„Notwendige Schwerpunkte setzen“



Interview in der Zeitung DIE WELT vom 02.02.2015.

DIE WELT: Herr Minister, islamistischer Terror ist in Europa zurzeit leider ein großes Thema.

Wolfgang Schäuble: Sie wissen, ich bin Bundesfinanzminister. Innenminister war ich einmal. Diese Aufgabe liegt jetzt bei Thomas de Maiziére in sehr guten Händen.

DIE WELT: Uns geht es um die Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen. Woher soll das Geld für eine bessere Terrorabwehr kommen?

Schäuble: Polizei ist ja überwiegend Ländersache. Also muss das Geld aus den Landeshaushalten kommen. Den Bundesverfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst und die Bundespolizei bezahlen wir. Frankreich hat gerade als Konsequenz aus den Erfahrungen von Paris ein Programm zur Verstärkung der Polizei verabschiedet.

WELT: Über wie viel Geld mehr reden wir in Deutschland?

Schäuble: Es kann doch nicht sein, dass wir immer gleich über Mehrausgaben reden. Dann bräuchten wir weder einen Haushaltsausschuss noch ein Parlament und schon gar keinen Finanzminister. In diesem Fall würde eine Rechenmaschine ausreichen – und zwar eine, die nur addiert.

DIE WELT: Viele Bundesländer mühen sich sehr, ab 2020 die Schuldengrenze einzuhalten. Noch mal: Woher soll das Geld für mehr Polizeistellen kommen?

Schäuble: Die Bundesländer haben bessere Finanzkennziffern als der Bund. Bei allem Respekt: Die Länder müssen ihre Aufgaben lösen, so wie der Bund seine. Man muss halt manchmal auch auf Dinge verzichten können.

DIE WELT: Auf welche denn?

Schäuble: Wenn wir in Deutschland mehr Personal im Sicherheitsbereich brauchen, würde ich, zum Beispiel, darüber diskutieren, ob wir wirklich so viel Personal bei der Kontrolle eines im internationalen Vergleich sehr komplizierten Mindestlohns brauchen oder ob wir nicht sagen, andere Prioritäten wie die Polizei sind jetzt wichtiger.

DIE WELT: Sehen Sie die Gefahr, dass Sie den Ländern in den laufenden Finanzverhandlungen mehr Geld zugestehen müssen, weil die Landeschefs die Polizei aufstocken müssen?

Schäuble: Das ist doch keine Gefahr. Alle wollen mehr. Auch Entwicklungshilfe, Familienpolitik sind wichtige Prioritäten. Und Sicherheit eben auch. Seien Sie unbesorgt, wir werden die notwendigen Schwerpunkte setzen, ohne die Linie unserer erfolgreichen Finanzpolitik zu verlassen.

DIE WELT: Was rutscht auf Ihrer Prioritätenliste nach unten?

Schäuble: Das entscheide nicht ich alleine. Wir haben einerseits die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin und andererseits den Koalitionsvertrag. Wir müssen also um die richtigen Prioritäten ringen. Und natürlich kommen ständig neue Herausforderungen hinzu, mit denen wir umgehen müssen. Ich kann doch nicht sagen: Ebola und das Flüchtlingsproblem stehen nicht im Koalitionsvertrag. Kommen Sie nach dieser Legislaturperiode wieder.

DIE WELT: Herr Minister, Sie weichen aus. Worauf würden Sie verzichten? Die schwarze Null? Mehr Sicherheit? Niedrigere Steuern?

Schäuble: Eine nachhaltige Finanzpolitik schafft die Voraussetzung für eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Wir haben nie gesagt, dass es nicht auch eine Situation geben kann, in der man neue Schulden machen muss. Aber in Zeiten einer normalen konjunkturellen Auslastung brauchen wir bei der gegebenen demografischen Entwicklung und bei der hohen Gesamtverschuldung keine neuen Schulden. Wir brauchen aber auch keine Steuererhöhungen. Und wir haben ja auch angekündigt, dass wir mehr als in den letzten Jahren für die Investitionen machen werden.

DIE WELT: Gibt es Spielräume für höhere Investitionen über die zusätzlich geplanten zehn Milliarden Euro?

Schäuble: Wir sind uns einig: Alles, was wir zusätzlich tun können, werden wir vordringlich in Investitionen stecken. Trotzdem werden wir natürlich auch mehr gegen neue Gefahren wie Ebola oder möglicherweise für Verteidigung ausgeben müssen.

DIE WELT: Den Abbau der kalten Progression haben Sie jetzt nicht genannt.

Schäuble: Da ja nun die aktuelle Preisentwicklung sehr moderat ist, sind auch die Auswirkungen der kalten Progression so begrenzt, dass deren Beseitigung kein Problem ist – sobald wir die Zustimmung des Bundesrats dafür haben. Kosten wird uns das nur sehr wenig, da die Inflation derzeit niedrig ist.

DIE WELT: Ihre Argumentation hinkt doch.

Schäuble: Nein, sie ist mathematisch zwingend. Bei einer Preissteigerungsrate von null ist auch der Effekt der kalten Progression gleich null.

DIE WELT: Sie können doch nicht nur den Effekt eines Jahres nehmen. Sie müssen ab dem Zeitpunkt rechnen, ab dem die Tarife letztmals angepasst wurden. Da kommt ein ordentliches Sümmchen zusammen.

Schäuble: Wenn Sie seit 1949 rechnen, kommt auch ein Haufen Geld zusammen. Wo wollen Sie anfangen?

DIE WELT: Bei der letzten Tarifanpassung 2010.

Schäuble: Die letzte Tarifanpassung war die Erhöhung des Grundfreibetrags zu Anfang 2014. Das Fraunhofer-Institut hat uns gerade vorgerechnet, dass die Entlastung durch die Anhebung des Grundfreibetrages 2014 sogar etwas größer ausgefallen ist als der rechnerische Effekt der kalten Progression.

DIE WELT: Nicht nur wir, auch Wirtschaftsminister Gabriel rechnet anders.

Schäuble: Wir müssen uns an den aktuellen Inflationsraten orientieren. Und wir müssen sehen, wie es in den kommenden Jahren aussieht, für die die Grundfreibeträge ja ebenfalls anzupassen sind. Mir geht es um einen fairen Ausgleich ungewollter Steuererhöhungen. Eine Steuersenkung ist etwas anderes. Dafür haben wir keinen großen Spielraum. Ich kann mich erinnern, dass Sozialdemokraten im Wahlkampf noch für Steuererhöhungen waren. Aber bitte: Wenn aus Saulus Paulus wird, welcome to the Club.

DIE WELT: Was Ihnen bei der kalten Progression vorschwebt, wird den Steuerzahler kaum entlasten.

Schäuble: Vielleicht lesen Sie meine Interviews der vergangenen Monate. Darauf habe ich mehr als einmal hingewiesen. Soll keiner sagen, er wäre jetzt überrascht. Dazu kommt: Wir haben doch immer gesagt, keine neuen Schulden ab 2015 und keine Steuererhöhungen. Die Journalisten haben uns das nicht geglaubt. Jetzt halten wir das ein. Und Sie sind immer noch nicht zufrieden. Anders als die meisten Bürger übrigens. Sie sind mit dem Steuersystem ziemlich zufrieden. Die kalte Progression ist für sie nicht das wichtigste Thema, auch weil sie im Moment nicht stark wirkt.

DIE WELT: Die EZB hat beschlossen, Staatsanleihen aufzukaufen. Mit solchen Aufkäufen mindert sie den Reformdruck auf die Euro-Krisenländer. Ist das ständige Rausboxen der Politik durch die Notenbank nicht ein Fehler?

Schäuble: Die EZB bewegt sich in einem schwierigen Umfeld. Dafür macht sie ihre Sache gut. Dass solche Aufkäufe möglicherweise die Gefahr von Fehlanreizen bergen, habe ich immer betont. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass sich in Europa viel getan hat. Frankreich bewegt viel, Italien hat eine Menge auf den Weg gebracht, Spanien hat tolle Erfolge erzielt.

DIE WELT: Nur reicht das nicht. Und das neue Aufkaufprogramm verstärkt doch die Gefahr, dass Länder Reformen auf die lange Bank schieben.

Schäuble: Der EZB-Rat hat seine Entscheidung im Licht bestimmter Erwartungen der Märkte getroffen…

DIE WELT: …die EZB-Präsident Draghi selber geschürt hat. Ist er zum Gefangenen seiner eigenen Politik geworden?

Schäuble: Geldpolitik ist Sache der EZB, und die ist unabhängig. Gerade wir Deutsche haben stets auf diese Unabhängigkeit gedrängt. Als Finanzminister muss ich solche Fragen deshalb nicht kommentieren.

DIE WELT: Zuletzt wurde der Stabilitätspakt gelockert, Frankreich und Italien dürfen länger mehr Schulden machen, die EZB kauft Staatsanleihen. Täuscht es, oder hat Deutschland dramatisch an Einfluss in Europa verloren?

Schäuble: Das ist Unfug. Wir leben ja nicht mehr in der Zeit Bismarcks. Heute gelten andere Messgrößen. Europa war nie eine von einem Land dominierte Veranstaltung. Wir Europäer haben ein gemeinsames Ziel. Auch deshalb sind die Regeln und der Stabilitätspakt alles andere als ein deutsches Diktat. Für alle Entscheidungen in Europa muss es eine Mehrheit geben, manche Entscheidungen müssen sogar einstimmig getroffen werden.

DIE WELT: Nur besteht ein Unterschied zwischen dem, was man beschließt, und dem, was die Länder umsetzen.

Schäuble: Das stimmt. Deutschland jedenfalls leistet seinen Beitrag. Wir haben seit Amtsantritt von Angela Merkel 2005 viel flir Bildung und Forschung getan. Die Zahl der Patentanmeldungen ist zuletzt nach oben gegangen. Und auch in Europa haben wir ja nicht, wie Sie sagen, nur Sparprogramme verordnet. Ich habe auf ein Programm zur Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit gedrängt. Wir werden keine europäische Einigung hinbekommen, wenn eine ganze junge Generation keine Perspektiven hat.

DIE WELT: Wird aus der Schulden- jetzt eine politökonomische Krise?

Schäuble: Jetzt einmal halblang. Ich glaube an die Vernunft der Wähler. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Deutschland hat mit Weimar schon einmal eine Demokratie zerstört, die Folgen sind bekannt. Und die demokratische Reife der Franzosen steht außer Frage. Wenn Sie noch letzte Zweifel daran gehabt haben sollten, schauen Sie sich die eindrucksvolle Reaktion nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo an.“

DIE WELT: In Griechenland ist mit Alexis Tsipras allerdings ein Linkspopulist an die Macht gekommen. Wird er seinen Schuldenschnitt bekommen, den er so vehement einfordert?

Schäuble: Ich habe 2012 gegen größte Widerstände für einen Schuldenschnitt gekämpft, den Griechenland dann ja auch bekommen hat. Wer die Finanzierung der griechischen Schulden kennt, weiß, dass es bis zum Jahr 2020 kein Problem gibt. Wenn ich ein verantwortlicher griechischer Politiker wäre, würde ich keine Debatten über einen Schuldenschnitt führen.

DIE WELT: Die kurzfristige Zinslast mag gering sein. Aber kein Anleger wird in Griechenland investieren, solange der Schuldenstand bei 177 Prozent liegt.

Schäuble: Der Währungsfonds erwartet, dass dank der guten Entwicklung in Griechenland die Schuldenquote bis 2020 auf 112 Prozent sinken wird. Das wäre deutlich unter dem heutigen Niveau Italiens. Ich sehe da keinen Anlass, über einen Schuldenschnitt zu spekulieren.

DIE WELT: Ist ein drittes Hilfsprogramm für Athen nach den jüngsten Turbulenzen und den dadurch gestiegenen Zinskosten unausweichlich?

Schäuble: Das müssen Sie die griechische Regierung fragen. Jetzt geht es zunächst darum, das laufende zweite Hilfsprogramm bis Ende Februar ordnungsgemäß abzuschließen. Dann sehen wir weiter.