Freiheit, Verantwortung, Engagement – Pfeiler unserer wehrhaften Demokratie



Eingangsstatement von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble beim Jugendkongress 2008 der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Bonn

Ausländische Besucher, die im Bundesinnenministerium zu Gast sind, können mit dem Begriff „Wehrhafte Demokratie“ oft erst einmal wenig anfangen. Wenn ich das Wort „wehrhaft“ sage, um die Besonderheit unserer Gesellschaftsordnung zu erklären, denkt mancher vielleicht sogar, er ist versehentlich beim Verteidigungsminister gelandet. Mit der Bundeswehr hat die wehrhafte Demokratie natürlich eher wenig zu tun. Sie ist aber trotzdem sehr wichtig für unsere Sicherheit. Und für die Art und Weise, wie wir zusammenleben.

Der Begriff erklärt sich aus den besonderen Erfahrungen, die wir im vergangenen Jahrhundert gemacht haben. Er ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt worden ist. Damals hatten alle noch das Scheitern der Weimarer Demokratie vor Augen. Die Väter und Mütter unserer Verfassung hatten die Machtergreifung und die Schrecken der Nazi-Herrschaft miterlebt. Wegen dieser persönlichen Erfahrung wollten sie einen demokratischen Staat schaffen, der weder den Einzelnen rechtlos machen, noch selbst von innen heraus beseitigt werden kann. Dafür überlegten sie sich Vorkehrungen zum Schutz des Einzelnen, der Verfassung und der demokratischen Institutionen.

Die wehrhafte Demokratie besteht aus zwei Dingen: Erstens den Grundrechten, die jeder Bürger in Deutschland hat. Zweitens aus den Rechtsvorschriften, die es den demokratischen Institutionen unseres Staats aufgeben, verfassungsfeindliche Aktivitäten zu beobachten und zu verbieten. Die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie schützt die Prinzipien unserer Gesellschafts- und Verfassungsordnung. Sie schafft und garantiert unsere Freiheit, indem sie die Freiheit zugleich auch begrenzt.

Zunächst klingt das wie ein Widerspruch. Freiheit ist wie die Luft, die wir atmen. Wir denken nicht so viel darüber nach. Aber wenn sie wegbleibt, dann geht es uns ganz schnell schlecht. Freiheit ist ein kostbares Gut – das spürt man besonders, wenn man jung ist und die Welt entdecken will. Unsere Demokratie ist zuallererst eine Ordnung der Freiheit. Die Grundrechte von uns Bürgern stehen ganz bewusst am Anfang des Grundgesetzes. Seine Urheber, die damals vor 60 Jahren auf Herrenchiemsee den Entwurf schrieben, wollten den Einzelnen stärken.

Das Grundgesetz garantiert daher umfassende Freiheiten. Gewissen, Weltanschauung, Religion, Meinung, Presse und Rundfunk, Arbeit, Eigentum und nicht zuletzt die Entfaltung der Persönlichkeit sind frei. Diese Freiheiten gelten aber nicht absolut. Die Freiheit des Einen begrenzt die des Anderen. Totale Freiheit wäre Anarchie. Wenn jeder macht, was er will, hat keiner etwas davon.

Unsere Freiheiten sind deshalb definiert und begrenzt durch Recht und Gesetz. Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem jeder tun und lassen kann was er will – solange dem keine Rechtsvorschrift entgegensteht. Ob es immer gut ist, alles zu tun, was erlaubt ist, steht auf einem anderen Blatt. Damit macht jeder so seine eigenen Erfahrungen. Entscheidend ist, dass jeder nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten hat.

Die meisten Freiheitsbegrenzungen sind ganz gut nachvollziehbar. Jeder wird einsehen, dass es zum Beispiel im Straßenverkehr Regeln braucht. Wenn es keine Ampeln gäbe, bräche in vielen Städten das reine Chaos aus. Ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen würden noch mehr Raser andere gefährden. Deswegen müssen bestimmte Regeln für alle gelten und diejenigen, die sich nicht daran halten, zur Verantwortung gezogen werden. Wir brauchen auch Regeln in der Wirtschaft, etwa wenn es um den Schutz von Eigentum oder das Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern geht. Man könnte sagen, die aktuelle Bankenkrise ist ein ziemlich unangenehmer Verkehrsunfall.

Dass unsere Freiheit eingeschränkt wird, ist also eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Schwer tun wir uns dagegen mit der Begrenzung politischer Freiheit. Ist es richtig, dass unser Grundgesetz es zulässt, dass Parteien verboten werden können?

Kritiker der wehrhaften Demokratie sagen, die Freiheit um der Freiheit Willen einzuschränken, das gehe nicht. Sie behaupten, es wäre keine echte Demokratie, wenn der Staat darüber entscheiden kann, wie Bürger politisch handeln dürfen oder nicht.

In gewissem Sinne kann ich diese Kritik nachvollziehen. Eine Demokratie sollte niemandem vorschreiben, wie er politisch denken soll. Aber der demokratische Rechtsstaat setzt den Rahmen für politische Freiheit. Und deshalb darf er nicht zulassen, dass dieser Freiheitsraum missbraucht wird, um ihn abzuschaffen. Gleich ob linke, rechte oder religiöse Extremisten: Unsere Demokratie darf nicht zulassen, dass Gegner eines demokratischen und friedlichen Miteinanders die Macht an sich reißen. Das ist eine Lehre aus Weimar und der Nazi-Herrschaft, die bis heute gilt.

Schon vor der „Machtergreifung“ 1933 hatten Philosophen und Schriftsteller in Deutschland eine Vorahnung, die Weimarer Demokratie könnte an zuviel Freiheit zu Grunde gehen. „Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt“ schrieb Thomas Mann 1924 in seinem Bestseller „Der Zauberberg“. Natürlich wollen wir heute keine intolerante Gesellschaft. Gerade deshalb brauchen wir Menschen, die für die Demokratie einstehen und die Prinzipien unseres Miteinanders gegen Intoleranz verteidigen.

Ich glaube aber nicht, dass die Weimarer Republik daran gescheitert ist, dass sie zu demokratisch war. Zu viel Freiheit hat die „Machtergreifung“, die eigentlich eine Selbstaufgabe war, ermöglicht, nicht aber ausgelöst oder verursacht. Ich glaube, es lag an der mangelnden Unterstützung der Deutschen für ihre erste Demokratie.

Ich weiß nicht, ob „Pink“, „Tokio Hotel“ oder „Silbermond“ schon einmal etwas über demokratisches Engagement gesagt haben. Ein viel gelesener Autor meiner Jugendzeit, Erich Kästner, hat nach dem Krieg geschrieben, das Problem mit dem Nationalsozialismus seien nicht die vielen überzeugten Nazis gewesen, sondern die wenigen Demokraten, die zu ihren Überzeugungen gestanden hätten. Die gleichen Lehrer, die vor 1933 Karl den Großen als weitblickenden Europäer lobten, hätten danach verkündet, Karl der Große habe Deutschlands Schicksal zum Schlechten gewendet.

Damit bin ich beim Dritten, was die Wehrhaftigkeit unserer demokratischen Ordnung ausmacht: das Mitwirken der Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Prozess. Nicht jeder muss einer Partei beitreten – obwohl ich das bei allem, was einen da auch einmal stören kann, nie bereut habe. Wenn aber die Menschen sich nicht einbringen, dann funktioniert Demokratie nicht.

Demokratie lebt von Voraussetzungen, die der Staat selbst nicht schaffen kann. Freiheit kann es nur geben, wenn jeder seine Verantwortung wahrnimmt. Verantwortung, das bedeutet in erster Linie Eigenverantwortung, also für sich selbst Entscheidungen zu treffen. Gerade wenn aber nicht mehr alles so scheinbar selbstverständlich ist, bedeutet Verantwortung auch, für die Werte unserer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft einzustehen. Wer demokratisch regiert werden will muss sich auch dort, wo er ist, in die Demokratie einbringen.

Natürlich gibt es viele Gründe, warum politisches Engagement heute nicht mehr so selbstverständlich ist. Ein Grund ist bestimmt, dass es den meisten Menschen in Deutschland eigentlich – Gott sei Dank – ganz gut geht. Auch ist es so, dass eine höhere Schnelllebigkeit dazu führt, dass Menschen häufiger ihr Umfeld und ihre Interessen ändern. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Gerade über die jetzt junge Generation, also über Euch, sagen Wissenschaftler, dass es eine große Bereitschaft zum Engagement gibt, aber nur eine geringe Begeisterung für die Politik. Das wiederum mag auch an dem Bild liegen, das die Medien von der Politik zeichnen. Sicher liegt es auch an uns Politikern selbst, dass wir nicht erfolgreich genug für das Mitmachen in der Demokratie begeistern.

Letztlich aber wird diese Demokratie nur dann uns allen eine Zukunft in Freiheit und Sicherheit ermöglichen, wenn auch Ihr Euch für diese Form des Zusammenlebens engagiert. Es gibt andere Staaten, in denen es zwar mehr oder weniger viel Wohlstand, aber keine Freiheit und Selbstbestimmung gibt. In Russland oder China entsteht derzeit eine Konkurrenz für unsere Gesellschaftsform, die mancher schon für überwunden hielt. Auch deshalb ist die wehrhafte Demokratie so aktuell.

Die beiden Pfeiler der wehrhaften Demokratie, die unsere Verfassung errichtet hat, können das Haus nicht alleine tragen. Unsere Demokratie braucht Euer Engagement – und ermöglicht es auch. Unsere Ordnung ist offen für alle demokratischen Ansichten. Das sieht man auch, wenn man in den Deutschen Bundestag schaut. Sie ist auch offen für junge Menschen, wie man an den Jugendorganisationen der Parteien sieht. Niemand kann sagen, er würde keine Chance bekommen, sich zu engagieren. Viele nehmen sie vielleicht nicht sofort wahr, und deshalb ist es wichtig, dass jeder von Euch bei denjenigen, die sich eher schwerer tun, dafür wirbt.

Vielleicht sollte ich wirklich einmal „Tokio Hotel“ oder „Silbermond“ fragen, wie wir Politiker besser bei jungen Menschen für politisches Engagement werben können. Erich Kästner hat es 1931 in seiner Fabel „Fabian“ gemacht, in dem er einen sehr idealistischen, aber wahren Satz aufgeschrieben hat:

„Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es“