Für eine bessere Verfassung Europas



Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung

Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung [Glossar] gibt es zur europäischen Einigung für Deutschland und seine Nachbarländer keine bessere ökonomische und keine bessere politische Alternative: Wir brauchen ein politisch wie wirtschaftlich geeintes Europa in den kommenden Jahrzehnten so notwendig wie in den Jahrzehnten zuvor. Damals als Lehre aus zwei Weltkriegen, dann zur Bewahrung von Frieden und Freiheit im Kalten Krieg. Heute als Beitrag zur „global governance“, mit der wir versuchen müssen, dass in diesem 21; Jahrhundert die Spannungen und Verteilungskämpfe weltweit beherrschbar bleiben.

Die zentrale Frage lautet deshalb nicht: Brauchen wir ein politisch und wirtschaftlich geeintes Europa? Sondern: Wo liegen in einem politisch und wirtschaftlich geeinten Europa künftig die Verantwortlichkeiten der Nationalstaaten? Wie soll es weitergehen mit der politischen, insbesondere aber der wirtschafts- und finanzpolitischen Integration?

Wie die Euro [Glossar]-Zone als Ganzes gestärkt werden kann, ist eine systemische Frage, auf die wir eine systemische Antwort finden müssen. Die unterschiedlichen Zinsen für die Euro-Staaten bilden Anreiz und Sanktion, aber für das systemische Risiko, die Gefahr der Ansteckung durch die Schuldenkrise eines Landes für andere Euro-Länder und für die Euro-Zone als Ganzes, trifft dieser Mechanismus keine ausreichende Vorsorge. Zur Vorsorge gehört, mehr Haushaltsdisziplin in allen Staaten nicht nur einzufordern, sondern auch durchzusetzen. Hierzu gehört aber auch, nicht nur auf die öffentlichen Haushalte [Glossar], sondern auch auf die Wirtschaftskraft zu schauen und die wirtschaftspolitische Koordinierung zu verbessern, um künftig allzu große Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden. Und hierzu gehören Instrumente, die die Ansteckungsgefahren für den Euro als Ganzes gegebenenfalls bekämpfen können.

Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass eine gemeinsame Währung nicht ohne Solidarität der Mitglieder auskommt. Dabei kann sich Solidarität allerdings nicht nur auf die Verpflichtung beschränken, den Mitgliedsländern, die in Problemen sind, Beistand zu leisten, sondern sie erfordert genauso die Bereitschaft, die Ursachen der Probleme zu beseitigen. Deshalb habe ich mich dagegen verwahrt, dass die Kommission den Eindruck erweckt, Solidarität sei nur eine Anforderung an die sechs Euro-Länder, die eine „Triple-A-Bewertung“ haben.

Kurzfristig geht es jetzt darum sicherzustellen, dass die bestehenden institutionellen Arrangements der Europäischen Währungsunion in der Lage sind, die Euro-Zonen-Mitglieder zu einer Finanzund Haushaltspolitik zu verpflichten, die der Verantwortung für die gemeinsame Währung Rechnung trägt. Anreiz und Sanktion dabei ist das in den „spreads“ ausgedrückte höhere Zinsrisiko. Grundsätzlich funktioniert dieses System: Deshalb darf dieser Mechanismus nicht ersatzlos durch eine Vergemeinschaftung des Zinsrisikos, auch nicht in Form von Euro-Bonds, außer Kraft gesetzt werden.

Weil dieser Mechanismus die Ansteckungsgefahren für andere Mitgliedstaaten der Euro-Zone, die eine Folge des Vertrauensverlustes der Finanzmärkte [Glossar] in die Funktionsfähigkeit des Euro insgesamt sind, nicht vermeiden konnte, haben wir mit den Entscheidungen des Europäischen Rates vom Oktober und Dezember letzten Jahres die Grundlagen geschaffen, um mittelfristig eine dauerhafte Stabilisierung des Euro und der Europäischen Währungsunion zu erreichen.

Wir werden die europäischen Finanzregeln in zentralen Bereichen reformieren: Erstens muss für eine dauerhafte Lösung das System zur Einhaltung gemeinsamer Rahmenbedingungen für nationale Finanz- und Haushaltspolitiken wirkungskräftiger werden. Hierzu werden wir die haushalts- und wirtschaftspolitische Überwachung im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts deutlich verschärfen. Der Pakt erhält mehr Biss, um eine Stabilitätsgefährdende Politik einzelner Euro-Staaten zu verhindern. Zur Schärfung gehört, dass Sanktionen bei Regelverstößen künftig früher und schneller verhängt werden und dass sie quasi automatisiert werden. Außerdem wird künftig für die Einleitung eines Defizitverfahrens gegen einen Euro-Staat auch der Schuldenstand eine wichtige Rolle spielen. Und wir werden künftig nicht mehr zusehen, wenn Mitgliedstaaten durch eine falsche Politik Strukturprobleme befördern und ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit untergraben.

Zweitens brauchen wir einen neuen, robusten Krisenbewältigungsmechanismus für Notfälle. Denn auch mit einem noch so geschärften Stabilitäts- und Wachstumspakt [Glossar] können wir nicht ausschließen, dass es wieder zu einem extremen Krisenfall kommt, der die Stabilität der Euro-Zone insgesamt gefährdet. Das muss ein Mechanismus sein, der rechtlich unangreifbar ist. Gelingen wird das nur mit einer begrenzten Änderung der europäischen Verträge.

Klar ist auch, dass ein dauerhafter Krisenbewältigungsmechanismus nicht nur die Solidarität aller Euro-Mitgliedstaaten voraussetzt, sondern auch im Restrukturierungsfalle eine Beteiligung der Gläubiger einschließen muss. Dafür hat der Europäische Rat im Dezember die Weichen gestellt, und mit der Aufnahme von „Collective Action Clauses“ in alle ab 2013 zu begebenden Euro-Staatsanleihen wird das für Investoren kalkulierbar. Bei dem Instrument eines solchen Europäischen Stabilisierungsmechanismus werden wir die Frage zu beantworten haben, was dauerhaft die Aufgabe der unabhängigen Europäischen Zentralbank[Glossar] sein soll. Das war bei der Gründung der Europäischen Währungsunion zentrale Frage, und auch für die Zukunft muss die Frage beantwortet werden, was in die Zuständigkeit demokratisch legitimierter Entscheidungen fällt und was in die einer autonomen, der Geldwertstabilität verpflichteten Notenbank [Glossar]. Es wird niemand überraschen, dass die Bundesregierung auch weiterhin für unser gefestigtes Verständnis von den Aufgaben einer unabhängigen Notenbank eintreten wird.

Insbesondere die Finanzmärkte erwarten eine Antwort auf die Frage, wo die Verantwortlichkeiten der Nationalstaaten liegen und wo sie enden; vor allem in der Haushalts- und Finanzpolitik [Glossar]. Unbestritten ist, dass Europa, vor allem die Euro-Zone, die nationalen Finanz-, Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung besser verzahnen muss. Weil ,wir die verfassungsrechtlichen wie europarechtlichen Grenzen respektieren, vor allem aber, weil die politischen Widerstände gegen eine weitere Vergemeinschaftung beim demokratischen Souverän in den allermeisten Mitgliedstaaten und damit auch in den Parlamenten derzeit unübersehbar sind, werden wir auf absehbare Zeit nur begrenzte institutionelle Fortschritte machen.

Deshalb werden wir uns auf dem Weg zu mehr wirtschafts- und finanzpolitischer Zusammenarbeit derzeit auf Instrumente der intergouvernementalen Zusammenarbeit, insbesondere der verstärkten Zusammenarbeit, konzentrieren müssen. Dabei stellt sich unter anderem die Frage der Legitimation durch nationale Parlamente oder auch, ob sie durch eine parlamentarische Legitimation auf europäischer Ebene oder auch in der Euro-Zone ergänzt oder ersetzt werden kann. Und unter dem Stichwort „17 plus“ wird die Frage aufgeworfen, ob nicht auf freiwilliger Basis Mitgliedstaaten, die noch nicht zur Euro-Zone gehören, mitwirken können, nicht zuletzt um zu verhindern, dass aus der verstärkten Zusammenarbeit in der Eurozone am Ende eine dauerhafte Spaltung der EU wird.

Vor diesem Hintergrund ist eüie – zunächst intergouvernemental praktizierte – verstärkte Zusammenarbeit der Euro-Zonen-Mitglieder das „Mittel der Wahl“ für eine bessere Abstimmung der nationalen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken. Ich bin dafür, den Rahmen einer so verstandenen „Wirtschaftsregierung“ und die Einzelheiten einer effizienten und demokratisch legitimierten Entscheidungsfindung schnell zu klären. Ich bin auch dafür, eine Art „benchmarking“ einzuführen und in verschiedenen Politikbereichen voneinander zu lernen. Ich bin auch dafür, eine Anregung meiner französischen Kollegin aufzugreifen, „benchmarks“ mit einem Schiedsverfahren zu verbinden.

Wichtig ist mir, bei dieser Zusammenarbeit keinen geschlossenen Club zu bilden, sondern andere EU-Mitgliedstaaten, die noch nicht zur Euro-Zone gehören, freiwillig daran mitwirken zu lassen. Dieses Vorgehen mag für all jene, die jetzt lautstark nach der ultimativen Korrektur vermeintlicher Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion durch ein Mehr an politischer Union rufen, enttäuschend klingen. Aber es entspricht der Genese der europäischen Integration: Europa ist und bleibt komplex und kompliziert, Europa geht schrittweise voran. Aber am Ende ist es durch Krisen immer gestärkt worden.

Die Europäische Union hat sich seit ihrer Gründung zu einer neuen Form einer supranationalen „governance“ entwickelt. Mit ihr ist etwas Neues entstanden, weil sie das absolute Regelungsmonopol des Nationalstaates durchbricht und damit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, insbesondere der Globalisierung, Rechnung trägt. Weil aber niemand einen europäischen Superstaat will, der gewissermaßen alle Zuständigkeiten des klassischen Nationalstaates übernehmen würde, muss am europäischen Konstruktionsprinzip festgehalten werden: Staatliche und europäische Zuständigkeiten sind klug auszubalancieren, und jede Entscheidung ist demokratisch zu legitimieren.

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