„Die Welt verändert sich“



Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung

Herr Schäuble, nach der SPD erlebt auch die CDU einen Erosionsprozess. Das Wahlergebnis zur Bundestagswahl war mager. Konservative fühlen sich von Ihrer Partei nicht mehr richtig vertreten. Fraktionsvorsitzende aus den Ländern üben deshalb offene Kritik. Teilen Sie diese Befürchtungen?

Wolfgang Schäuble: Ich sehe keine geschlossene Kritik der Fraktionen. Ich kenne nur einen Zeitungsartikel, verfasst von drei Fraktionsvorsitzenden und einer Vizevorsitzenden aus Brandenburg.

Ist es klug, die Kritik als Meinungsäußerung aus der zweiten Reihe herabzusetzen? Schließlich wird sie auch in der ersten Reihe geteilt.

Schäuble: Nein, dort höre ich sie nicht. Es würde mich sehr überraschen, wenn Vorstand und Präsidium der CDU bei ihrer gegenwärtigen Klausurtagung sich dieser Position anschlössen. Denn die Kritik ist falsch. Die Kritiker wollen nicht wahr haben, dass sich die Welt verändert hat, dass Frauen mittlerweile gleichberechtigt sind, dass junge Mütter, die heute ihren Beruf wahrnehmen, andere Voraussetzungen zur Kinderbetreuung brauchen als ihre Großmütter, oder dass die Umwelt eine größere Rolle spielt als früher.

Die Fraktionsvorsitzenden beklagen aber auch Merkels unbestimmten Regierungsstil. Warum erwecken Sie den Eindruck, die Kritiker wünschten sich nur einfach die Vergangenheit zurück?

Schäuble: An unserer Politik zu bemängeln, dass die konservativen Werte verloren gingen, ist Unsinn. Diese Haltung diskreditiert im übrigen auch die Werte. Man darf nicht so tun, als wäre alles, was nicht zurück ins 19. Jahrhundert führt, falsch. Die Welt verändert sich doch fort und fort in einer faszinierenden Weise. Und ich bin noch nicht alt genug, um mich nicht darüber zu freuen. Manchem würde ich gerne den Rat geben, sich „Das weiße Band“ anzusehen. Dieser wunderbare Film zeigt, worauf wir heute setzen müssen. Es hat gar keinen Sinn, sich gegen gesellschaftliche Entwicklungen zu stellen. Ich bin dafür, dass wir uns an einen alten Satz erinnern: Politik sollte mit der Betrachtung der Realität beginnen, auch der sozialen.

Zur Wirklichkeit gehört freilich auch, dass die schwarz-gelbe Regierung ihre Mehrheit vom September erstaunlich schnell verspielt hat. 58 Prozent der Befragten im Deutschlandtrend der ARD lehnten unlängst weitere teure Steuersenkungen ab, 56 Prozent der Anhänger von CDU/CSU. Riskiert die Union ihre finanzpolitische Glaubwürdigkeit?

Schäuble: Wir haben immer gesagt, dass die höchste Neuverschuldung in der Geschichte der Bundesrepublik, die wir in diesem Jahr hinnehmen müssen, ein unvermeidbares Ergebnis der Wirtschaftskrise ist. Aber wir werden sie im Einklang mit dem Grundgesetz ab 2011 wieder reduzieren. Gleichzeitig wird die Koalition daran arbeiten, dass wir unser Steuersystem vereinfachen und anpassen. Das ist kein Zielkonflikt.
Immer erst den nächsten Schritt bedenken

Einen Zielkonflikt sehen viele Bürger durchaus. Die notwendigen Einsparungen von zehn Milliarden Euro 2011 sind mit der angepeilten Steuerentlastung um bis zu 20 Milliarden nicht zu vereinbaren. Gefährden Sie mit dem Versuch von Steuersenkungen nicht einen Teil des Markenkerns der Union, der darin besteht, finanzpolitisch solide zu handeln?

Schäuble: Nein, überhaupt nicht. Im Koalitionsvertrag ist das Prinzip der Solidität festgeschrieben. Alles steht ausdrücklich unter dem Vorbehalt, dass es finanzierbar ist. Dazu gehen wir Schritt für Schritt. Erst kommt der Haushalt 2010, den ich nächste Woche in den Bundestag einbringen werde. Dann folgen der Haushalt 2011 und die mittelfristige Finanzplanung. Wenn man jetzt schon darüber spricht, was 2011 passieren könnte, wird alles nur zerredet.

Sie wissen heute, dass Sie morgen dramatisch sparen müssen, halten sich aber die Möglichkeit offen, Geschenke zu verteilen. Wie soll diese Politik Vertrauen schaffen?

Schäuble: Ich komme aus dem Schwarzwald. Wenn Sie immer an den übernächsten Schritt denken, stolpern Sie und kommen niemals nach oben. Im übrigen: Ein paar Dinge haben wir schon festgelegt. Die Mehrwertsteuer wird auf keinen Fall erhöht.

Ungeachtet Ihres Plädoyers findet die politische Debatte statt – zum Beispiel am Sonntag im Kreis der Parteivorsitzenden von Union und FDP. Könnte man die im Koalitionsvertrag anvisierte Steuersenkung eventuell auf mehrere Jahre verteilen, um ihr die finanzpolitische Sprengkraft zu nehmen?

Schäuble: Das Beste ist es, sich an politischen Debatten, die unglücklicherweise stattfinden, nicht zu beteiligen und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Das versuche ich zu tun.

Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, hat sie dafür kritisiert, dass Sie angesichts der Finanzkrise die Reichen ungeschoren davonkommen ließen. Sie sollten beispielsweise mehr gegen Steuerflucht ins Ausland unternehmen. Hat er Recht?

Schäuble: Es ist wahr: Wenn Menschen mit weit überdurchschnittlichen Einkommen und Vermögen in Liechtenstein eine Stiftung gründen, um ihre Millionen-Erbschaft vor dem Finanzamt zu verstecken, ist das schlimm. Freiheitliche Ordnungen leben von der freiwilligen Einhaltung von Werten. Gerade die Wirtschaftseliten sollten ein Beispiel dafür geben. Leider aber übersieht Herr Sommer bei seiner Kritik, dass im Gesetz zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung steht, dass Sanktionen nur im Falle von Ländern möglich sind, die bestimmten Kooperationsstandards der OECD nicht nachkommen. Es ist doch ein großer Erfolg der internationalen Bemühungen, dass diejenigen Staaten, die früher unkooperativ waren, jetzt besser mit uns zusammenarbeiten wollen. Aber wir werden streng überprüfen, ob die Staaten ihre Zusagen einhalten.

Die Finanzkrise belastet die Allgemeinheit mit Milliarden-Kosten. Großbritannien besteuert nun Bonuszahlungen an Banker, um Geld von den Verursachern einzutreiben. US-Präsident Obama will von den Banken 120 Milliarden Dollar zurückholen, und auch NRW-Ministerpräsident Rüttgers fordert eine Sondersteuer. Warum sträuben Sie sich?

Schäuble: Die Ankündigung der US-Regierung finde ich hoch spannend. Dass der Staat dort 120 Milliarden Dollar von den Banken zusätzlich einnimmt, möchte ich erstmal sehen. Ich bin sehr dafür, dass man keine Ankündigungen macht, die man später nicht richtig durchsetzen kann. Es hat keinen Sinn, Schnellschüsse zu produzieren. Wir haben auf Ebene der G20 einen internationalen Prozeß angestossen, bei dem der IWF derzeit prüft, wie der Finanzsektor an den Folgen der Krise beteiligt werden kann. Der IWF wird im Frühjahr seine Ideen vorstellen. Ich gehöre zu denen, die sagen, wir sollten solche Maßnahmen auch in Europa alleine ergreifen, falls etwa die USA nicht mitmachen. Ohne die wichtigsten europäischen Staaten geht es aber nicht.