Europa – Komfortzone, Schicksalsgemeinschaft, Zukunftsaufgabe



Rede von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Europäischen Bewegung Deutschland

Sportlern und Managern wird gerne gepredigt: Wer etwas erreichen will, darf nicht bei den Dingen verharren, die ihm leicht fallen. Er muss vertrautes Terrain hinter sich lassen. Er darf sich nie zu sicher sein oder sich gar am Ziel wähnen. Er muss, wie es im Beraterdeutsch heißt, raus aus der Komfortzone.

Es ist schon richtig: Für Erfolge muss man bereit sein, sich zu überwinden, Neuland zu betreten. Man stößt mit dieser Haltung im Alltag aber auch an Grenzen. Kein Mensch kann ständig im Ausnahmezustand sein. Wir brauchen auch Routinen, Gewohntes; sonst droht Überforderung, zumal in unserer Welt der Globalisierung mit ihrem hohen Tempo der Veränderung. Dabei wird gelegentlich die Kraft unterschätzt, die im Erreichten, Bewährten und Vertrauten liegt.

Das gilt auch in Europa: Viele der in Brüssel getroffenen Entscheidungen haben sich im Alltag der Unionsbürger bewährt. Die europäische Dimension ist zunehmend selbstverständlich geworden – im Arbeitsleben, im Warenverkehr, in Forschung und Wissenschaft, im Miteinander der Kulturen. Europa gibt uns ein Maß an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, wie wir es in der Vergangenheit niemals hatten.

Man kann also sagen, dass es heute für die Bürger in Europa so etwas wie eine Komfortzone gibt. Das ist eine Errungenschaft. Es gibt sie dank persönlicher Kontakte, Austauschprogramme und Stipendien, dank des Euro und des gemeinsamen Marktes, dank der Reise- und der Niederlassungsfreiheit, dank gemeinsamer Standards und Absprachen, weit über die institutionelle Ebene hinaus. Der Postverkehr in Europa ist schneller und einfacher geworden, Zugfahrpläne sind besser aufeinander abgestimmt, mit dem Flugzeug ist man genauso schnell und meist auch nicht viel teurer in Brüssel und Paris wie in Frankfurt oder München.

Hinter all dem steckt eine außergewöhnliche Entwicklung. Zwei Weltkriege hatten Europa zu einem gigantischen Schlachtfeld gemacht. Vielerorts war ein europäisch ausgreifendes Denken nationaler Engstirnigkeit bis hin zu chauvinistischer Verblendung gewichen. Das gegenseitige Misstrauen war riesig. Danach setzte der Kalte Krieg ein und teilte Europa. Mitten durch Deutschland gingen die Grenzen der neuen Weltordnung. Ein umfassender Neuanfang war nötig.

Der Blick in den Abgrund von Krieg und Völkermord hat bei vielen Menschen eine neue Bereitschaft zur Versöhnung entstehen lassen, einen Willen zu Gemeinsamkeit und Vernetzung, die Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden. Es stimmt nicht, dass Europa und die europäische Einigung „von oben“ verordnet worden wären. Ein friedliches, geeintes Europa lag vielen Bürgern am Herzen.

Der Weg der Deutschen zu Freiheit und Demokratie war nach 1945 eng mit der europäischen Integration verbunden. Erst recht war die Frage der Deutschen Einheit eine Frage der europäischen Integration: Schon in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 waren beide Ziele in einem Atemzug genannt, wenn vom „Willen“ des deutschen Volkes die Rede war, „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichwertiges Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Unser Land hat sich das Vertrauen erst wieder erwerben müssen, das es unseren Nachbarn später möglich machen sollte, der Deutschen Einheit zuzustimmen. Konrad Adenauer hat das klug erkannt: „In Deutschland waren Auffassungen vertreten, nach denen es für uns entweder nur eine Politik für Europa oder aber eine Politik für die deutsche Einheit gäbe. Ich hielt dieses ‚Entweder-Oder’ für einen sehr verhängnisvollen Irrtum.“

Heute trennen uns die Grenzen, die einst unüberwindbar schienen, nicht mehr. Der Beitritt der osteuropäischen Länder zur Europäischen Union und die Erweiterung des Schengenraums schließen eine glückliche Entwicklung ab, die mit dem Fall der Berliner Mauer begann. Der Osteuropa-Experte Karl Schlögel hat dazu einmal ebenso schön wie treffend gesagt: „Für jemanden wie mich, der noch ganz im Schatten des Eisernen Vorhangs aufgewachsen ist, liegt über dem, was seit 1989 geschieht, noch immer der Zauber dessen, dass etwas eingetreten ist, auf das man schon nicht mehr hoffen konnte.“

Das alles ist eine Folge der europäischen Entwicklung. Die Idee eines vereinten Europas bekam in den frühen Nachkriegsjahren erste konkrete Formen. Bereits 1947 hatte Winston Churchill das „United Europe Movement“ in England gegründet. Wenige Monate später folgte ein Ableger in Frankreich. Im Mai 1948 tagte dann in Den Haag der Europakongress mit 800 Delegierten aus ganz Europa.

Wie in der Haager Deklaration verabredet, hat sich schon wenige Monate später in Brüssel die Europäische Bewegung gegründet. Im Jahr darauf gründete sich die Europäische Bewegung Deutschland. Das war fast auf den Tag vor 60 Jahren, am 13. Juni 1949. Die Europäische Bewegung Deutschland ist damit nur wenige Wochen jünger als die Bundesrepublik Deutschland. Paul Löbe wurde Gründungspräsident des deutschen Ablegers, Carlo Schmid hielt auf der Gründungsveranstaltung eine visionäre Rede zur Übertragung von Souveränität auf ein überstaatliches europäisches Gebilde. Konrad Adenauer achtete darauf, dass die deutsche Sektion dem überparteilichen Anspruch der Bewegung gerecht wurde.

Das war das Umfeld, in dem der Schuman-Plan einer Montanunion seine segensreiche Wirkung entfalten konnte. Die weitere Entwicklung ist Ihnen bekannt. Wir können dankbar und mit Stolz auf das Erreichte blicken. Europa hat sich gerade für Deutschland – aber nicht nur für unser Land – als Glücksfall erwiesen.

Frieden und Völkerverständigung waren das eine treibende Motiv. Man brauchte einen institutionellen Rahmen, um Streitigkeiten zwischen einzelnen Ländern gewaltfrei beizulegen. Das alleine kann aber nicht den großen, nachhaltigen Erfolg der europäischen Integration erklären.

Etwas anderes kam hinzu: Die Europäische Union ist – in all ihrer Kompliziertheit – das mit weitem Abstand interessanteste Modell unter den neuen Formen über- und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, die sich im Zuge der Globalisierung herausgebildet haben. Andere Teile der Welt sehen auf uns mit Hoffnung. Auch daraus erwächst eine Verantwortung für Europa.

Die Nationalstaaten mussten feststellen, dass sie in der vernetzten Welt im Alleingang nicht mehr viel bewirken konnten. Das ist uns in Deutschland nach 1945 leichter gefallen als anderen. Die Notwendigkeit, gemeinsam zu handeln, nahm auf immer mehr Gebieten immer weiter zu: die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, die Steuerung von Migrationsströmen, die Bekämpfung des Klimawandels, die Sicherung der Energieversorgung, Terrorismusbekämpfung, militärische Interventionen, die Arbeit in Krisenregionen. Die Zusammenarbeit musste auch aus dieser Notwendigkeit heraus einen verbindlichen, entwicklungsfähigen Rahmen bekommen. Und Europa musste und muss weiter lernen, nach innen und außen geschlossen aufzutreten, um etwas zu erreichen.

Es gibt die Erfahrung, dass alles, was wir selbstverständlich zu besitzen glauben, in der individuellen Wertschätzung abnimmt. Jedes Ziel, das erreicht ist, droht an Bedeutung zu verlieren. Die Anstrengungen, es immer weiter zu verfolgen, lassen nach. Das entspricht dem ökonomischen Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen. Ein Teil der heutigen Europamüdigkeit, die auch in der niedrigen Wahlbeteiligung zum Ausdruck kommt, lässt sich dadurch erklären. Aber wir dürfen uns damit nicht zufrieden geben.

Vieles hat sich über die Jahre geändert – die Größe der Europäischen Union, ihre Handlungsgrundlage, ihre Aufgaben und Kompetenzen. Sie ist Normalität für fast 500 Millionen Bürger geworden. Ihre Ansprüche auf Teilhabe und Transparenz haben zugenommen. Die gescheiterten Referenden in einigen Mitgliedsstaaten zu Maastricht und zu Lissabon haben gezeigt, dass viele Menschen – auch viele jungen Menschen – befürchten, durch die europäische Integration mehr zu verlieren als zu gewinnen.

Man macht es sich kaum noch klar, wie unser Leben ohne Europa aussehen würde. Ich möchte den sehen, der wieder Visa beantragen und Geld tauschen will, wenn er ins Nachbarland fährt. Oder die, die mit zig verschiedenen Adaptern reist, um im Hotelzimmer ihren Computer anschließen zu können. Normierungen bringen praktische Vorteile, der Binnenmarkt tut es, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik tut es auch. Das Bewusstsein für das, was Europa für uns alle und jeden einzelnen Bürger leistet, müssen wir uns erhalten.

Es gilt mittlerweile als selbstverständlich, dass wir in Frieden mit unseren Nachbarn leben, dass wir ein hohes Maß an Sicherheit haben, dass Europa Wohlstand gebracht hat und bringt. Und weil es so selbstverständlich ist, ist eine verbindende Leitidee nicht mehr wirklich zu erkennen. Die Aufbruchstimmung der frühen Jahre ist vielerorts einer Ernüchterung gewichen; auch Unverständnis und Unmut über ein zu komplexes Gebilde, das nur wenige durchschauen, sind nicht zu leugnen.

„Europa bringt uns nicht mehr zum Träumen“, hat der luxemburgische Premierminister, Jean-Claude Juncker, kürzlich gesagt. Möglicherweise liegt das auch daran, dass man es sich zu bequem eingerichtet hat im europäischen Haus – als Subventionsempfänger, Funktionsträger, Interessengruppe. Wir genießen die Vorzüge der Komfortzone, und dass es sie gibt, ist, wie gesagt, eine riesige Leistung. Aber Europa muss weiter bereit sein, sich zu bewegen, sich institutionell zu reformieren, mehr mit einer Stimme zu sprechen, um neue Herausforderungen bewältigen zu können. Dazu brauchen wir das Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden Schicksals auf der Basis geteilter Werte. Es sind Recht, Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Toleranz, die in Europa ihren Ursprung haben und die uns auszeichnen.

Die Antwort auf die globalen Herausforderungen lautet nach meiner festen Überzeugung: mehr Europa. Kein europäisches Land wird allein genug Macht und Einfluss haben, um die Zustände in der Welt im Sinne unserer Vorstellungen und Verantwortung hinreichend beeinflussen zu können. Es schadet auch nichts, sich klar zu machen, dass wir Europäer im Jahr 2050 voraussichtlich nur noch knapp 5 Prozent der Weltbevölkerung stellen werden. Nur ein geeintes Europa wird in der Lage sein, seine Werte in einer globalisierten Welt zu verteidigen.

Dafür braucht Europa die Unterstützung seiner Bürger. Um sie zu bekommen, müssen die Entscheidungsträger in den Ländern aufrichtig sein. Es bringt uns nicht weiter, wenn jeder Erfolge reflexhaft national für sich reklamiert und Misserfolge auf Europa schiebt. Jeder muss sich der Verantwortung stellen, die Europäische Union immer wieder zu erklären und für Vertrauen zu werben, was Kritik im Einzelfall nicht ausschließt.

Am überzeugendsten kann Europa um Unterstützung werben, indem es beweist, dass es einen substantiellen Beitrag zur Lösung der fundamentalen globalen Zukunftsfragen leisten kann. Bei der Bekämpfung der Finanzkrise hat Europa gezeigt, dass es das kann.

Nun meinen manche, mehr Zustimmung könne man erreichen, indem man immer weitere Aufgaben auf Europa überträgt und dadurch seine Wichtigkeit demonstriert. Das ist aber ein Irrglaube. Die Wichtigkeit einer Aufgabe bemisst sich nicht daran, dass sie auf einer möglichst hohen Ebene angesiedelt ist. Und die Wichtigkeit einer Institution misst sich nicht daran, dass sie möglichst viele Aufgaben an sich zieht. Man kann Zustimmung auch durch Zurückhaltung gewinnen.

Es gehören nur die Aufgaben in europäische Verantwortung, die durch die Mitgliedsstaaten allein nicht zureichend gelöst werden können. Viele Probleme lassen sich besser vor Ort lösen, wo die Verhältnisse in ihrer jeweiligen Besonderheit besser überschaubar sind und engere Bindungen zwischen den Menschen bestehen. Wir sollten in Europa den Subsidiaritätsgrundsatz wirklich ernst nehmen: Nur Aufgaben, die nicht auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene erfüllt werden können, gehören nach Europa. Alles andere führt zu einer Überforderung europäischer Einrichtungen und zu einer Unterforderung nationaler, regionaler und lokaler Institutionen und im Endeffekt zu schlechteren Lösungen. Deshalb müssen wir darauf achten, dass wir Zusammenarbeit nicht missverstehen als Übertragung aller Zuständigkeiten auf eine europäische Zentralinstanz – und sei es im Alltag auch nur in kleinen Schritten, die aber immer in dieselbe Richtung zielen.

Ein starkes Europa bekommen wir nicht durch mehr Zentralisierung, sondern durch Entflechtung, Kompetenzabgrenzung, föderal angelegte Zusammenarbeit. Wir dürfen die Bindung der Menschen an Länder, Städte und Regionen, in denen sie leben, nicht außer Acht lassen. Menschen brauchen Vertrautheit, Orientierung und Verwurzelung. Ohne gelebte Subsidiarität werden sich die Bürger nicht in unserem europäischen Gemeinwesen mit seinen verschiedenen Ebenen heimisch fühlen.

Im Sinne der Vielfalt und des Wettbewerbgedankens müssen wir genauer prüfen, wie viel Harmonisierung tatsächlich notwendig ist. Dabei stellt sich auch das Problem, dass europäische Regelungen bei ganz unterschiedlichen nationalen Erfahrungen mit Rechtssetzung und Rechtsanwendung notwendigerweise detaillierter ausfallen müssen als auf der Grundlage einer gewachsenen Rechtstradition und -kultur. Das aber führt zu einer Unterforderung freiheitlicher Kräfte. Perfektionismus ist immer eine Gefahr. Alles Gute droht sich im Übermaß selbst zu zerstören.

Wenn die europäische Politik sich auf das Wesentliche und Praxistaugliche konzentriert, wird sie auch die Zustimmung der Bürger behalten. Mit europäischen Normen bis ins kleinste Detail alles regeln zu wollen und so auch bewährte Politiken der Mitgliedstaaten auszuhebeln, ist kontraproduktiv, Europa darf sich nicht verheben. Als Folge droht, dass wir am Ende den Überblick verlieren.

Nach diversen Erweiterungsrunden müssen wir die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union auf eine neue vertragliche Grundlage stellen. Die vorhandene Europaskepsis unterstreicht, dass es zum Weg der Bürgernähe, Transparenz und demokratischen Legitimation keine Alternative gibt. Niemand wird behaupten, dass der Vertrag von Lissabon schon der Weisheit letzter Schluss ist. Er ist aber viel besser als der Vertrag von Nizza geeignet, die Zusammenarbeit in einem Europa der 27 Staaten zu organisieren.

Ich bin zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungskonformität des Reformwerks nicht in Frage stellen wird. Der Vertrag beeinträchtigt die nationale Souveränität nicht in einem Maße, wie es vom Grundgesetz nicht gewollt ist; die Mitgliedsstaaten bleiben Herren der Verträge. In unserem Grundgesetz ist die arbeitsteilige Ausübung staatlicher Souveränität, wie sie im neuen EU-Vertrag festgelegt ist, von Anfang an angelegt, in der Präambel über Art. 24 bis zum Art. 23 in seiner heutigen Fassung über die Europäische Union. So heißt es in Art. 24: „Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.“

Wenn der Lissabon Vertrag in Kraft tritt – wovon ich ausgehe -, wird das Europäische Parlament mehr Gestaltungsmacht haben. Wir brauchen diesen Gewinn an demokratischer Legitimation. Er wird Europa gut tun und helfen, die Aufgaben der Zukunft zu meistern.

Wie wir eine stärkere Beteiligung bei den Wahlen erreichen, ist nicht nur ein Problem des Europäischen Parlaments. Viele – auch ich persönlich – sehen in einer Stärkung personaler Elemente eine Chance. Anderswo sehen wir bei der Wahl eines Präsidenten ein hohes Maß an Beteiligung, im Wahlkampf und bei der Wahl. Natürlich sind wir heute in der EU davon noch ein gutes Stück entfernt. Aber die Chance auf Integration und gemeinsame europäische Kommunikation durch die Wahl eines europäischen Präsidenten sollten wir meines Erachtens langfristig nicht außer Betracht lassen.

Wenn wir an die Aufgaben des nächsten Jahrzehnts denken, erfüllt viele Menschen die weltweite Wirtschaftskrise mit großer Sorge. Die Frage ist, ob es Europa gelingen wird, sein Modell der Sozialen Marktwirtschaft zu verteidigen.

Hierzu sind gemeinsame Anstrengungen notwendig. Kurzfristig war unser Hauptanliegen, die Banken zu stabilisieren und die Unternehmen mit Krediten zu versorgen, um einen Investitionsrückgang und ein rapides Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Dabei müssen wir wachsam sein: Arbeitsplätze durch Wettbewerbshemmnisse und Protektionismus zu sichern, wäre der falsche Weg. Auch in der Krise müssen die europäischen Ordnungsprinzipien des Binnenmarktes weiter gelten. Ein funktionierender europäischer Binnenmarkt ist und bleibt Voraussetzung für unsere globale Wettbewerbsfähigkeit und unseren Wohlstand.

Um unsere weltweite Spitzenstellung zu verteidigen, reicht es nicht, auf Bewährtes zu setzen. Wir müssen bei den Zukunftstechnologien präsent sein. Umwelttechnologie und alternative Energien, Kommunikations- und Informationstechnologie, Bio- und Nanotechnologie – wer hier führend ist, sichert nachhaltiges Wachstum. Ebenso müssen wir uns intensiv um Bildung und Weiterqualifikationen kümmern. So können wir uns über die kurzfristige Krisenbewältigung hinaus neue Chancen eröffnen.

Europas Regierungen haben entschlossen agiert, als sie im letzten Herbst mit Garantien und Kapitalspritzen die europäischen Finanzmärkte stabilisierten. Nun müssen wir den bestehenden Ordnungsrahmen verbessern, damit Vergleichbares sich in Zukunft möglichst nicht wiederholen wird. Dazu müssen wir Aufsichts- und Regulierungslücken schließen und eine Neuordnung der Finanzarchitektur weltweit erreichen. Mit Neuregelungen für Ratingagenturen sowie zu den Eigenmitteln der Banken hat die Europäische Union erste Konsequenzen gezogen. Sie hat damit Handlungsfähigkeit bewiesen.

Im europäischen Binnenmarkt muss die Aufsicht über die Finanzmärkte europäisch geregelt sein. Alles andere würde zu kurz greifen. Wir müssen uns von der Vorstellung rein nationaler Aufsichtsstrukturen lösen. Für die Aufsicht ist derzeit Europa die richtige Ebene. Hier haben wir bewährte Strukturen und eingespielte Prozesse, auf die wir aufsetzen können. Vergleichbares haben wir auf internationaler Ebene noch nicht erreicht.

Auch in der Sicherheitspolitik greifen rein nationale Ansätze zu kurz. Im Grunde ist heute jede Form professioneller Kriminalität ein grenzüberschreitendes Phänomen. Deswegen sind im letzten Jahrzehnt Sicherheitsfragen immer mehr ins Zentrum europäischer Politik gerückt. Wir brauchen ein europäisches Sicherheitsnetz, das ebenso grenzübergreifend ausgelegt ist, wie die Bedrohung, die es eindämmen soll.

Die Menschen wollen, dass ihnen Europa mit mehr Freiheit nicht weniger Sicherheit bringt. Das hat die Debatte um die Schengen-Erweiterung deutlich gemacht. Eine große Mehrheit der Unionsbürger – mehr als 80 Prozent – will auch, dass wir bei der Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und Terrorismus verstärkt europäisch aktiv werden. Eine entschlossene und maßvolle Sicherheitspolitik bietet eine Chance, das Vertrauen der Bürger in die europäischen Institutionen zu erhalten und zu stärken. Sicherheit geht nicht auf Kosten von Freiheit. Im Gegenteil: Sicherheit ist immer Vorbedingung dafür, dass Menschen selbstbestimmt und in Freiheit leben können.

Ich möchte drei Handlungsfelder nennen, die in den nächsten Jahren unser besonderes Augenmerk verdienen:

Die Schengenerweiterung war ein großer Erfolg. Grenzen, die im Kalten Krieg unüberwindlich schienen, trennen uns nicht mehr. Das erlaubt allen Bürgern im Schengenraum, innerhalb der Union ohne Vorlage von Ausweispapieren frei zu reisen. Dagegen ist die Einreise für Menschen, die nicht Unionsbürger sind, oftmals noch mit Hindernissen verbunden. Bürgerfreundlichere Einreisekontrollen könnten zu großen Erleichterungen für alle Reisenden führen. Warum sollten wir nicht auch Personen- und Zollkontrollen zusammenführen? Im Übrigen ist die Debatte über eine Festung Europa irreführend. Wir kontrollieren an Schengen-Außengrenzen nicht intensiver als zuvor an nationalen Grenzen. Die Tatsache, dass wir nur noch an Außengrenzen, aber nicht mehr an Binnengrenzen kontrollieren, kann aber – bei konstantem Niveau – den Vorwurf der Festung nicht begründen.

Die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit von Daten ist Herausforderung und Chance für unsere Sicherheit zugleich. Die Sicherheitsbehörden müssen ihre Arbeitsweise ändern, wenn sie die Datenflut bewältigen und Erkenntnisse daraus zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität gewinnen wollen. Wir müssen uns europaweit verständigen, welche Daten wir aus Sicherheitsgründen unbedingt benötigen und auf welche wir verzichten können. Gleichzeitig brauchen wir eine europäische Strategie zum Informationsmanagement. Sie muss eine professionelle und praxisorientierte Verwendung von Informationstechnologien ermöglichen. Natürlich müssen wir für den Zugriff auf die Daten Lösungen finden, die zugleich praxistauglich sind und den zu Recht hohen Anforderungen an den Datenschutz genügen.

Migration wird in unserer globalisierten Welt weiter zunehmen. Weltweit gibt es rund 200 Millionen Menschen, die fern ihrer Heimat leben. Etwa 42 Millionen Menschen befanden sich letztes Jahr auf der Flucht. Nach Angaben der Vereinten Nationen ist Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen besonders aktiv. Wir haben im letzten Jahr das viertgrößte Kontingent an Flüchtlingen weltweit aufgenommen.

Europa braucht Austausch und Mobilität im eigenen Interesse. Die demographische Entwicklung wird in der Europäischen Union zu einer höheren Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften führen. Gleichzeitig wehren sich von Auswanderung betroffene Staaten gegen einen „brain drain“. Eine wichtige Aufgabe wird sein, Migrationsbewegungen zu steuern. Hierzu könnte „zirkuläre Migration“ einen wichtigen Beitrag leisten. Sie schafft in der Sprache der Migrationsexperten eine „triple win“-Situation, von der die Aufnahme- und Herkunftsländer und auch die Migranten selbst profitieren. Sie sieht vor, dass Arbeitssuchende aus anderen Regionen dieser Welt durch befristete Zuwanderung unsere Arbeitsmärkte beleben und sich bei uns weiterqualifizieren. Nach ihrer verpflichtend vorgesehenen Rückkehr sind sie mit den gewonnenen Erfahrungen umso wertvoller für die Wirtschaft ihres Herkunftslandes. Diesen Ansatz sollten wir behutsam und konsequent weiterentwickeln.

Wenn Europa in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts eine gestaltende Rolle spielen will, muss es nach außen geeint auftreten und mit einer Stimme sprechen. Wir brauchen mehr europäische Integration, um außenpolitisch geschlossen auftreten zu können. Dazu gibt der Vertrag von Lissabon wichtige Hilfestellungen.

Der G20-Gipfel in London Anfang April hat die Konturen der neuen Weltordnung deutlich werden lassen. Er hat auch gezeigt, welche wichtige Rolle die Europäische Union spielen kann, wenn sie sich auf eine Position verständigt und sie gemeinsam vertritt.

Die Welt wird sich durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, Indiens und anderer Schwellenländern und auch durch das Wiedererstarken Russlands politisch neu ordnen. Die aktuelle Krise beschleunigt diese Entwicklungen. Das kann zu neuen Konflikten führen, wenn wir nicht neue Formen der Zusammenarbeit finden. Wer, wenn nicht Europa, könnte vorangehen, um ein offenes System internationaler Regierungsführung zu fördern? Wir Europäer haben die meisten Erfahrungen, nationale Interessen zurückzustellen und unterschiedliche Interessen zusammenzuführen. Mit der Europäischen Union haben wir ein funktionierendes Modell für Multilateralismus entwickelt.

Diese Erfahrung wird künftig noch stärker global gefordert sein. Auch bei militärischen und zivilen Einsätzen wird die Europäische Union noch mehr Verantwortung übernehmen müssen. Stabilisierung von Afghanistan, Krisenintervention in Afrika, Polizeimissionen, auch das gezielte Vorgehen gegen Piraten werden Aufgaben sein, die unseren vollen Einsatz erfordern.

Bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen sind wir auf dem Weg, Europa als handlungsfähige Einheit weiterzuentwickeln. Ein Europa, das die Bürger bewegt, darf nicht nur ein Europa der Institutionen und Ausschüsse sein. Es muss in der Zivilgesellschaft verankert sein. Dazu muss es sich weiter öffnen.

Die Europäische Bewegung Deutschland zeigt in vorbildhafter Weise, was ein professionell organisiertes Netzwerk der Zivilgesellschaft für Europa leisten kann und wie man der europäischen Integration neue Impulse geben kann. Im Namen der Bundesregierung gratuliere ich Ihnen zu 60 Jahren guter, erfolgreicher Arbeit und danke Ihnen allen, die sich für Europa engagieren.

Wir stehen in den nächsten Jahren vor wichtigen Weichenstellungen. Es wird sich zeigen, wie groß der gemeinsame Gestaltungswille ist. Der Ausgang ist, wie immer, offen. Aber es gibt gute Gründe, an die Stärke der Europäischen Union zu glauben und optimistisch in die Zukunft zu sehen. Wir brauchen Europa. Und wir brauchen Europas Bürger.