Erste Ordinationsfeier des Rabbinerseminars zu Berlin



Rede von Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Wenn allem Anfang ein Zauber innewohnt, dann ist heute ein zauberhafter Tag. Bei der Ordination der ersten zwei Absolventen des neu erstandenen Rabbinerseminars zu Berlin hier in der Ohel Jakob Synagoge in München eine Ansprache halten zu können, ist für einen Bundesminister des Innern Ehre. Für mich persönlich ist es auch ein bewegender Moment. Wir begehen heute gemeinsam einen historischen Moment für das Wiedererstehen jüdischer Gemeinden in Deutschland und ganz Europa.

Ausgerechnet in einer Stadt, in der die Terrorherrschaft der Nazis ihre ersten Anfänge nahm, können wir über 60 Jahre nach Kriegsende das Wiederaufblühen jüdischen Lebens in Deutschland in seiner ganzen Vielfalt, in Bildung und Wissenschaft feiern, das von den jüdischen Gemeinden getragen, und besonders auch von ihren Lehrern und Leitern, den Rabbinern, geprägt wird.

Mit Rabbi Avraham Radbill, der aus der Ukraine nach Deutschland gekommen ist und die Kölner Gemeinde leiten wird, und Rabbi Zsolt Balla, der aus Ungarn stammt und vor allem in Leipzig wirken wird, werden zwei junge Rabbiner ordiniert, die wie viele der Mitglieder ihrer Gemeinden ihre Wurzeln in Mittel-/Osteuropa haben. Ihre Aufgabe wird traditionell die eines Lehrers sein, aber auch die eines pontifex – und im ganz wörtlichen Sinne: die eines Brückenbauers.

Die beiden stehen dabei auf den Schultern von Riesen, denn sie haben in Berlin ein Seminar besucht, das die Nachfolgeinstitution des „Hildesheimers“ ist, jenes legendären Berliner Rabbinerseminars also, das 1869 von Rabbi Dr. Esriel Hildesheimer gegründet worden ist. Auf sein prägendes Wirken komme ich später noch zu sprechen.

Mit Hilfe und Unterstützung von Lauder Yeshurun, einer Organisation, die sich besonders der Förderung der Torah-Ausbildung verschrieben hat, wird dieses Seminar eine der führenden jüdischen Ausbildungsinstitutionen in Europa sein. Die beiden Ordinierten sowie die übrigen sieben Studenten sind Teil der Yeshiva Beit Zion und werden in Deutschland und weit darüber hinaus wirken. Wir feiern also ein historisches und theologisches Ereignis, das auch weit über die Grenzen des Judentums in Deutschland wirkt.

Als Innenminister bin ich unter anderem zuständig für die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften. Natürlich regelt der Staat nicht deren Angelegenheiten, aber wenn der Staat laut des berühmten Böckenförde-Diktums von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, dann schaffen gerade die jüdischen Gemeinde mit Blick auf die jüdisch-christlichen Wurzeln unserer Gesellschaft und unseres Rechtssystems Fundamente, auf die wir in Deutschland nicht verzichten können und wollen.

Auch deshalb ist der Staat daran interessiert, die Arbeit wie die dieses Rabbinerseminars und ihrer Gemeinden nach besten Kräften zu unterstützen. Denn die darin ausgebildeten Rabbiner und die Gemeinden, die sie leiten, bauen mit am Fundament unserer Gesellschaft. Und sie leisten noch etwas anderes: Sie integrieren. Mehr als 200.000 russische Zuwanderer sind mit ihren Familienangehörigen aus der früheren Sowjetunion seit 1991 angekommen. Dies hat viele neue Herausforderungen gebracht, aber es hat vor allem auch neuen Schwung in die jüdischen Gemeinden in Deutschland gebracht. Seitdem ist viel von der Renaissance jüdischen Lebens bei uns die Rede. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland gilt als die am stärksten wachsende in der Welt. Als wir 1991 über die Aufnahme jüdischer Zuwanderer aus der Sowjetunion sprachen, habe ich als Innenminister auch gegen den Widerspruch des Staates Israel für die Aufnahme entschieden und gesagt, das es ein Geschenk für Deutschland sei, wenn nach dem Holocaust wieder jüdisches Leben in Deutschland wachse. Und so bin ich glücklich, dass ich das heute miterleben darf.

Diese Rabbiner-Ordination, die Einweihung neuer Synagogen, besonders dieser wunderbaren im Herzen Münchens, auch der Neubau der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg – all dies sind Zeugnisse für das Wiederentstehen jüdischen Lebens in Deutschland. Wir sehen wieder jüdische Zeitungen und Zeitschriften an den Kiosken.

Das alles sind angesichts des Naziterrors und der fast kompletten Auslöschung jüdischen Lebens in Deutschland große, unerhoffte Geschenke, für die aber Goethes „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ umso mehr gilt. Wir wollen sorgsam damit umgehen. Demokratie will verteidigt, Gesellschaft gestaltet, Gemeinden geleitet und mit Leben gefüllt werden, und diese Rolle als Leiter und Lehrer ist eine der wesentlichen Aufgaben derer, die heute ordiniert werden. Sie wurden gut und gründlich darauf vorbereitet.

Ein Tag wie der heutige gibt Grund zur Freude und zur Hoffnung. Aber diese Hoffnung ist nicht ungetrübt. Das wurde bereits beim Betreten dieser Synagoge klar, wo man die besonderen Sicherheitsvorkehrungen nicht übersehen konnte. Und diese Seite deutscher „Normalität“ ist bedrückend: Es gibt kaum eine größere jüdische Einrichtung in Deutschland – ob Synagoge, Kindergarten oder Schule –, die nicht permanent von Polizeikräften geschützt werden muss. Der Antisemitismus ist ein Angriff auf die Grundfesten unserer freiheitlichen Ordnung, und der Kampf dagegen darf uns nicht ruhen lassen. Der Kampf gegen jede Form von Antisemitismus ist eine Verpflichtung für jede Bundesregierung in unserem demokratischen Rechtsstaat.

Dabei scheint mir das beste und effektivste Mittel im Kampf gegen Antisemitismus etwas, das auch die beiden Ordinierten neben all ihren wissenschaftlichen Studien gelernt haben: Kommunikation, Aufklärung, Information und sachliche Argumentation. All das braucht einen langen Atem, ist aber alternativlos. Aus Sicht unseres demokratischen Staates ist die Stärkung der Zivilgesellschaft und Demokratie das beste Mittel im Kampf gegen den Antisemitismus. Dazu können und müssen wir alle gemeinsam unseren Beitrag leisten. Wir müssen unsere Stimme immer dort erheben, wo Minderheiten attackiert und Menschenrechte missachtet werden.

In der gemeinsamen Bewältigung der bestehenden Probleme müssen wir immer wieder neue Formen der Kooperation erproben. Dabei leitet uns die Überzeugung, auf einem Fundament gemeinsamer Werte zu agieren. Unsere Gesellschaft ist getragen von der Idee der Individualität und der unveräußerlichen Würde jedes Menschen, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. In der Universalität der Menschenrechte hat sich das verwirklicht.

In Zeiten der Globalisierung gewinnt dieses Prinzip zusätzlich an Aktualität: Die Idee von der Universalität der Menschenrechte. Diese muss sich mit dem Verständnis verbinden, das der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks als „The dignity of difference“ beschrieben hat – die Würde der Verschiedenartigkeit, der Reichtum des anderen. Wenn jeder Mensch seine eigene, unveräußerliche Würde hat, dann bedeutet das Respekt vor dem Andersartigen, also Toleranz. Das wiederum setzt Mäßigung voraus und führt zur Absage an Fundamentalismus jeder Art. Und wo wird all das eingeübt? Im Kleinen, vor Ort, in Städten und Gemeinden, und in diese müssen wir hineinwirken, wenn wir sicherstellen wollen, dass die Menschenwürde, die Würde des anderen, die dignity of difference unantastbar ist und bleibt.

Dr. Ezriel Hildesheimer erkannte dies schon vor über 150 Jahren. Er verteidigte das, was Jonathan Sacks „dignity of difference“ genannt hat, ganz handfest, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner eigenen Gemeinde. Unterschiede zwischen den Menschen, zwischen Christen, Juden und Atheisten, aber auch zwischen Juden untereinander, sah er als Chance und nicht als Bedrohung.

1851 wurde er Rabbiner in Eisenstadt und gründete mitten in der „k. und k.“- Monarchie eine jüdische Schule, an der jüdisches ebenso wie weltliches Wissen vermittelt wurde. Obwohl Hildesheimer selbst ein orthodoxer Rabbiner war, wurde er von den meisten orthodoxen Rabbinern wegen seiner unangepassten Art angefeindet. Haltung und Rückgrat hat zuweilen seinen Preis, ist aber alternativlos. Im persönlichen Auftreten wird Hildesheimer als bescheiden beschrieben, aber gleichzeitig bestimmt und furchtlos.

Als man einige Jahre später in der Berliner Gemeinde auf der Suche nach einer orthodoxen Führungsfigur war, fiel darum die Wahl nicht zufällig auf den so gebildeten wie mutigen Hildesheimer, der dort 1873 das orthodoxe Rabbinerseminar ins Leben rief, welches die Vorläuferinstitution jenes Seminars ist, dem die beiden Ordinierten entstammen.

Das „Hildesheimer“ sollte schließlich die wichtigste Ausbildungsstätte für Rabbiner aus ganz Europa werden. 1870 rief Ezriel Hildesheimer in Berlin zudem die Jüdische Presse ins Leben. Kommunikation und Bildung, das waren bereits für ihn die Schlüssel. Ich wünsche uns allen, dass uns dieser fortschrittliche Geist in unserer Arbeit inspiriert, dass wir in unserem Alltag mit Aufklärung, Wissen und ethischer Führungsfähigkeit gemeinsam an einer guten Gesellschaft bauen können, für die die Würde der Menschen der Maßstab ist und die all denen, die sie missachten, aufs Entschiedendste entgegentritt.

Der Bildungsfähigkeit religiöser Organisationen kommt dabei eine ganz entscheidende Rolle zu. Ihr Potenzial ist beträchtlich, und ein Staat, der seine eigenen Grenzen kennt, wird die wichtige Arbeit dankbar akzeptieren, die von Religionen für die Schaffung von Gemeinschaft und Zusammenhalt geleistet wird. Der Schlüssel zur Gestaltung religiöser Vielfalt in einer pluralistischen Gesellschaft besteht in der Bestärkung von denjenigen, die den Wert lehren, der im jüdischen, christlichen und islamischen Glauben tief verankert ist: den Wert der Gemeinschaft auf Grundlage der Würde des Einzelnen. Und wer schafft Werte? Eltern, aber eben auch Lehrer, Rabbiner, deren Ordination wir heute feiern.

Und darum wünsche ich den Ordinierten für die Arbeit in ihren Gemeinden von Herzen alles Gute und dass sie reichlich gesegnet sein möge.