Extreme Gewalt



Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble bei der Tagung ?Extreme Gewalt? in Berlin

Vor rund zwei Monaten war ich Teilnehmer einer Diskussionsrunde, in der es um das Thema Macht bei Shakespeare ging. Bei diesem Autor sind Macht und extreme Gewalt eng miteinander verknüpft. Die Welt der Mächtigen ist bei Shakespeare an vielen Stellen eine Welt der Grausamkeiten, Morde und Kriege. Nehmen Sie Macbeth oder Richard III. ? das sind Zeitgenossen, denen man nicht unbedingt nachts im Park begegnen möchte.

Luk Perceval hat den Machtkritiker Shakespeare Ende der 90er Jahre in den Mittelpunkt seiner Aufsehen erregenden 12-stündigen Inszenierung Schlachten! gestellt. Manche von Ihnen werden diese Inszenierung kennen.

Möglicherweise lohnt es sich, hier ein wenig genauer hinzusehen. Ich meine, dass es Shakespeare nicht darum ging zu zeigen, dass von politischer Herrschaft als solcher ein nicht zu bändigendes Potential an Gewalt ausgeht. Gewalt ist bei Shakespeare vor allem Kennzeichen nicht rechtmäßig erlangter Herrschaft, die ihr Legitimationsdefizit mit gewaltsamen Mitteln ? letztlich vergeblich ? zu beseitigen versucht. Richard III., Macbeth oder auch Hamlets Stiefvater sind ja gerade keine rechtmäßig auf den Thron gelangten Herrscher.

Vor diesem historischen Hintergrund haben wir uns in der erwähnten Diskussionsrunde auch darüber unterhalten, mit welchen Mitteln der Staat heute sich und seine Bürger vor Willkür und Machtmissbrauch schützen kann und wie der Staat zur Eingrenzung von Gewalt beiträgt. Diesen Faden möchte ich heute wieder aufnehmen.

Extreme Gewalt tritt vor allem in Gegenden auf, in denen die rechtsstaatliche Ordnung zusammengebrochen ist, zum Beispiel in Gesellschaften, die vom Bürgerkrieg zerrüttet sind. Die staatliche Ordnung unserer westlichen Demokratien hat es dagegen nach vielen Irrungen und Wirrungen geschafft, extreme Formen von Gewalt weitgehend aus dem Kreis der Macht und auch aus der Gesellschaft zu verbannen. Die Gewaltkriminalität ist in unserer Gesellschaft alles in allem auf einem niedrigen Niveau. Im Gegenzug sind wir umso stärker schockiert und auch traumatisiert, wenn Gewalt doch in unserer Mitte auftritt.

Der demokratische Rechtsstaat jedenfalls schützt seine Bürger nicht nur vor Gewalttaten durch Dritte, sondern er stellt auch Schranken auf, damit die Mächtigen im Staat ihre staatlichen Machtmittel möglichst nicht zweckentfremden können. Anders als zu Zeiten Shakespeares sind die westlichen Demokratien heute bestimmt von der Herrschaft des Rechts, dem Prinzip der Gewaltenteilung, dem Schutz von Minderheiten und einem dichten Netz von Checks and Balances.

Damit setzt unsere freiheitlich verfasste Ordnung auf Machtbegrenzung und nicht auf Machtkonzentration. Der Staat soll gar keine unbegrenzten Mittel haben. Und die Zeiten in unserer Geschichte, in denen der Staat am mächtigsten war und seine Entscheidungen überaus schnell gefällt hat, sind ? gelinde gesagt ? unsere schlechteren Zeiten gewesen. Deshalb sollten die Bürger auch ein bisschen Geduld haben, dass Entscheidungen etwas länger dauern können.

International haben die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen und die Einbettung in gemeinschaftsrechtliche Konstruktionen einen Gewalt mindernden Einfluss gehabt und viele Konflikte erst gar nicht eskalieren lassen. Gerade das europäische Modell hat in diesem Sinne viel Positives bewirkt. Im Übrigen hat auch die zunehmende Verflechtung unserer Volkswirtschaften in Zeiten beschleunigter Globalisierung, ihren Teil beigetragen, dass wir unsere Differenzen friedlich austragen und bereit sind, Kompromisse einzugehen.

Also ist die staatliche Gewalt in vielerlei Hinsicht eine begrenzte Gewalt. Das hat uns als Bürgern ein in der Geschichte wohl einmalig hohes Maß an Freiheit und Sicherheit gebracht. Diese Beschränkung ist deshalb so wichtig, weil der Rechtsstaat etwas darf, was sonst niemand darf. Er ist legitimiert, zum Schutz der Bürger und der staatlichen Ordnung Gewalt auszuüben, wobei die eingesetzten staatlichen Mittel dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen.

Damit die staatlichen Organe ihre Schutzaufgaben wahrnehmen können, muss es ihnen zurAbwehr von Gefahren ? unter Voraussetzungen und Begrenzungen, die man demokratisch legitimiert, also gesetzgeberisch definiert ? grundsätzlich möglich sein, Ermittlungsinstrumente einzusetzen, die mit den technischen Mitteln potentieller Gewalttäter mithalten können. Sonst würde er unfähig werden, seine Aufgaben zu erfüllen. Der Einsatz dieser Instrumente muss rechtlich eng begrenzt werden, aber mit Orwell oder auch mit der Stasi hat das wirklich nichts zu tun.

Ich halte die Rede vom ?Überwachungsstaat?, in den wir uns angeblich gerade verwandeln, nicht nur für unsinnig, sondern auch für gefährlich. Das unterstellt, dass staatliche Organe in Deutschland mit den Mitteln, die sie haben, nicht verantwortungsvoll umgehen würden. Es unterminiert das Vertrauen in staatliches Handeln, wenn der Staat in der Wahrnehmung seiner Schutzfunktion nicht als Quelle der Freiheit, sondern als deren Feind wahrgenommen wird. Nicht zuletzt besteht dadurch die Gefahr, dass am Ende das Gewaltpotential der eigentlichen Feinde unserer Freiheits- und Friedensordnung ? Kriminelle, Gewalttäter, Terroristen ? aus dem Blick gerät.

Die Anhänger der These vom Überwachungsstaat erinnern mich ein wenig an die Menschen aus dem Höhlengleichnis, das Platon im siebten Buch der Politeia entwirft. Platon lässt Sokrates in diesem Gleichnis von Höhlenbewohnern reden, die mit dem Kopf zur Wand sitzen, sich nicht bewegen können und nicht zur Seite oder nach hinten blicken können. Hinter ihnen sind einige Fackeln angebracht, so dass sie auf der Wand, auf die sie blicken, die Schatten des Geschehens sehen, das sich in ihrem Rücken abspielt. Diese Menschen, folgert Sokrates, würden die Schatten für das eigentliche Geschehen halten. Würde man sie aus der Höhle herausführen ans Tageslicht, würden sie geblendet sein, erst einmal gar nichts erkennen und sich in ihre dunkle Höhle zurückwünschen.

Und so ist mein Eindruck, dass die Leute, die 2008 in der Bundesrepublik Deutschland vom Überwachungsstaat reden, ebenfalls in ihrer Höhle sitzen, gegen die Wand ihrer eigenen Vorurteile starren und das wirkliche Geschehen in ihrem Rücken allenfalls schemenhaft wahrnehmen. Sie sind überzeugt, dass ihre Sicht die einzig richtige ist. Aber den Dingen außerhalb ihrer Höhle ins Auge sehen, wollen oder können sie nicht. Dann müssten sie sehen, dass wir Teil eines weltweiten Gefahrenraums sind und der Staat darauf angemessen reagieren muss. Solange Menschen so sind, wie sie sind, wird es wohl immer Gewalt geben.

Wenden wir uns also den konkreten Äußerungsformen von Gewalt zu und den Möglichkeiten, ihnen rechtsstaatlich zu begegnen.

Die Grenzen und Definitionen von Gewalt sind fließend. Viele Formen subtiler Gewalt werden überhaupt erst auf den zweiten Blick sichtbar. Insgesamt ist die Sensibilität für Gewalt in unserer Gesellschaft größer geworden. Die Menschen schauen genauer hin und die Anzeigebereitschaft hat deutlich zugenommen.

Gewalt hat viele Gesichter: Gewalt in der Familie gegenüber Kindern und Jugendlichen, von Jugendlichen ausgehende Gewalt bis hin zur Bedrohung unserer offenen Gesellschaft durch extremistische Gewalt und Terrorismus. Das erfordert mehrdimensionale Handlungsansätze, die wir aus einer fundierten, auch wissenschaftlichen Analyse heraus entwickeln müssen.

Sicherlich eint uns alle hier die Annahme, dass uns monokausale Ursachenbeschreibungen nur bedingt weiterhelfen. Gewalttätiges Verhalten ist auf eine Vielzahl von persönlichkeitsbezogenen wie auch situationsbezogenen, sozialen, historischen, politischen und kulturellen Zusammenhängen zurückzuführen.

Ich möchte auf zwei Erscheinungsformen von Gewalt näher eingehen, die die Medien und viele Bürger stark beschäftigen: Jugendgewalt und terroristische Gewalt.

In welchem Ausmaß Jugendgewalt stattfindet, darüber gibt es unterschiedliche Zahlen, die sich teilweise widersprechen aufgrund der nicht immer gegebenen Vergleichbarkeit der statistischen Erfassung. Die aktuelle polizeiliche Kriminalstatistik, die ich am Donnerstag offiziell vorstellen werde, verzeichnet für das letzte Jahr einen Anstieg der Jugendkriminalität um 4,9 Prozent, bei gefährlichen und schweren Körperverletzungen sogar einen Anstieg um 6,3 Prozent. Die kriminologische Forschung legt nahe, dass dieser Anstieg auch auf eine erhöhte Anzeigenbereitschaft in der Bevölkerung zurückgeht. Das allein kann die negative Entwicklung aber nicht erklären.

Um die Ursachen genauer zu ergründen, hat die Ständige Konferenz der Innenminister der Länder eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe beauftragt, ein bundesweites Lagebild zur Entwicklung der Gewaltkriminalität junger Menschen zu erstellen. Der im letzten Monat vorgestellte Abschlussbericht enthält eine ganze Reihe konkreter Handlungsempfehlungen. So muss etwa die Kommunikation zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendhilfe und Schulen deutlich verbessert werden, um problematischen Entwicklungen frühzeitig zu begegnen. Wichtig ist auch, dass der Staat auf Rechtsverstöße konsequent und schnell reagiert. Die betroffenen Gremien sind nunmehr mit der Erarbeitung entsprechender Umsetzungskonzepte beauftragt.

Weitere Erkenntnisse erwarten wir im Spätsommer 2008, wenn die Ergebnisse der repräsentativen Dunkelfelderhebung zur Jugendkriminalität vorliegen, die das Bundesinnenministerium und das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen unter Leitung von Herrn Professor Pfeiffer gegenwärtig durchführen.

Das Phänomen Jugendgewalt  macht uns klar, dass da etwas aus dem Lot zu geraten droht: Offenbar glaubt eine steigende Zahl von Jugendlichen nicht mehr daran, dass sie mit gutem Verhalten den Halt und die Anerkennung in unserer Gesellschaft finden können, die sie brauchen. Folgende Interviewaussage eines Jugendlichen verdeutlicht diese Haltung:

?Eigentlich bin ich ein friedliebender Mensch, aber ich muss in dieser Gesellschaft meinen Platz erobern und da  ich schulisch nicht sehr gut bin, muss ich mich anders beweisen. Da kommt es schon vor, dass wir Mutproben in unserer Gruppe machen und das kann schon unter Gewaltanwendung vor sich gehen. Zum Beispiel Jüngeren Geld klauen oder diese erpressen. Na ja, auf die Frage, ob das so ein guter Weg ist? ? sicher nicht, aber im Moment sehe ich für mich keine andere Lösung. Die Gruppe gibt mir Halt.?

Natürlich ist auch das nur ein Aspekt unter vielen. Sie werden im Rahmen Ihrer Forschungen noch auf weitere Motivstrukturen für Gewalthandeln gestoßen sein.

Jugendliche Gewalttäter müssen, wie gesagt, frühzeitig und nachdrücklich zu spüren bekommen, dass sie Grenzen überschritten haben und ihr Verhalten von der Gesellschaft nicht geduldet wird. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass Jugendliche unabhängig von ihrer Herkunft soziale Anerkennung finden und faire Chancen bekommen. Auch die Wertevermittlung darf nicht zu kurz kommen: Kinder und Heranwachsende brauchen positive Vorbilder, die ihnen Werte wie Toleranz und Respekt vorleben.

Die letzte öffentliche Debatte um Jugendgewalt hat sich an gewalttätigen Menschen mit Migrationshintergrund entzündet. Fragen der Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit der Bereitschaft und Fähigkeit, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren, stellen sich aber genauso bei Jugendlichen aus deutschem Elternhaus. Nicht die ethnische Herkunft ist ein Risikofaktor, sondern die Herkunft aus einem sozial schwachen Umfeld.

Jenseits repressiver Maßnahmen stellt sich für mich immer wieder grundlegend die Frage, wie wir gerade unter Jugendlichen den Sinn für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Zugehörigkeit stärken können. Das wird der Staat nicht alleine leisten können. Hier sind auch Familien, Schulen, Religionsgemeinschaften, Sportvereine und Unternehmen gefragt.

Auch extremistische Gewalt entsteht häufig aus einem Gefühl der Desintegration. Ganz gewiss gibt es beim gewaltbereiten Islamismus das Problem, dass sich einige junge Menschen ?  solche mit Migrationshintergrund, in einigen Fällen aber auch zum Islam Konvertierte ? radikalisieren, weil sie sich in unserer Gesellschaft entwurzelt fühlen. Islamistische Terrornetzwerke bieten mit ihrer Propaganda Entwurzelten eine neue Identität als so genannte ?wahre Muslime? an, als Elite des vermeintlich ?wahren? Glaubens, in ihrer extremsten Ausprägung als ?Heilige Krieger?.

Ich fürchte, dass im 21. Jahrhundert der Terrorismus zu einer maßgeblichen Form der Konfliktaustragung geworden ist und es auch bleiben wird. Er zielt ins Herz der freiheitlichen Gesellschaft. Denn Freiheit fußt auf Sicherheit.  Die Attentatsvorbereitungen im Sauerland haben gezeigt, dass wir es mit Personen zu tun haben, die zu allem entschlossen sind.

Eine Verdrängung der Gefahr und eine Weigerung, über die notwendigen politischen Schritte zu sprechen, verringern die Bedrohung nicht. Streit gehört zu unserer Demokratie ebenso wie der Wille, eine Balance zu finden. Genauso ? auch das will ich hier sehr deutlich sagen ? müssen wir die entgegen gesetzte Gefahr vermeiden, aus Sorge vor neuen Bedrohungen nicht mehr auf den freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat zu vertrauen. Das ist das Problem von Guantánamo. Und schließlich gibt es den dritten Fehler, pauschal zu sagen, dass zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen sowieso nichts bringen. Tatenlosigkeit ist auch falsch, mutlos und sicher die schlechteste Antwort auf die Herausforderungen durch den Terrorismus.

Eine wirksame Prävention setzt vor allem Information voraus. Wenn wir Anschläge verhindern wollen, muss gewährleistet sein, dass die beteiligten Sicherheitsbehörden die notwendigen Informationen gewinnen, zusammenführen und austauschen können. Damit wollen wir den Datenschutz nicht außer Kraft setzen. Auch hier müssen wir eine Balance finden. Aber ebenso richtig ist, dass das Sammeln von Daten nicht per se unvereinbar mit Datenschutz ist.

Wir brauchen hierbei vor allem die Fähigkeit zur Unterscheidung, welche Maßnahmen zur Informationsgewinnung unseren Rechtsstaat stärken, weil sie zur Durchsetzung des Rechts notwendig sind, und wo wir wirklich eine rote Linie überschreiten würden. Wenn der Eindruck erweckt wird, die Speicherung von Telefonverbindungsdaten ? die weder neu noch von mir zu verantworten ist ? sei der Beginn des Überwachungsstaates, ist das nicht gerade Ausweis eines solchen Unterscheidungsvermögens.

Es ist wenig befriedigend, wenn sich unsere Rechtsordnung im Notfall auch mit rechtlichen Notkonstruktionen behelfen muss, um effektive Gefahrenabwehr zu leisten. Auf diese Weise schwächen wir unseren Rechtsstaat. Nehmen Sie die Anschlagsvorbereitung im Sauerland im September vergangenen Jahres: Um die explosive Flüssigkeit in den Fässern heimlichaustauschen zu können, musste man die Fässer als Beweismittel ?beschlagnahmen? und das heimliche Betreten der Garage als notwendige Begleitmaßnahme ansehen.

Wer jede sachliche Diskussion mit dem Erregungsinstrumentarium unserer political correctness zu verhindern sucht, der darf sich nicht wundern, wenn er jenen in die Hände spielt, die im Zweifel lieber in Grauzonen agieren.

Und wenn Terroristen vor allem über das Internet kommunizieren und modernste Technologie für ihre Planungen nutzen ? und eben das machen sie ?, brauchen unsere Sicherheitsbehörden auch die Instrumente und Befugnisse, um auf gleicher Augenhöhe zu operieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich im Internet ein rechtsfreier Raum entwickelt, der sich dem staatlichen Zugriff entzieht. Der Rechtsstaat muss seine Aufgabe, das Recht zu wahren und durchzusetzen, auch in einer sich rasant verändernden Gesellschaft erfüllen.

Es kann zur Abwehr schwerer terroristischer Gefahren in Ausnahmefällen auch notwendig sein, gezielt und innerhalb enger rechtlicher Grenzen auf einzelne Inhalte zuzugreifen, die der Verdächtige auf seinem Computer gespeichert hat. Die Einführung einer Maßnahme wie der Online-Durchsuchung, mit der wir auf den technischen Fortschritt reagieren, den Terroristen für sich nutzen, gefährdet unseren Rechtsstaat nicht, sondern sie erhält ihn. Nur wer bereit ist zur Veränderung, wird den Rechtsstaat bewahren können.

Am nachhaltigsten können wir uns vor extremistischer Gewalt schützen, indem wir möglichst viele Menschen von der Attraktivität einer freiheitlichen Gesellschaft überzeugen. Dazu dürfen wir uns nicht nur auf die wenigen Gewalttäter konzentrieren. Wir müssen auch ihr soziales Umfeld berücksichtigen, das sie unterstützt, das ihnen Anerkennung gibt und aus dem sie neue Anhänger gewinnen. Deshalb müssen wir gewaltbereite Fanatiker isolieren und gemäßigte Kräfte in unser Vorgehen einbinden.

Dazu sollten wir gerade auf muslimische Zuwanderer offen zugehen und ihnen signalisieren, dass sie ein Teil unseres Landes sind. Viel zu oft wird Islam in unserer Gesellschaft mit Islamismus gleichgesetzt, ist unser Islambild von Vorurteilen geprägt. Muslimen wird zu oft pauschal eine sich aus ihrer Religion ableitende Gewalttätigkeit nachgesagt. Es scheint so, als würde in Deutschland, aber auch in der westlichen Staatengemeinschaft, die Sichtweise dominieren, der Islam passe nicht in unsere westliche Welt.

Wir müssen muslimischen Zuwanderern vermitteln, dass wir Integration wirklich wollen, aber auch klarmachen, zu welchen Bedingungen dies geschieht und wo Grenzen gesetzt sind. Deswegen hat die Bundesregierung eine Reihe von Integrationsinitiativen gestartet, an denen sich Bund, Länder, Kommunen und Vertreter der Zivilgesellschaft, zu denen auch Migrantenverbände sowie kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen gehören, gemeinsam beteiligen. Zu diesen Initiativen gehört auch die von mir 2006 ins Leben gerufene Deutsche Islam Konferenz.

Egal, ob es um Jugendgewalt, Terrorismus oder andere Formen gewaltsamer Auseinandersetzung geht: Gewalttätigem Handeln liegt in der Regel eine Kombination von Risikofaktoren zugrunde, die sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. Das beinhaltet auch eine Chance: Einzelne, die Gewaltneigung verstärkende Einflüsse ? dazu gehören auch neurophysiologische Veränderungen ? können durch andere, positive Einflussfaktoren kompensiert werden. Vielleicht werden wir dazu im Lauf der Tagung noch das eine oder andere Wort hören. Hier sehe ich jedenfalls ein großes Betätigungsfeld für wissenschaftliche Forschung.

Dieser Erklärungsansatz eröffnet auch neue Wege der Prävention: An erster Stelle sollte es unser Ziel sein, jeden Einzelnen zu fördern und zu integrieren, um so den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig zu stärken. Aus der Präventionsforschung lernen wir, dass wir hier so früh wie möglich ansetzen sollten, um Kinder auf eine komplexe und offene Gesellschaft vorzubereiten.

Generell sollten wir uns stärker fragen, wie wir Menschen auf die komplexen Anforderungen einer offenen, globalisierten Gesellschaft mit ihrem rasanten Veränderungstempo vorbereiten können, so dass sie in der Lage sind, auch auf existenzielle Verunsicherungen und Probleme rational zu reagieren. Vielleicht ist hierfür Reflexivität, anders gesagt: das Denken über Denken eine wichtige Schlüsselkompetenz, wie das auch die OECD annimmt.

Schulen und Hochschulen sind herausgehobene Orte, um Menschen das geistige Rüstzeug zu vermitteln, mit dem sie sich in der globalisierten Welt zurechtfinden können. Ich will aber auch hinzufügen, dass ich skeptisch werde, sobald das Denken über das Denken überhand nimmt, weil dann die Wirklichkeit vielleicht doch zu kurz kommt und wir Platons Höhlenbewohnern zu ähneln beginnen. Im Übermaß droht auch das Gute schädlich zu werden.

Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte hat es in der Selbstreflexivität zu einiger Meisterschaft gebracht. Mein Eindruck ist aber, dass sich viele Forscher jetzt wieder stärker der Wirklichkeit zuwenden. Ihr wissenschaftliches Netzwerk scheint mir ein gutes Beispiel dafür zu sein. Wo Gewalt auftritt, lässt sie die Menschen irritiert und ratlos zurück. Die Politik braucht Ihre wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet ganz besonders.

Aus einem weiteren Grund bin ich an Ihrer Arbeit sehr interessiert und habe die Schirmherrschaft für diese Veranstaltung gerne übernommen: Für ein in mehrfacher Hinsicht entgrenztes Phänomen wie die Gewalt hat niemand die alleinige Deutungshoheit. Deshalb braucht es eine Gewalt-Forschung, die die Grenzen einzelner Disziplinen überschreitet.

Gewalt kann man nur mehrdimensional, interdisziplinär, durch den Einsatz vieler Köpfe und das beherzte Engagement vieler Menschen in ihren unterschiedlichen Dimensionen aufhellen und wirksam eindämmen.

Ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit, insbesondere für diese Konferenz, viel Erfolg und uns allen ein gutes Gelingen.