. Übrigens, die Präambel unseres Grundgesetzes formulierte schon 1949 den festen Willen, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Und das, meine Damen und Herren, ist unsere Berufung und das muss unser Anspruch, der Anspruch von uns Europäern an uns selbst sein.

Wir müssen den Ehrgeiz haben, mehr als die Verteidigung des Status quo zu wollen. Der Schlüssel für unsere Zukunft liegt in Europa.

Und meine Damen und Herren, das, was wir in diesem 21. Jahrhundert Globalisierung nennen, also die sich beschleunigende Entnationalisierung und Verflechtung ökonomischer, politischer,, kultureller Systeme, das bringt neben großen Vorteilen – die darf man auch nicht vergessen – aber es bringt neben großen Vorteilen auch neue Unsicherheiten und neue Verteilungskonflikte mit sich. Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Klimawandel, internationaler Terrorismus, Pandemien, Migration, labile Finanzmärkte, knapper werdende Rohstoffe – alles Probleme, die die Möglichkeiten der Nationalstaaten heute überfordern. Und die Verteilungskonflikte zwischen den mehr oder weniger wohlhabenden Industrie-, den rasch aufstrebenden Schwellen- und den zunehmend wichtiger werdenden Entwicklungsländern, diese Verteilungskonflikte werden zumal vor dem Hintergrund der ganz unterschiedlichen demographischen Entwicklung, die Jean-Claude Juncker gerade angesprochen hat, ganz gewiss zunehmen.

Unser Europa hat mit seiner einzigartigen Vielfalt und Dynamik viel zum heutigen Zustand der Welt beigetragen – im Guten und nicht immer im Guten. Die Entwicklung von Industrialisierung und Globalisierung und als Folge davon Beschleunigung und Entgrenzung haben ihre Wurzeln letztlich in Europa. Globalisierung und neue Technologien erfordern eine neue Ordnung, und dazu werden die Fähigkeiten und die Erfahrungen Europas gebraucht.

Und deswegen müssen wir uns vergewissern, was verbindet uns Europäer? Was hält Europa zusammen? Ganz sicher seine weltweit einmalige Mischung aus Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, aus demokratischer Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit. Das hat etwas mit der jüdisch-christlichen Prägung Europas in seinen Anfängen zu tun, auch mit dem Erbe des klassischen Griechenland. Also der Dreiklang Athen, Rom, Jerusalem. Aber man kann auch an das Erbe der französischen Revolution erinnern – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Freiheit auf der Grundlage der Würde jedes einzelnen Menschen, wie es unser Grundgesetz formuliert, was übrigens notwendig die Gleichheit voraussetzt. Weil jeder auf das Zusammenleben mit Anderen angewiesen ist, geht das eben nicht ohne Brüderlichkeit, Solidarität, sozialen Ausgleich, soziale Gerechtigkeit.

Ich finde, dass sich die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc nannte, drückt diesen Zusammenhang zwischen Freiheit und Verbundenheit noch einmal aus. Und der Freiheitswille, auch daran muss man erinnern, der Freiheitswille der ost- und mitteleuropäischen Völker, der hat vor 20 Jahren das Ende des totalitären Sozialismus, das Ende der Ost-West-Teilung Europas – und wenn man so will – das Ende des Zeitalters der totalitären Systeme herbeigeführt. Freiheit und Verbundenheit – Solidarnosc. Freiheit und Gleichheit bedingen Demokratie, also Herrschaft der Mehrheit, aber eben auch Schutz des Einzelnen und von Minderheiten.

Das geht nicht ohne die Herrschaft des Rechts. Und so wirkt unser demokratischer Verfassungsstaat einschließlich seiner Systeme von Checks and Balances. Und das ist ein Markenkern Europas.

Die europäische Sicht auf die Welt im Zeitalter der Globalisierung schafft uns die Grundlage für die europäische Einigung im 21. Jahrhundert. Nur mit der Erinnerung an die Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts können wir, Gott sei Dank, junge Menschen heute nicht mehr überzeugen, warum Europa notwendig ist. Aber mit den Aufgaben im 21. Jahrhundert können wir die europäische Einigung begründen. Letztlich entsteht Identität immer durch die Begegnung mit dem Anderen. In dieser Begegnung, auch in der Abgrenzung, können wir Europäer uns selber erkennen. Und so definiert sich in der Herausforderung der Globalisierung Europa, und so kann Europa zugleich Antworten auf die drängenden Fragen liefern. Und dabei können wir auf unsere europäische Geschichte und europäische Erfahrungen aufbauen.

Der Namensgeber des Karlspreises – ich bin von Frau Lagarde ein bisschen in eine zu enge zeitliche Nähe mit ihm gebracht worden gestern Abend – der Namensgeber des Karlspreises hat ein auseinander fallendes Europa nicht nur militärisch zusammen gehalten, sondern vor allem auch durch eine Bildungsreform, durch die Einführung einer einheitlichen Verwaltung und eine europäische Schriftkultur. Die karolingische Renaissance hat Kunst, Literatur, Architektur über Jahrhunderte geprägt. Vielleicht hat sich Jean Monnet, ein Gründungsvater unserer wirtschaftlichen Integration, daran erinnert, als er später gesagt hat, wenn er noch einmal anfangen könnte, würde er mit der Kultur beginnen.

Übrigens sah sich Karl der Große auch ganz ähnlichen Problemen gegenüber wie wir heutigen. Er setzt in seinem Reich unter anderem den Silberdenar als reichseinheitliche Währung durch. Und am interessantesten, Jean-Claude, ist dabei, dass die Angelsachsen am Ende des 8. Jahrhunderts das karolingische Münzsystem teilweise übernommen haben und diese europäische Münzordnung hat in Großbritannien immerhin bis zum Jahre 1971 gegolten. Meine Damen und Herren, wenn das kein Grund zur Zuversicht ist!

Ohne die Parallelen überzustrapazieren, zeigte sicheben schon bei Karl dem Großen, dass europäische Integration etwas hervorbringt, was mehr ist als die Summe der Einzelteile. Grundlage für die europäische Integration müssen starke, handlungsfähige Institutionen sein bis zu gemeinsamem Geld und gemeinsamen Werten, einschließlich einer intensiven Förderung von Bildung und Kultur. Gemeinsame Institutionen und Werte verbinden uns Europäer, ohne Europa seine Vielfalt zu nehmen. Im Mittelalter verbanden Reichsidee und einheitliche Verwaltungsstrukturen einen Großteil Europas.

Danach wurde Europa wieder kleinteiliger. Weg von der größeren Einheit hin zu emotional vielleicht verständlicheren, dynastischen und später nationalen Strukturen. Und seit dem Westfälischen Frieden am Ende des 30-jährigen Kriegs wurde die nationale Souveränität Grundlage einer rechtlichen Ordnung, nach innen im Gewaltmonopol des Staates und nach außen im völkerrechtlichen Interventionsverbot. Also Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Aber in den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts spätestens hat der Nationalstaat auch seine Grenzen gefunden.

Und so ist das europäische Einigungswerk etwas Neues und zugleich wurde damit auch etwas Altes wieder erfunden. Den Gründervätern der europäischen Einigung war klar: wenn dieser kleine, volle, reiche – an Gütern wie an Konflikten reiche – Kontinent auf Dauer überleben wollte, dann musste eine neue Ordnung her. Noch sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Herren der Verträge, und dennoch schafft die europäische Einigung institutionell Neuland. Kein Land in Europa kann heute noch im Sinne des alten nationalstaatlichen Regelungsmonopols seine Aufgaben auf sich allein gestellt wahrnehmen.

Natürlich ist die neue Welt kompliziert und natürlich sind unsere Abstimmungsprozesse in Europa schwerfällig. Aber wer sich in die scheinbare Einfachheit früherer Zeiten zurückträumen möchte, der sollte dann die tatsächlichen Erfahrungen von damals nicht ganz ausblenden. So toll ist das alles auch nicht gewesen.

Jetzt brauchen wir starke, funktionsfähige und für die Bevölkerung nachvollziehbare europäische Institutionen. Und die müssen demokratisch legitimiert über das entscheiden, was nur europäisch entschieden werden kann. Denn nur so werden wir unsere Bürger auf diesen europäischen Weg mitnehmen.

Und darüber müssen wir Europäer uns verständigen, wie wir unsere Institutionen stärken und demokratisieren können und was wir Europa an Zuständigkeiten anvertrauen wollen oder müssen und was nicht. Das alles wird sich nur schrittweise entwickeln, aber noch einmal: Evolution hat im Vergleich zu Revolution auch viele Vorzüge, insbesondere die der Freiwilligkeit und der Friedlichkeit. Das geht manchen zu langsam – mir manchmal auch. Und natürlich besteht auch die Gefahr, dass eine zunehmende Verkomplizierung die Bindung der Europäer an europäische Institutionen schwächt. Und deshalb müssen wir den alten Einigungsansatz der „ever closer Union“ wieder durch eine Debatte ergänzen, über die Richtung, in die sich unsere Union weiterentwickeln soll.

Und wir müssen jetzt eine politische Union Europas schaffen, weil wir es in den 90iger Jahren nicht konnten. Wir müssen die demokratische Legitimation Europas stärken, wir müssen die Effizienz Europas verbessern und wir müssen die europäischen Institutionen reformieren. Oder, um an den italienischen Schriftsteller Tomasi di Lampedusa zu erinnern: wenn alles in Europa so bleiben soll wie es ist, dann muss sich vieles, wenn nicht alles, ändern. Wir werden nur durch Voranschreiten das bewahren, was wir auf unserem Kontinent an Integration, an Sicherheit und Wohlstand schon geschaffen haben.

Um eine politische Union zu bilden, müssen wir uns über die Inhalte verständigen. Ich denke, wir haben in der Finanz- und Wirtschaftskrise – über die ich heute auch nicht sprechen möchte, weil auch für Protestanten Himmelfahrt ist – wir haben in der Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich zu einer Vertrauenskrise in den Euro entwickelt hat, gelernt, dass eine gemeinsame Geldpolitik auch die Vergemeinschaftung wichtiger Teile der Finanz- und Wirtschaftspolitik erfordert. Und daneben müssen wir vor allem unsere Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit gegenüber unseren Partnern in der Welt verbessern und auch beschleunigen. Jedes europäische Land ist zu klein, um angesichts globaler Entwicklungen für sich allein eine hinreichende Rolle zu spielen. Wenn wir die Welt im 21. Jahrhundert weiterhin mitgestalten wollen, dann müssen wir Europäer das gemeinsam tun. Also eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, gemeinsame Vertretung in internationalen Organisationen und eben deutliche Fortschritte bei der Entwicklung eines wirklich gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraumes.

Aber wir wollen nicht einen europäischen Superstaat. Jean-Claude Juncker hat es eben gesagt, was für einen Sinn würde das auch machen? Es wäre ja auch gar nichts Neues. Was wir anstreben sollten, ist eine neue Form von politischer Ordnung, in der wir die Allzuständigkeit der nationalen Ebenen weiterentwickeln. So viel wie möglich an Zuständigkeiten muss dezentral bei Kommunen, Regionen, auch Mitgliedstaaten bleiben. Aber das, was nur europäisch geht, muss eben durch europäische Institutionen entschieden werden, und die brauchen dazu demokratische Legitimation. Vielleicht ist das die kürzeste Beschreibung dessen, was mit „Politischer Union“ gemeint ist.

Und dazu braucht es europäische Öffentlichkeit. Jede demokratisch verfasste Gemeinschaft braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihr identifizieren, die sich ihr zugehörig fühlen. So wie Identität und Zugehörigkeit notwendige Voraussetzungen für die Akzeptanz des Mehrheitsprinzips ist, so erfordert demokratische Willensbildung Kommunikation.

Das haben wir uns von der Direktwahl des Europäischen Parlaments versprochen, und wenn wir ehrlich sind, haben wir es seit 1979 nicht zureichend geschafft. Vielleicht haben es Parlamente und Parlamentarier in unserer medial vermittelten Kommunikationswelt schwerer, sich gegenüber Regierungen und Amtsträgern zu behaupten. Und wir sehen ja auch bei den Wahlkämpfen zu den nationalen Parlamenten allenthalben eine Fokussierung auf die jeweiligen Spitzenkandidaten, viel stärker als in früheren Jahrzehnten.

Und deshalb der Vorschlag, einen europäischen Präsidenten in direkter Volkswahl in der ganzen Europäischen Union zu wählen. Das wäre dann die politische Spitze einer europäischen Exekutive, zu der die Kommission weiterentwickelt werden sollte. Die politische Einheit Europas muss ein Gesicht bekommen und dieses Gesicht muss eine wirkliche Macht repräsentieren. Das wird noch ein Weg sein, bis wir das haben. Das weiß ich auch. Morgen setzen wir das noch nicht um. Aber immerhin hat eine nicht ganz kleine Partei in Deutschland, der ich angehöre, auf ihrem Parteitag Ende vergangenen Jahres genau diese Forderung beschlossen. Mit einer großen Mehrheit.

Übrigens muss eine solche Direktwahl eines Präsidenten der Kommission, der weiterentwickelten Kommission das Europäische Parlament nicht schwächen. Parlamente können auch in präsidialen Regierungssystemen stark sein. Aber natürlich ist auch die Alternative eines parlamentarischen Regierungssystems in Europa denkbar. Die Frage ist, ob das Parteiensystem in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die für eine Regierungsbildung notwendigen hinreichend stabilen Mehrheiten im Europäischen Parlament zustande bringt. Daran kann man bei der Volatilität parlamentarischer Mehrheiten in zahlreichen Mitgliedsstaaten zweifeln. Vor allen Dingen hätte der kommunikative Effekt bei der Direktwahl eines Präsidenten möglicherweise stärkere Vorteile. Aber das ist nicht die wichtigste aller Fragen, das eine oder das andere.

Jedenfalls brauchen wir europäische Entscheidungen durch demokratisch legitimierte europäische Institutionen. Zur Stärkung der demokratischen Legitimation den nationalen Parlamenten eine stärkere Rolle zu geben, wie das in den Verträgen heute angelegt ist, das muss, meine Damen und Herren, auf eine Übergangslösung beschränkt bleiben, weil auf Dauer werden wir so weder nach außen noch nach innen Vertrauen in europäische Handlungsfähigkeit stärken können.

Das wird sich alles in der europäischen Realität nicht ganz bruchlos verwirklichen lassen, das weiß ich auch. Die Erfahrungen der letzten Jahre lehren uns das – von den Verhandlungen im Verfassungskonvent über den Lissabonvertrag bis zum Fiskalvertrag: wer Europa konkret voran bringen will, in der Mühsal der Ebene – das ist auch Hölderlin – im oft frustrierenden Alltag von Räten, Kommissionen, nationalen und europäischen Parlamenten, wer Europa konkret voran bringen will, darf aber nie vergessen, dass Pragmatismus und Flexibilität meistens besser sind als Prinzipienreiterei, die am Ende nur Stillstand produziert. Also werden bis auf weiteres weder Gemeinschaftsmethode noch intergouvernementale Zusammenarbeit für sich allein ausreichend sein. Wir werden bis auf weiteres beides noch brauchen.

Wir werden auch weiterhin Instrumente unterschiedlicher Integrationsgeschwindigkeiten nutzen, oder auch in der Geometrie flexibel sein müssen, um die europäische Einigung konkret voran zu bringen. Währungsunion oder Schengenvertrag sind dafür Beispiele. Aber um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Schon 1994 haben Karl Lamers und ich mit dem festen Kern, den wir für Europa für notwendig gehalten haben und immer noch für notwendig halten, nicht für eine dauerhafte Spaltung Europas plädiert, sondern wir haben ganz im Gegenteil ein Instrument vorgeschlagen, um auf Dauer ganz Europa – immer  streng nach dem Prinzip der Freiwilligkeit – zu einigen.

Wichtig jedenfalls bleibt, dass wir am Ende von den Zwischenlösungen wegkommen. Aber noch einmal: besser in kleinen, pragmatischen Schritten vorwärts, als prinzipientreu fest eingemauert stehen zu bleiben.

Bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament könnten die Parteien schon mit Spitzenkandidaten antreten, die im Falle des Wahlerfolgs auch von den Staats- und Regierungschefs als Kommissionspräsident akzeptiert werden.

Im Übrigen: das Parlament braucht dringend ein Initiativrecht. Dass es das heute noch nicht gibt, bleibt ein Kuriosum der Europäischen Union.

Und wenn wir in der Europäischen Kommission noch nicht gleich von dem Entsendungsrecht der Mitgliedstaaten absehen wollen, weil wir da auch noch ein bisschen Zeit brauchen, dann könnte man doch jetzt schon Vizepräsidenten mit größeren Verantwortungsbereichen einsetzen, eine gewisse Clusterbildung, also die Ressorts der heutigen Kommissariate stärker bündeln.

Priorität der Arbeit einer so gestärkten Kommission sollte werden, sich auf die tatsächliche Umsetzung und Einhaltung des bestehenden europäischen Rechts in der Union zu konzentrieren, anstatt mit immer neuen Initiativen für noch mehr Detailregulierung in schon weitgehend regulierten Bereichen immer noch mehr Bürokratie zu produzieren.

Aber auch die Arbeit der Mitgliedstaaten, oder der Europäischen Räte, die bietet auch schon vor Vertragsänderungen erhebliches Verbesserungspotential. Und vor allem müssen die Mitgliedstaaten zu ihren vertraglichen Verpflichten auch wirklich stehen. Und Deutschland war da auch nicht immer ein glänzendes Vorbild.

Im Übrigen müssen die vorhandenen Instrumente effizienter genutzt werden, zum Beispiel im Bereich der gemeinsamen Außenpolitik.

Und wenn wir ein Stück mehr die Fähigkeit zur Schwerpunktsetzung entwickeln würden, könnten wir auch die Effizienz etwa im Bereich des EU-Budgets und der ganzen europäischen Programme noch deutlich verbessern. Wir haben die Notwendigkeit dafür in den letzten Monaten deutlich vor Augen geführt bekommen.

Also, meine Damen und Herren, wir können jeden Tag einen Schritt voran gehen. Um weitergehende Vertragsänderungen, wie schwierig sie im Einzelfall zu erreichen sind, werden wir aber am Ende auch nicht herum kommen.

Spätestens in fünf Jahren – ich will daran erinnern – muss der Fiskalpakt, der noch gar nicht in Kraft ist, in den Lissabonvertrag überführt werden. Mit dem Zusammentreten eines neuen Europäischen Parlaments kurze Zeit danach beginnt dann ein neues Zeitfenster für substanzielle Arbeiten zur Reform des institutionellen Gefüges, und bis dahin sollten wir uns im Klaren sein, in welche Richtung wir Europa weiter bauen wollen. Ich finde, wir sollten uns zutrauen, einen Kommissionspräsidenten in direkter Wahl wählen zu lassen, wir wollten uns zutrauen, auf nationale Entsenderechte in die Kommission zu verzichten, wir sollten die Kommission als europäische Regierung entwickeln und ein Zweikammersystem schaffen mit einem aus gleicher, allgemeiner Wahl hervorgegangenen Europäischen Parlament und einer Länderkammer mit degressiver Proportionalität.

Und, meine Damen und Herren, die Welt wird nicht allzu lange auf uns warten; und deshalb gilt es schnell zu handeln.

Vielleicht hilft ein Blick zurück, zu begreifen, wo wir stehen, wo wir herkommen und wo wir hingehen sollten. Vor 100 Jahren, 1912, war Europa vielfältig im Aufbruch. Der Anteil globaler Verflechtung der Wirtschaft war durchaus mit heutigen Relationen vergleichbar. Zwei Jahre danach brach der erste Weltkrieg aus, den Historiker als die Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts werten.

Ein Jahrhundert später haben wir faszinierende Entwicklungen und zugleich neue Risiken. Noch immer übrigens zählen wir Europäer zu den wohlhabenden Regionen der Erde. Und zumal vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher demografischer Entwicklungen braucht es wenig Fantasie, vorherzusagen, dass Europa und wir Europäer bessere Perspektiven für die Zukunft haben werden, wenn es gelingt, Spannungen und Spaltungen in den globalen Entwicklungen so zu beherrschen, dass sie nicht noch größere Katastrophen als im letzten Jahrhundert auslösen. So trivial kann man das europäische Eigeninteresse an globaler Stabilität beschreiben.

Andere Teile der Welt werden sich dynamischer entwickeln müssen, und zugleich werden wir den europäischen Beitrag zur Innovation durch Wissenschaft und Technik genauso dringend benötigen wie europäische Erfahrungen, um Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Und wir Europäer haben aufgrund unserer Geschichte, unserer Erfahrung, unseres Wohlstands die Verantwortung, für die globalisierte Welt Lösungen mitzuentwickeln, Lösungen, die die gewaltigen Veränderungen durch demografische Entwicklungen, technologische Innovationen, auch durch die Begrenztheit von Ressourcen wie Umwelt und Natur beherrschbar bleiben lassen.

Meine Damen und Herren, wer, wenn nicht auch maßgeblich wir Europäer, soll sich mit Fragen beschäftigen, wie Achtung der Menschenwürde, Würde aller Menschen, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, aber auch Offenheit und Toleranz bewahrt und gewonnen werden können in einer weltweiten Entwicklung mit Migrationsbewegungen bisher nicht gekannten Ausmaßes und Geschwindigkeit? Woher kommen in der Anonymität und Distanzlosigkeit des Internets Werte und Orientierungen, ohne die menschliche Ordnung und Freiheit niemals möglich war? Was wird die Rolle von Religion und Religiosität sein? Fragen über Fragen, und bei der Suche nach Antworten werden europäische Erfahrungen gebraucht – im Guten wie im Bösen, im Erfolg wie im Scheitern – und diese Erfahrungen werden gebraucht im Interesse der Welt, aber nicht zuletzt um der Zukunft der relativ weniger werdenden Europäer Willen.

Und das kann doch eine Richtung für die Zukunft beschreiben. Das wird sich nicht so einfach als „Grand Design“ verwirklichen lassen. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach sich weiter, kompliziert, schwerfällig entwickeln – jedenfalls solange große Katastrophen vermieden werden können. Und dafür ist dann der komplizierte Prozess wieder gar nicht so schlecht, zumal wenn wir sehen, wie weit wir es trotz aller Widerstände und Schwerfälligkeiten doch in 60 Jahren europäischer Einigung gebracht haben.

Und, meine Damen und Herren, wenn größere Krisen kommen sollten, wächst auch die Kraft zu Veränderungen. Das ist die Chance jeder Krise. Und es ist im Übrigen die Substanz der Lehre von Karl Poppers „Trial and Error“, dass freiheitliche Gesellschaften deshalb überlegen sind, weil sie aus Irrtümern lernen, weil sie Fehler korrigieren können.

Von der Überlegenheit freiheitlicher Ordnungen kann man die große Mehrheit der Menschen in Europa überzeugen. Von der Grundlage europäischer Einigung, von Offenheit und Solidarität auch. Übrigens nicht nur in Deutschland zeigen viele Umfragen, dass in den letzten zwei Jahren, über die wir uns mit der so genannten „Eurokrise“ nun beschäftigen, nicht nur die Sorgen gewachsen sind, sondern eben auch die grundsätzliche Zustimmung zur europäischen Einigung. Also wie ich am Anfang sagte, der Erfolg verringert die aktuelle Wertschätzung des bisher Erreichten, aber die Gefährdung schafft umgekehrt ein neues Bewusstsein von Notwendigkeit.

„Europa als Friedenswerk“, es bleibt viel zu tun. Der Karlspreis jedenfalls ist dazu Ermutigung. Herzlichen Dank!